Von Peter Hossli (Text) und Sandra Niemann (Illustration)
Nicht etwa der kahle Kopf oder das grimmige Gesicht, sondern die spitzigen Ohren fielen den Gehörlosen auf. Deshalb gestalteten sie für Daniel Koch eine Gebärde, bei der sie zwei gespreizte Finger über das rechte Ohr führen. So stellt Tanja Joseph den Delegierten des Bundesrats für Covid-19 jeweils vor, wenn sie eine Medienkonferenz mit ihm übersetzt. Joseph, 48, ist eine von acht Dolmetscherinnen, die während der Corona-Briefings des Bundes das Gesagte in Gebärdensprache übertragen. Auf SRF 1 wird für die ganze Schweiz live sichtbar, was sonst nur wenige auf SRF Info wahrnehmen.
Es ist harte Arbeit. Nach zehn Minuten löst eine Kollegin die Dolmetscherin ein erstes Mal ab. «Das Gehirn ist gefordert», so Joseph. «Ohne Pause sacken Konzentration und Qualität ab.» Sie sitzt in einem spärlich besetzten Café hinter dem Berner Bahnhof und zeigt die Gebärde für «Quarantäne»: ein gestreckter Finger, der von einer Hand umschlossen wird. Die Gebärde für «Coronavirus» hat sich in den letzten Wochen gewandelt. Als Covid-19 einzig als Lungenkrankheit galt, führten Gehörlose beide Hände vor die Brust, um Lungenflügel zu mimen. Sie sahen in den Medien Darstellungen des stacheligen Virus und passten die Gebärde an: Joseph ballt die linke Hand zur Faust und fächert die rechte auf (siehe Illustration). «Gehörlose schauen auf die Welt; was sie sehen, formt ihre Sprache.» Neue Gebärden fliessen ins Lexikon des Schweizerischen Gehörlosenbundes.
Joseph trägt eine grüne Bluse. Arbeitet sie, kleidet sie sich diskret dunkel, blau, schwarz, keine Muster. Das erhöht den Kontrast zu den Händen, sie selbst bleibt unauffällig. «Ich bin nicht wichtig, sondern ein Hilfsmittel, damit Menschen, die unterschiedliche Sprachen benutzen, sich austauschen können.» Während sie redet, gestikuliert sie und blickt dem Gegenüber ins Gesicht. «Schauen sich Gehörlose nicht in die Augen, bricht ein Gespräch sofort ab.»
Tanja Joseph wächst in Luzern auf. Schon als Kind gefällt es ihr, mit Menschen zu kommunizieren. Nach der Matura bildet sie sich zur Logopädin aus. Mit 25 arbeitet sie an einer Sprachheilschule in Freiburg, wo sie eine andere Kultur entdeckt: Menschen, die nichts hören und sich gleichwohl ständig austauschen. Sie schätzt ihren direkten Umgang. Man redet in dieser Kultur nicht um den heissen Brei herum. Gehörlose gebärden geradeaus. Sie lernt Gebärdensprache, erkennt fünf Schweizer Dialekte, entstanden an fünf Schulen. Vier Jahre dauert die Ausbildung zur Dolmetscherin. Es reicht nicht, Gebärden zu büffeln. «Ich musste mein Gehirn neu kalibrieren», sagt sie. Hörende erzeugen Laute, die chronologisch aneinandergereiht Sinn ergeben. Unterhalten sich aber Gehörlose, komponieren sie mannigfaltige Bilder aus Gebärden, dem Gesichtsausdruck, ihrer Körperhaltung und den Augen. Joseph schält Nuancen heraus, die sie mit Lauten nie erreicht. «Eine leicht veränderte Mimik kann etwas weitaus präziser beschreiben als ein starres Adjektiv.»
Übersetzt sie zwischen beiden Welten, malt Joseph Sprache in einen dreidimensionalen Raum. Dieser liegt vor ihr, beginnt beim Bauchnabel und endet oberhalb des Kopfes. Der Raum muss immer offen und sichtbar bleiben. «Vielleicht deshalb schütteln Gehörlose untereinander keine Hände», sagt sie. Zu viel Nähe verschliesse die Sicht. Wer einem die Hand reiche, könne sich nicht mehr ausdrücken. Berührungen seien trotzdem wichtig: Tippt man anderen auf die Schultern, macht man auf sich aufmerksam.
Aufmerksamkeit verschaffen Tanja Joseph derzeit die Aufritte an den Corona-Medienkonferenzen. Gut für ihr Geschäft ist die Pandemie nicht. Sie ist auf Kurzarbeit. Anlässe, an denen sie sonst übersetzt, finden nicht mehr statt, ebenso wenig Konzerte, die sie dolmetschen würde. Es ist ihre Leidenschaft, Rhythmen, Klänge und Gesänge in poetischer Gebärdensprache sichtbar zu machen.
In der Schweiz leben rund 10000 Gehörlose. Im Vergleich zu den USA ist ihre Kultur in europäischen Ländern weniger sichtbar – was auf den Mailänder Taubstummenkongress von 1880 zurückzuführen ist, als die Gebärdensprache in Europa verboten wurde. Fortan mussten Eltern ihren gehörlosen Kindern die Hände zusammenbinden. Wer nicht hörte, sollte Lippen lesen und die Lautsprache lernen. Jahrzehntelang waren Gebärden mit Scham behaftet. «Die Sichtbarkeit in der Corona-Krise könnte helfen, diese alten Stigmata weiter abzubauen», sagt Joseph.