Interview: Peter Hossli Foto: Bob Mahoney
Herr alt Bundesrat, Pascal Zuberbühler greift im entscheidenden Moment daneben. Alex Frei vergibt die entscheidende Torchance. Die WM-Teilnahme ist fast weg. Warum versagen Schweizer Sportler dann, wenn es wirklich zählt?
Adolf Ogi: Als ich noch Direktor des Skiverbandes war, habe ich die Athleten darauf getrimmt, unter Druck – quasi auf Befehl – Leistung zu bringen. Mit Erfolg. Diese Fähigkeit haben wir leider verloren.
Oft reüssieren Schweizer, wenn sie aus dem Nichts kommen, etwa der Skispringer Simon Ammann. Sind jedoch Erwartungen da, versagen sie.
Ogi: Es gibt Ausnahmen zu dieser Regel, etwa der Tennisspieler Roger Federer. Er erbringt die Leistung eigentlich immer.
Warum schafft er das, andere aber nicht?
Ogi: Das Puzzle fügt sich bei ihm perfekt zusammen. Federer ist sehr talentiert. Die Vorbereitung stimmt, auch die professionelle Einstellung. Sogar die Körperpflege vom Scheitel bis zur Sohle ist bei ihm beispielhaft.
Ansonsten sind Schweizer in exotischen Sportarten wie Mountain Bike oder Snowboarding erfolgreich. Kann man demnach eine Randsportart mit «Schweizer gewinnen» definieren?
Ogi: Das ist nicht ganz falsch. Bei Traditionssportarten wie Schiessen, Turnen, Leichtathletik oder dem Skisport können wir nicht mehr an die Erfolge früherer Jahrzehnte anknüpfen. Wir sind heute vor allem in Disziplinen siegreich, die andere Länder erst nach uns entdecken.
Warum dieser Einbruch?
Ogi: Der Sport geniesst bei vielen Schweizer Jugendlichen einen zu geringen Stellenwert, um ihn zum Beruf zu machen. Im Argen liegt zudem die Nachwuchsförderung. Als Sportminister habe ich die Berufslehre für Sportler sowie die Sport-Rekrutenschule eingeführt. Davon wird heute kaum mehr Gebrauch gemacht. Wir sind gesättigt. Bei der Jugend stelle ich zudem eine gewisse Verweichlichung fest.
Haben Sie ein Rezept dagegen?
Ogi: Man müsste in der Schweiz jeden Tag eine sportliche Initiative starten, für den Sport regelrecht auf die Barrikaden steigen und Herzblut vergiessen.
Sie reden, als ob Sie sich für den Chefposten des Schweizer Sports bewerben wollen. Ein fiktionales Amt, das Ihnen der Ex-Chefredaktor der Zeitung «Sport», Walter Lutz, gerne anvertrauen würde.
Ogi: Chef war ich schon zweimal. Mit der Skinationalmannschaft feierte ich grosse Erfolge. Auch als Sportminister habe ich einiges bewegt. Jetzt läuft die Zeit für mich ab. Sicher, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, würde ich gerne Chef des Schweizer Sportes werden. Ich würde auf die grüne Wiese treten und den Sport neu aufbauen.
Sie sind erst 63 Jahre alt und stehen auf dem Höhepunkt ihrer internationalen Karriere.
Ogi: Ich habe Prinzipien. Erstens: Never come back. Zweitens habe ich Kofi Annan versprochen, bis Ende 2006 das Amt des Untergeneral-Sekretärs für Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden auszuüben. Ich halte mein Wort.
Sie bleiben im Gespräch, bei der EM 2008 ein führendes Amt auszuüben.
Ogi: Das kommt nicht in Frage. Ich möchte körperlich selbst noch etwas tun, damit ich nicht allzu rasch alt werde.
Bisher nahm man die EM 2008 vor allem wegen den negativen Schlagzeilen zum gescheiterten Stadionbau wahr.
Ogi: Es ist unglaublich. Es gibt keinen Optimismus, keine Begeisterung, keine Aufbruchstimmung. Der Nichtbau des Stadions in der Wirtschaftsmetropole Zürich hat uns im Ausland keinen Goodwill gebracht.
Warum scheitern solche Projekte?
Ogi: Das Kommando haben in der Schweiz die Bedenkenträger, die Trittbrettfahrer, die Wolkenschieber und die Buchhalter übernommen.
War es ein Fehler, die EM zusammen mit Österreich durchzuführen?
