Von Peter Hossli
«Nach einer Krebs-Operation erlitt ich eine Schocklunge – ein akutes Versagen der Lunge. Die Lungenblasen verhärteten sich, ich erhielt nicht mehr genug Sauerstoff. Die Ärzte versetzten mich in ein künstliches Koma. Es dauerte drei Wochen. Meine Frau redete mit mir, las mir Zeitungen vor. Von all dem bekam ich nichts mit. Erinnerungen habe ich an die Aufwachphase – besonders an die Alpträume. Ich träumte während des Erwachens vom damaligen Krankenpfleger, einem kräftigen Engländer. Im Traum begegnete er mir als Monster. Er erstickte Patienten mit Kissen. Ich fürchtete, er würde mich ebenfalls ersticken. Es hing wohl damit zusammen, dass ich künstlich beatmet wurde, und dass ich vor der Operation von Pflegern gelesen hatte, die Leute erdrosselten.
Während der Aufwachphase hatte ich das Gefühl, keine Luft zu bekommen, fühlte mich gefangen, glaubte, nie mehr da rauszukommen. Als ich erstmals richtig wach war, geriet ich in Panik, rang nach Luft. Die Ärzte hatten das Atemgerät zu früh abgestellt. Sie versetzten mich wieder ins Koma. Als ich wirklich erwachte, war ich verwirrt, sagte dem Pfleger, ich müsse weg, ihr wollt mich töten. Albträume seien nach einem Koma normal, so die Ärzte.
Damals war ich 51 Jahre alt und topfit, trieb Sport, deshalb überlebte ich. In drei Wochen Koma nahm ich 13 Kilo ab, wog zuletzt 51 Kilo. Die Muskeln waren weg, ich konnte mich kaum bewegen, war kraftlos. Schmerzen hatte ich keine. Ich war depressiv. Wenn jemand eine Pistole neben das Bett gelegt hätte, wäre ich nicht sicher gewesen, ob ich sie nicht gebraucht hätte. Dabei fehlte mir die Kraft, abzudrücken.
Nach drei wachen Wochen im Spital machte ich die ersten Schritte. Die Albträume waren nun weg. Heute geht es mir gut. Da ich einen Tumor auf der Lunge hatte, verlor ich eine halbe Lunge. Marathon-Läufe schaffe ich nicht mehr. Sonst habe ich keine Einbussen an Lebensqualität.»
«Ich war nach meinem Skiunfall drei Wochen im künstlichen Koma. An die Aufwachphase erinnere ich mich nicht. Meine erste Erinnerung ist ein Blick auf die Spitaldecke. Da war ich schon zwei Wochen lang bei Bewusstsein. Als ich realisierte, im Spital zu sein, wusste ich nicht, was passiert war. Ich merkte, dass ich keine Kraft mehr hatte. Pro Tag im Koma verlor ich ein Kilo an Gewicht. Zuerst konnte ich nicht richtig essen, denn es gelang mir nicht, die Gabel zum Mund zu führen. Um aufrecht zu sitzen, mussten mich die Pfleger an den Stuhl binden. Dann begann ich, Erinnerung aufzubauen. Aufnehmen konnte ich nur, was ich selber fragte. Als ich eine Person sah, die ich von früher kannte, dauerte es zwei bis drei Minuten, bis ich sie einordnen konnte. Wer genau es war, wusste ich nicht. Wie ein kleines Kind lernte ich Wörter wieder Dingen zuzuordnen. Ich wusste, was eine Katze ist, aber ich konnte sie nicht benennen. In einem Buch sah ich zwei Bären, dann zeigten Pfleger mir eine Schildkröte, ich nannte sie Panzerbär. Am Anfang lernte ich schnell, dann langsamer. Nach einem Jahr hatte ich das Gefühl, alles sei normal. Jetzt weiss ich, dass es halbwegs wieder normal ist. Vielleicht sage ich dann in einem Jahr, es sei alles wieder normal.
