Wider den Relotius

Gefälschte Reportagen, erfundene Protagonisten, erlogene Begegnungen. «Spiegel»-Journalist Claas Relotius hat (fast) alle hinters Licht geführt. Doch wie schützt sich eine Redaktion? Und was tun, um als Journalist nicht in Versuchung zu geraten? Zehn Vorschläge für Reporter und Chefredaktoren.

Von Peter Hossli

Die Nachricht kam kurz vor Weihnachten 2018, und sie hat die Medienbranche erschüttert. Der deutsche «Spiegel»-Reporter Claas Relotius (33) war gar kein Reporter, sondern ein dreister Fabulierer, gab das Nachrichtenmagazin aus Hamburg bekannt. Dutzende seiner Artikel hatte Relotius gefälscht. Der mehrfach preisgekrönte Journalist erfand Figuren, Szenen, Zitate, ja ganze Interviews, schrieb Porträts über Menschen, die nicht existieren.

Betroffen ist ausgerechnet der «Spiegel», dessen Leitmotiv «Sagen, was ist» für Qualität und Faktentreue steht. Mit reichlich krimineller Energie gelang es Relotius, die legendären «Spiegel»-Faktenprüfer zu hintergehen. Für die Medienbranche kommt der Skandal zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Ihr Ansehen und ihre Glaubwürdigkeit haben gelitten. Relotius befeuert jene, welche die Medien als «Lügenpresse» oder «Fake News»-Verbreiter beschimpfen. Wie können solche Fälschungen verhindert werden?

10 Tipps für Chefredaktoren

1. Haltung. Trichtern Sie es Ihren Reportern ein, sie seien keine Künstler, sondern Dienstleister. Nicht ihre Meinung bringen sie in die Arbeit ein, sondern die richtige Haltung. Diese verpflichtet sie zu einer grösstmöglichen Annäherung an die Wahrheit.

2. Fotografen. Sparen Sie nicht beim Budget für Fotografen. Vier Augen sehen mehr als zwei. Sind Fotografen und Reporter zusammen auf Recherche, bringen sie eine bessere Geschichte nach Hause – und sie sorgen dafür, dass keiner von beiden schummelt.

3. Notizen. Verlangen Sie Einsicht in die Notizen. Ein Reporter erstellt während der Recherche handschriftliche wie digitale Notizen. Nehmen Sie in Zweifelsfällen Stichproben vor. Fordern Sie Selfies mit den Protagonisten, die Ihre Reporter treffen.

4. Korrektorat. Geben Sie mehr Macht den Korrektorinnen und Korrektoren. Nur wenige Redaktionen können sich Faktenprüf-Abteilungen im Stil des «Spiegels» leisten. Umso wichtiger wird das Korrektorat. Sparen Sie dort, schaden Sie der Qualität.

5. Konsequenzen. Greifen Sie durch! Die Glaubwürdigkeit ist Ihr höchstes Gut. Journalistische Fälscher und Betrüger untergraben sie. Sie haben auf einer Redaktion nichts verloren.

6. Reporterglück. Schicken Sie Ihre Reporter in die Welt hinaus, wünschen Sie ihnen «Reporterglück», verbunden mit einem klaren Auftrag: «Komm mit einer anderen Geschichte zurück, als du es dir vorgenommen hast.»

7. Schreiben. Sagen Sie Ihren Reportern, sie sollen die Scheuklappen ablegen, nicht nur nach links oder nur nach rechts zu schauen, sondern frei von Ideologie alle Seiten zu betrachten.

8. Korrigendum. Führen Sie ein Korrigendum ein. Korrigieren Sie selbst kleine Fehler auf allen Kanälen öffentlich: in Zeitungen, am Radio, im TV, online. Das stärkt Vertrauen und verhindert künftig Fehler. Denn niemand will im Korrigendum erscheinen.

9. Nüchternheit. Setzen Sie in allen Produkten auf schnörkellose und klar geschriebene Texte. Das oberste Gebot ist Verständlichkeit.

10. Skepsis. Je besser eine Geschichte klingt, desto misstrauischer sollten Sie deren Echtheit prüfen. Stellen Sie immer die Plausibilitätsfrage, hegen Sie Zweifel, sind Sie misstrauisch. Umso besser, wenn Ihr Reporter alle Zweifel beseitigen kann.

10 Tipps für Reporter

1. Neugier. Lassen Sie sich vor allem von einem treiben: Neugier. Nichts ist für einen Journalisten wichtiger als der unersättliche Drang, etwas verstehen zu wollen. Wer das will, fälscht nicht.

2. Lokalreporter. Egal wo, verhalten Sie sich wie ein Lokaljournalist und nicht wie ein Auslandskorrespondent. Gehen Sie nah ran, reden Sie mit den Menschen – und gehen Sie immer davon aus, dass Ihre Texte von allen Personen gelesen werden, über die Sie schreiben.

3. Haltung. Redlichkeit ist Ihre moralische Richtschnur. Zerreissen Sie diese Schnur, sollten Sie den Beruf wechseln. Nicht Ihre eigene Gesinnung oder Ideologie prägen Ihre Arbeit, sondern die Fakten. Ein Journalist, der fälscht und erfindet, ist wie ein Arzt, der einem Kranken die Hilfe verweigert.

4. Name, Alter, Herkunft. Stellen Sie zu Beginn jedes Recherche-Interviews die gleichen drei Fragen: Wie heissen Sie? Wie alt sind Sie? Woher kommen Sie? Alle Menschen haben einen Namen, ein Alter, eine Herkunft.

5. Selfie. Lassen Sie sich mit Ihren Protagonisten fotografieren. So können Sie belegen, dass es die Menschen tatsächlich gibt, die Sie in Ihre Reportagen ein iessen lassen. Bringen Sie zudem eine überprüfbare Telefonnummer mit.

6. Teamarbeit. Arbeiten Sie in Teams! Vier Augen sehen mehr als zwei. Als Reporter sollten Sie wann immer möglich mit Fotografen losziehen.

7. Bildlegenden. Setzen Sie sich nach der Recherche mit dem Fotografen an den Computer, nehmen Sie mit ihm die Bildauswahl vor und schreiben Sie die Bildlegenden. Zu zweit vermeiden Sie Fehler.

8. Schreiben. Gutes journalistisches Schreiben ist mehr als nur das Formulieren schöner Sätze. Dazu gehören die Idee, die Recherche, das Schreiben, die Faktenprüfung, das Überarbeiten. Recherchieren Sie gründlich und erzählen Sie unvoreingenommen. Das eigentliche Schreiben macht nur einen Bruchteil der Arbeit eines Reporters aus.

9. Stil. Benutzen Sie guten Stil. Schreiben Sie direkt und klar, nie ausufernd, nie selbstverliebt oder zynisch. Nicht einmal in Liebesbriefen sind blumige Sätze willkommen. Finden Sie die richtige Mischung zwischen Erzählen und Informieren.

10. Handwerk. Journalismus ist keine Kunst, sondern ein Handwerk. Baut ein Maurer eine Wand, muss diese das Haus tragen. Kann sie das nicht, hat er schlecht gearbeitet, dann nützt dem Maurer eine schön bemalte Wand nichts. Für den Journalisten sind die Fakten die Bausteine, mit denen er eine tragende, da wahre Geschichte erstellt.