Ogi: Im Alleingang hätten wir das Turnier doch nie erhalten. Nun hoffe ich, dass die Österreicher uns mitreissen wie eine Lokomotive in eine emotionellere Welt. Dorthin, wo die Seele nach oben schweift.
Es ist das internationale Jahr des Sports. Sie eilen zu Konferenzen wie jetzt jene in Atlanta und reden über die Frieden stiftende Kraft des Sports. Neu ist die Idee nicht. Ein Pingpong-Turnier zwischen China und den USA bahnte im Jahr 1971 bessere diplomatische Beziehungen zwischen den beiden Ländern.
Ogi: Wir haben die Pingpong-Diplomatie um die Kricket-Diplomatie erweitert. Vor drei Jahren brach zwischen den Nuklearmächten Indien und Pakistan beinahe ein Krieg aus. Im Dezember 2004 spielte das indische Kricket-Team in Pakistan, im Januar 2005 gingen die Pakistani nach Indien. Das Verhältnis zwischen den beiden Staaten hat sich seither stark verbessert. Nicht Politiker haben das zustande gebracht. Es gelang dem Sport. Darauf bin ich sehr stolz.
Wo sehen Sie sonst noch konkrete Möglichkeiten für Sportdiplomatie?
Ogi: Etwa zwischen Nord- und Südkorea. Der Stachel im Fleisch der heutigen Welt liegt aber im Konflikt zwischen Israel und Palästina. Der Sport wäre ein griffiges Instrument, Möglichkeiten für den Frieden im Nahen Osten zu testen. Der Sport kann Dinge bewegen, die der Politik versperrt bleiben.
Seit Jahren sprechen Sie davon, ein Fussballspiel zwischen Israel und Palästina zu organisieren. Der Konflikt ist Jahrhunderte alt und religiös. Ihn mit Sport lösen zu wollen, scheint unmöglich.
Ogi: Zuallererst müssen wir das Unmöglich für möglich erklären. Wer aufgibt, hat bereits verloren. Es gibt ja erste Erfolge. So führte der Schweizer Handball-Verband ein Turnier durch, an dem eine israelisch-palästinensische Mannschaft mitspielte. War das 20. Jahrhundert das Zeitalter der Technologie, werden wir im neuen Jahrhundert den Menschen ins Zentrum rücken. Wir werden es schaffen, über die spirituellen und religiösen Schranken hinweg Lösungen zu finden.
Der Ogi ist selbst im Mittleren Osten der ewige Optimist?
Ogi: Ich bin nicht nur ein Optimist, ich bin auch ein Realist. Unlängst hat eine amerikanische Universität eine Studie veröffentlicht, die besagt, es gebe dank dem Einsatz der Uno weltweit weniger Kriege. Der Sport trägt dazu bei.
Wie denn?
Ogi: Auf dem Sportplatz respektieren sich die Gegner. Wenn ich gegen Sie boxe und Sie mich K.O. schlagen…
… woran ich zweifle.
Ogi: … helfen Sie mir nachher wieder auf die Füsse. Der Sport lernt einem, in eine Auseinandersetzung hineinzugehen und diese wieder zu verlassen.
Seit dem Ende des Kalten Krieges ist die Welt nicht mehr bipolar. Nicht Kriege zwischen zwei Ländern, der Terrorismus ist die echte Gefahr. Dagegen hilft kein Länderspiel.
Ogi: Richtig. Umso wichtiger ist es, dass Jugendliche weltweit Sport betreiben. Der Sport ist eine Lebensschule. Man kann sich testen und lernen, in Niederlagen nicht zu zerbrechen und bei Siegen nicht überschwänglich zu triumphieren. Man akzeptiert Gegner und Regeln, integriert sich, fasst Mut. Solche Erfahrungen im Alter zwischen 5 und 18 Jahren bilden reife Persönlichkeiten. Diese werden als Erwachsene Probleme im Interesse der Welt, der Menschen und des Guten lösen.
Eine reichlich naive Sichtweise.
Ogi: Die Intellektuellen können lachen, Naivität und Blauäugigkeit anbringen. Instrumente bieten sie selbst keine. Wir haben mit dem Sport ein Instrument. In zehn, bis zwanzig Jahren werden wir erste positive Resultate sehen. Der Prozess ist irreversibel.
