Interview: Peter Hossli und Claudia Gnehm
Nicht nur Bosse und Banker reisen nach Davos. Am WEF treffen Wissenschaftler, Autorinnen und Künstler auf Politiker. Die besten Gespräche ergeben sich oft spontan. Ein älterer Herr mit bunter Fliege sitzt im Kongresszentrum, liest in einem Café eine Zeitung. «Nehmen Sie Platz», sagt Eric Kandel (83), einer der renommiertesten Neuroforscher der Welt. 2000 erhielt der Amerikaner den Nobelpreis für Medizin für seine Entdeckung bei der Signalübertragung im Nervensystem.
Herr Professor Kandel, Sie sind am Weltwirtschaftsforum …
Eric Kandel: … fragen Sie mich ja nicht, wie die Wirtschaftskrise zu lösen ist. Davon habe ich keine Ahnung. Mein Spezialgebiet sind Hirn und Erinnerung.
Trotzdem sind Sie hier. Warum?
Davos bringt sämtliche Sparten zusammen. Nur wenn alle miteinander reden, können wir die Komplexität der Welt verstehen.
Was fasziniert Sie denn am menschlichen Gehirn?
Machen Sie Witze? Es gibt doch nichts Faszinierenderes! Sehe ich eine charmante Frau, erfasst mein Hirn zuerst ihr Gesicht, dann ihr Lächeln, es löst etwas bei mir aus. Letztlich geht alles, was wir tun, vom Gehirn aus.
Warum wurden Sie ausgerechnet Hirnforscher?
Die Nazis vertrieben mich aus Österreich, weil ich jüdisch bin. Danach wollte ich verstehen, wie Menschen an einem Tag Mozart, Haydn und Beethoven hören – und am nächsten Juden verprügeln können. Dann habe ich Geschichte studiert. Mir wurde aber klar: Um den Menschen wirklich zu verstehen, muss ich ihn studieren. Da habe ich mich ins Hirn verliebt.
Sie reden in Davos über Erinnerungen. Warum verlieren wir sie?
Vor fünfzig Jahren hätten Sie mich das nicht gefragt. Warum?
Weil wir heute älter sind.
Warum interviewen Sie mich, wenn Sie alles wissen? Im Ernst, es gibt zwei Gründe: Alzheimer – und die Schwächung des Hirns durchs Altern. Können wir was tun? Kommen Sie nach Davos! Engagieren Sie sich intellektuell! Bleiben Sie fit! Essen Sie gesund!
Nestlé entwickelt Lebensmittel, die Alzheimer verzögern sollen.
Es gibt keine Lebensmittel, die das schaffen. Wir wissen zwar schon einiges, aber leider hilft noch nichts gegen Alzheimer.
Warum erinnern wir uns nicht an alle Dinge, die wir erleben?
Weil unser Hirn Wichtiges von Unwichtigem unterscheidet. Unwichtiges geht vergessen.
Was ist Ihre früheste Erinnerung?
Wien, Ferien auf dem Bauernhof – und wie Hitler in Österreich einmarschierte.
Wie viel wissen wir über das Hirn?
Vielleicht fünf Prozent. Das ist ein riesiges Problem. Stellen Sie sich vor: Alles geht vom Hirn aus – und wir wissen so wenig darüber. Es wird noch 200 Jahre dauern, bis wir alles wissen.
Was möchten Sie über das Hirn noch wissen, das unbekannt ist?
Wie eine Erinnerung bis am Schluss des Lebens erhalten bleibt. Daran arbeite ich noch.
Was möchten Sie vom WEF in Erinnerung behalten?
Natürlich das Interview mit Ihnen! Und dass hier alle Leute intellektuell herausfordernde Gespräche suchen, alle freundlich sind – und es weit weniger kalt ist als in New York.