Nach dem Aufwachen hatte ich oft denselben Traum: Ich bin ein Elefant mit angenähter Lunge, der unter Wasser atmen kann. Anfänglich war dieser Traum für mich realer als die Realität.»
«An die ersten 17 Jahre meines Lebens erinnere ich mich nicht. Sie sind weg. Was ich Ihnen über meinen Unfall erzähle, kommt aus dem Polizeirapport. Ich fuhr einen Traktor zur Käserei, stoppte vor dem Bahnübergang, schaute rechts, links, trat aufs Gas, fuhr los. Aus dem Nichts kam ein Zug mit 99 Stundenkilometern um die Ecke. Die Lokomotive donnerte in den Traktor, zerteilte das Gefährt. Ich erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma, sofort war ich bewusstlos, kam ins Inselspital. Dort lag ich vier Wochen im künstlichen Koma. Als ich erwachte, glaubte ich, im Kino zu sein, mitten in einem unbekannten Film. Ich konnte nicht laufen, nicht reden, die rechte Seite war gelähmt, ebenso die Zunge. Ich konnte nicht schreiben. Weder an den Unfall erinnerte ich mich noch an mein Leben zuvor. Ich wusste nicht mehr, mit wem ich zur Schule gegangen war, wer meine Freunde waren. Meine Mutter zeigte mir Fotos von früher, erzählte mir Geschichten. So habe ich mir ein Stück Erinnerung zurückgeholt. Vom Koma ist mir ein Traum geblieben: Ich rannte über eine Wiese, stieg auf einen 15 Meter hohen Baum, fiel runter, blieb unverletzt, rannte weiter und stieg auf den nächsten Baum, fiel wieder runter.
Nach zwei Jahren im Spital war ich nochmals zwei Jahre in der Reha.
Noch heute schreibe ich alles auf, damit ich nichts vergesse. Vor einem Jahr habe ich eine wunderbare Frau geheiratet. Ohne sie wäre ich verloren. Mit dem Schicksal hadere ich nicht. Nur die Zukunft zählt. Ich bin IV-Rentner, möchte aber wieder richtig arbeiten. Eine einzige Erinnerung von früher ist mir geblieben. Ich bin Schwinger, gewann einen Kranz an einem Schwingfest. An die Namen meiner Gegner erinnere ich mich aber nicht.»
Gina Schüpbach, 54, über ihren Sohn Ramon, 27
«Es war am 1. August 2002. Ramon prallte mit dem Mofa auf ein Auto. In wenigen Tagen hätte er eine Lehre als Strassenbauer beginnen sollen. Er erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, brach Arm und Kiefer. Zwölf Tage war er im künstlichen Koma, hatte Schläuche im Kopf, sein Hirn war aufgeschwollen. Ich redete mit ihm, als sei er wach. Auf dem Bildschirm sah ich, wie er reagierte – auf meine Stimme und meine Berührungen. Er reagierte auf jeden anders, am stärksten auf Menschen, mit denen er engen Kontakt hatte: auf mich, seinen Bruder, seinen Vater und die Grossmutter.
Nach dem künstlichen Koma lag Ramon noch drei Monate im Wachkoma. Er bewegte sich, öffnete die Augen, starrte ins Leere, trug Windeln. Stresste ihn etwas, hatte er eine nasse Stirn. An den Wochenenden nahm ich ihn nach Hause, lud seine Freunde ein. Er sagte erstmals ‹Mama›. Dann fragte ich, ob er einen Schokodrink oder eine Cola wolle. Ganz tief sagte er ‹Co-La› – und erwachte. Das war am 13. November. Er war rechtsseitig gelähmt, musste wieder lernen zu laufen, beherrschte sein Völlegefühl nicht mehr. Im März konnte er wieder gehen. Natürlich ging alles langsam.