Aber…
Ogi: Ich weiss, was jetzt kommt. Es sind immer dieselben Aber-Argumente, das Doping, die Gewalt, das Geld, übertriebener Patriotismus. Das Aber darf das Positive nicht immer neutralisieren oder wegputzen. Das Positive überwiegt bei weiten. Wir haben jetzt eine Doping-Konvention. Portugal hat an der EM gezeigt, wie man mit Hooligans umgehen muss. Es gibt längst keine Kriege mehr wegen Fussballspielen. Die DDR- und Sowjet-Zeiten, als der Sport ein Mittel zur nationalistischen Selbstdarstellung war, sind Geschichte.
An Konferenz treffen Sie wohlwollende Menschen in Anzügen und Krawatten. Wie befreien Sie Ihre Idee von der Politikblase?
Ogi: Es braucht die Phase der Aufklärung, danach die Phase der Umsetzung. Die Aufklärung ist bald beendet, mit Dutzenden von Konferenzen weltweit. Daraus resultierten Hunderte von Ideen, aus denen jetzt Tausende kleine Projekte entstanden sind. Die müssen wir nun hegen.
Zwar beteiligen sich mittlerweile Verbände wie die FIFA oder das IOC. Abseits steht nach wie vor die Industrie. Ohne Nike oder Adidas bleibt Ihnen der Erfolg vergönnt.
Ogi: Am nächsten Weltwirtschaftsforum in Davos nimmt der Sport eine prominente Rolle ein. Dort treffe ich mich mit den Ausrüstern. Die positiven Resultate des internationalen Jahres des Sports wird die Industrie überzeugen, nicht mehr abseits zu stehen.
Das WEF ist ebenfalls eine Insider-Veranstaltung, an der geredet, nicht gehandelt wird.
Ogi: Das WEF wird im nächsten Jahr für den Sport und die Welt wichtige Weichen stellen. Es stehen die Fussball-WM in Deutschland an, die olympischen Spiele in China, dann die Fussball-WM in Südafrika. Dank Peking 2008 lernen wir endlich China kennen. Ganz besonders wichtig ist die WM in Afrika. Der vergessene Kontinent rückt ins Rampenlicht. Die Begeisterung in Afrika ist bereits jetzt enorm gross. Sport wird Afrika an die Welt heran führen.
Trotz Antiamerikanismus bleiben die USA die Leitnation, auch im Sport. Bisher interessieren sich die USA nicht sonderlich für das Jahr des Sports. Hat Ihre Initiative ohne Amerika überhaupt eine Chance?
Ogi: Amerika ist fokussiert auf wenige attraktive Sportarten, in denen sie gut sind. Es gibt keine nationale Jugend- und Sportprogramme. Da es keinen US-Sportminister gibt, habe ich keine Ansprechperson. Ich bin enttäuscht, wie wenig wir in den USA erreicht haben. Das muss ich offen sagen. Allerdings gebe ich nicht auf.
Sie haben hier in Atlanta Ex-Präsident Jimmy Carter getroffen. Warum ist er wichtig für Ihre Sache?
Ogi: Weil Carter sich für Fragen der direkten Demokratie, der Menschenrechte, der Friedensförderung und der ethischen Werte in der Politik einsetzt. Er gab mir die Möglichkeit, ihm mein Uno-Mandat vorzustellen. Er war sehr interessiert.
Wie haben Sie ihn erlebt?
Ogi: Aufmerksam, freundlich, herzlich und trotz seines Alters sehr vital und gut informiert.
In wiefern kann Carter Ihnen helfen, Ihre Sache in den USA zum Erfolg zu verhelfen?
Ogi: Auf seine Stimme hört die Welt noch immer. Deshalb ist es wichtig, dass er meine UNO-Tätigkeit kennt und vertritt. Sein Wissen und sein Netzwerk sind für unsere Sache weltweit äusserst wertvoll. In Washington sieht er gegenwärtig aus politischen Gründen allerdings nur begrenzte Möglichkeiten.
Es gibt viele Beobachter ausserhalb der Politik, die Sie für den derzeit wichtigsten Botschafter der Schweiz im Ausland halten. Was denken echte Botschafter darüber?
Ogi: Da ich nicht Botschafter bin, kann ich diese Frage nicht beantworten. Ich bin Untergeneral-Sekretär der Uno.
Was denkt der Kandersteger dazu?
Ogi: Als Kandersteger denkt man immer sehr bescheiden.
Warum ist es Ihnen im Gegensatz zu anderen alt Bundesräten gelungen, eine internationale Karriere aufzubauen?
