Das Märchen der Meere

Heute kann man mit gutem Gewissen Maine-Hummer essen: Ihre Zahl nimmt rasant zu. Wegen der tiefen Preise bleiben sogar schon Fischerboote im Hafen.

Von Peter Hossli

Die Frage, ob es sich für seine ­Fischer noch lohne, den Anker zu lichten, beantwortet Warren Polk mit einem knappen «no».

Polk führt eine Genossenschaft von Hummerfängern in Corea, ­direkt an der Küste des US-Bundesstaates Maine. 50 Fischer fangen die Meeresdelikatesse für ihn in Reusen. Per Lastwagen und Flugzeug gelangen die Krebse lebend zu Gourmetbeizen in aller Welt.

Dort ist Hummer günstiger denn je. Gerade mal 1,35 Dollar pro Pfund erhalten die Fischer in Corea – 70 Prozent unter dem Normalpreis. So wenig gab es letztmals vor 30 Jahren. Damit es rentiert, Reusen auszulegen, müsste das Pfund mindestens vier Dollar kosten. «Wer Hummer fängt, verdient heute nichts mehr», sagt Polk.

Beizer und Hoteliers in der Schweiz freut das jetzt besonders. Der Nationalfeiertag ist hierzulande nach Weihnachten der umsatzstärkste Hummertag. «Auf den 1. August verkaufen wir besonders viele Hummer», sagt Giulio Bianchi, Geschäftsführer beim gleichnamigen Frischfisch-Importeur in Zufikon AG. Rund eine Tonne täglich lässt Bianchi mit der Swiss von Boston einfliegen, lebend und in Kartonkisten tiergerecht verpackt.

Nach der Landung überprüft das Zürcher Veterinäramt die Tiere, bevor sie in Zufikon in den Salzwassertank gelangen.

Biologisch ist Hummer mit Kakerlaken und Spinnen verwandt. Der Allesfresser gilt als «Staubsauger» und «Aasgeier» der Ozeane. Hungrige Männchen fressen mitunter auch die eigenen Jungen.

Hummer aus Maine sei «herausragend», sagt Bianchi und freut sich: «Wir können ihn derzeit so günstig beziehen wie seit 15 Jahren nicht mehr.» Den Preisabschlag gibt er an Hotels und Feinschmecker-Restaurants weiter. Pro Kilo verrechnet er 18 bis 19 Franken. Vor fünf Jahren waren es 30.

Der Grund für den dramatischen Preissturz: ein Hummer-Boom vor der zerklüfteten Küste in Maine.

Weltweit schrumpfen die Fang-Erträge. Biologen warnen vor einem Raubbau an den Ozeanen. Riesige Fangnetze haben die Fischbestände global dezimiert. Ob Kaviar-Stör im Kaspischen Meer, ­Königskrabbe in Alaska, «Fish and Chips»-Kabeljau vor der US-Ostküste oder die Makrele in der Nordsee: Wo immer eine Fischart gezielt gejagt wird, ist sie vom Aussterben bedroht.

In Maine ist das anders. Hier gibt es bei Hummer seit Jahren steile Zuwachsraten. Während die amerikanischen Krustentiere etwa vor New York fast ausgestorben sind und die Kanadier ihre Fangperiode auf jährlich drei Monate beschränken, wird in Maine weitergefischt – dennoch wächst die Ernte der begehrten Köstlichkeit stetig an. Dabei prophezeien Wissenschaftler seit über 30 Jahren einen Hummer-Kollaps.

Versuche, Hummer in Farmen zu züchten wie Lachse, Crevetten oder Wolfsbarsche, schlugen bisher fehl. Das Gedeihen der Art ist vielmehr ein Verdienst der Fischer. Sie wissen: Verschwindet der Hummer aus den kalten Gewässern vor Maine, schwindet auch ihr Einkommen. Deshalb vermessen sie jedes Tier, das in die Reuse schwimmt. Ist es zu klein, werfen sie es zurück ins Meer, ebenso besonders grosse Männchen, die als sehr paarungsfreudig gelten. Fangen sie Weibchen mit Rogen in den Bäuchen, stanzen sie ihnen ein Loch in den Schwanz und entlassen sie in die Freiheit. Danach darf keiner mehr das Weibchen an­rühren.

Die Massnahmen zeigen Wirkung. Rund 119000 Tonnen Hummer brachten US-Fischer 2011 an Land. 1980 waren es erst 39000 Tonnen. Fisch-Importeur Bianchi: «Hummer ist ein gutes Beispiel dafür, dass nachhaltige Fischerei wirklich etwas bringt.»

Die Fischer in Maine indes leiden. «Um zu überleben, fangen sie weiter mehr, als wir verkaufen können», sagt Warren Polk aus Corea. «Dieses Überangebot drückt die Preise noch weiter nach unten.»