Das Langzeitgedächtnis ist bei Ramon noch da, an den Unfall erinnert er sich nicht mehr. Es geht ihm recht gut, er hat viel erreicht. Arbeiten kann er nicht, er bräuchte ständige Betreuung. Manchmal hat er ein Tief. Er ist ein junger hübscher Mann – und kann keine Beziehung leben, die anderen können Autofahren, arbeiten, haben Freundinnen. Er muss akzeptieren, dass die Freunde von früher keine Nähe zu ihm mehr suchen. Sie sind weitergezogen.»
«Es war am 29. März 1999, auf der Forch-Autobahn Richtung Hinwil. Ich fiel am Steuer in einen Sekundenschlaf. Mein Auto überschlug sich sechsmal. Die Wucht des fünften Überschlags schleuderte mich durchs Autodach. Ich fiel auf die rechte Stirnseite. Alles schaltete sich aus.
Ein Rega-Helikopter flog mich zur Uni-Klinik nach Zürich. Im Flug hatte ich eine Nahtod-Erfahrung. Mein anderes Ich befand sich ausserhalb des Helis, schaute mir zu, wie ich dort lag. Aus der Nase floss Liquor: Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit. Diese Erinnerung kam ein halbes Jahr nach dem Unfall. Ich dachte, ich spinne. Dann klärte ich ab, wie der Arzt im Heli hiess – ich hatte sein Namensschild lesen können. Siehe da: Es war der Arzt, der im Heli gesessen hatte.
Dabei war ich die ganze Zeit bewusstlos, hatte ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und wurde ins künstliche Koma versetzt. In meinem Kopf steckten Sonden, damit der Liquor ablaufen konnte. Ich stand an der Schwelle zum Tod. Geblieben ist mir eine andere Erinnerung: Ich war in die Decke des Spitalzimmers eingemauert – und blickte auf meine Eltern und meine jüngere Schwester. Ich sah, wie meine Mutter Tränen vergoss. Später erzählte sie, sie hätte am Bett geweint.
Als ich erwachte, kam ich ein zweites Mal zur Welt. Ich konnte weder essen, trinken, reden, gehen auch nicht. Alle Erinnerungen waren weg, alles, was ich gelernt hatte. Ich fühlte mich wie ein vierjähriges Kind, dem man alles zeigen muss. Nach zwei Tagen wusste ich wieder, wer meine Mami war. Beim Papi dauerte es drei Tage, bei der Schwester viel länger. Der Chefarzt sagte mir, ich werde im Rollstuhl bleiben. Ich zeigte ihm den Stinkefinger. Mein Wille war stärker. Zudem war ich beim Unfall jung und sportlich. Nach zwölf Wochen begann ich wieder zu gehen. Mein Hirn trainierte ich mit Monopoly oder dem Leiterlispiel. Um nach der Reha zu trainieren, liess ich mich zum Anlageberater ausbilden. Oft fehlte mir die Energie, deshalb schluckte ich Aufputschmittel. Es rächte sie mit fürchterlichen Kopfschmerzen. Heute bin ich 100 Prozent IV-Rentner.»
Stunden und Tage der Hoffnung
«Michaels Narkosemittel werden seit kurzem reduziert, um ihn in einen Aufwachprozess zu überführen, der sehr lange dauern kann», sagte vergangene Woche Michael Schumachers Managerin Sabine Kehm. Noch beatmen und ernähren Maschinen den ehemaligen Formel-1-Fahrer.
Bei einem Koma-Patienten ist der Aufwachprozess sehr wichtig. Es lassen sich Rückschlüsse ziehen über den aktuellen Zustand des Patienten – und die langfristige Prognose. Über die Entwicklung des Aufwachens werde man keine Auskunft geben, sagt Kehm. Klar ist: Jeder Aufwachversuch ist anders. Er kann Tage oder sogar Wochen dauern. Für die Angehörigen ist es eine Zeit der Hoffnung.