Ogi: Ich habe den Rücktritt aus dem Bundesrat im richtigen Moment vollzogen. Macht ist wie eine Droge. Viele können davon nicht ablassen. Ich habe es meiner Frau zu verdanken, dass ich nach 13 Jahren ging. Dann kam Kofi Annan.
Sie haben gesagt, ihre Frau habe sie zum Rücktritt aus dem Bundesrat bewogen, damit Sie endlich Zeit hätten. Nun reisen Sie mehr denn je.
Ogi: Wenn ich zu Hause bin, bin ich jetzt intensiver da. Während meiner Zeit als Bundesrat hat sie mich nur in der Dunkelheit gesehen, frühmorgens und spätabends.
Kaum hatten Sie das Uno-Amt übernommen, schlug Ihnen in der Schweiz Missgunst entgegen. Warum?
Ogi: Wir sind erst seit drei Jahren Mitglied der Uno. Wir haben lange nicht verstanden, dass die Uno viele gute Leute braucht. Das hat sich geändert. Ich bin hoffentlich ein Türoffner für andere Schweizer geworden.
Warum müssen Sie bei jeder Gelegenheit betonen, bei der Uno nur einen Dollar zu verdienen?
Ogi: In der Schweiz wird alles über den Geldbeutel beurteilt. Die anfängliche Kritik hat mich sehr getroffen. Meine Frau hatte gesagt, «du hörst auf, das haben wir nicht nötig». Kofi Annan rief mich an und wünschte sich, dass ich weiter mache. Sein Wunsch ist mein innerer Ruf.
Sie hätten die Möglichkeit gehabt wie andere Kollegen Verwaltungsratsmandate zu sammeln und richtig Geld zu verdienen. Was bedeutet Ihnen Geld?
Ogi: Es ist gut, wenn man Geld hat, um ordentlich durchs Leben zu gehen. Ich weiss aber, woher ich komme. Einfach hatte ich es nie im Leben. Mein Vater musste 70 Mal auf die Blümlisalp steigen als Bergführer, damit er mir ein Jahr an der Handelschule von La Neuveville zahlen konnte.
Wenn es nicht Geld und Macht ist, was treibt Sie sonst an?
Ogi: Der Glaube, dass wir eine bessere Welt aufbauen können, mit Hilfe des Sports.
Sie haben gesagt, sie würden jeden Tag einen Kopfstand machen und dabei beten.
Ogi: Ich gehe nie aus dem Haus ohne Kopfstand und ohne Gebet.
Wie wichtig ist die Religion für Sie?
Ogi: Ich schreie sie nicht hinaus, aber ich stehe dazu, ein gläubiger Protestant zu sein. Der liebe Gott hat es mit mir sehr gut gemeint. Dafür bin ich ihm jeden Tag sehr dankbar.
Sie reden zwar oft mit den Medien, tun sich aber schwer, sich wirklich zu öffnen. Warum?
Ogi: Es ist ein Schutzmechanismus, den ich mir in den Anfangszeiten im Bundesrat zugelegt habe. Wer für den Bundesrat kandidiert, wird regelrecht ausgezogen und oft falsch zusammengesetzt. Man muss Grenzen festlegen. Damit fahre ich jetzt gut.
Sie haben gesagt, Kofi Annan sei Ihr Freund…
Ogi: … das habe ich nie gesagt, das hat man mir in den Mund gelegt. Er hat mal gesagt, ich sei sein Freund. Das ehrt mich. Aber ich bin nicht einer, der sich anbiedert. Ich sehe ihn oft. Wir telefonieren viel. Ich suche diese Freundschaft aber nicht, um gegen aussen speziell wahrgenommen zu werden. Ich rufe ihn nur an, wenn es nötig ist, und wenn ich sehe, er leidet.
Jetzt leidet er wegen dem brodelnden Öl-für-Nahrungsmittel-Skandal. Wie geht es ihm?
Ogi: Besser, nicht zuletzt wegen dem Schlussbericht.
Faktisch brachte der Öl-Skandal wenig zu Tage. Warum wird Annan trotzdem angegriffen?
Ogi: Er war gegen den Irakkrieg, das hat das Verhältnis Uno-USA beeinträchtigt. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.
Adolf Ogi, 1942 im Berner Oberland geboren, amtet seit 2001 als Sonderberater für “Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden” im Auftrag der Uno. Zuvor war er 13 Jahre lang Bundesrat. Zuvor war er Generaldirektor bei Intersport und Direktor des Skiverbandes. Ogi ist der Initiant des diesjährigen internationalen Jahres für Sport und Bewegung.