Von Peter Hossli (Text) und Charly Kurz (Foto)
Im Eiltempo schlürft John Slade die Tomatensuppe. Rasch gabelt er die Penne. Den Kaffee trinkt er hastig. Nach nicht mal einer Stunde steht John Slade auf und zupft den Nadelstreifenanzug zu Recht. «So long, young people», verabschiedet sich Slade, Englisch mit schwerem hessischem Akzent. Er müsse an den Bildschirm, um den Markt zu beobachten. «Früher konnte man länger essen. Heute fällt oder steigt die Börse innert Kürze um 100 Punkte.» Heute sei die Welt verknüpft. «Früher war nur die Wall Street wichtig», sagts und eilt davon.
Was früher war, weiss kaum jemand besser als Slade. Im Mai wird der Banker 96 Jahre alt. Seit 68 Jahren, dem 26. März 1936, steht er im Sold der Investmentbank Bear Stearns. Miterlebt hat er unzählige Haussen und Baissen. Er erinnere sich nur noch an die Rallyes. «Ich bin ein Optimist.»
50 Angestellte hatte die Firma, als der deutsche Immigrant als Laufbursche für 15 Dollar die Woche begann. Stetig arbeitete er sich hoch. Er entdeckte einen talentierten Banker namens Alan Greenberg aus Oklahoma und machte ihn zum Assistenten. «My boy Greenberg», so Slade, «lernte alle Tricks von mir.» Greenberg war jahrelang Chairman und CEO.
Slade kreuzte den Karrierenpfade auch mit US-Notenbank-Chef Alan Greenspan, einst Ökonom bei Bear Stearns. «Greenspan ist zwar jung, aber so gut wie sein Ruf», lobt er den 75-jährigen Maestro der US-Wirtschaft.
Mit achtzig gab Slade alle Kunden ab. «Niemand will einen so alten Broker», witzelt er. Ellbogen an Ellbogen sitzt er nun täglich mit 350 Brokern im Bear-Stearns-Trading-Floor, starrt auf zwei flache Bildschirme und macht Notizen. Ende Woche publiziert er jeweils den angesehenen Börsenbrief «John Speaking». Darin empfiehlt er meist Technologie-Werte, besonders IBM. «Der Technologie gehört die Zukunft», sagt er.
Sichtlich geniesst er die Rolle des Doyens. Oft lädt er junge Leute zum Essen ein und fragt sie aus. Das halte ihn jung. So will er wissen, woher der Reporter stammt, warum er in den USA lebt. Dann redet Slade wieder von sich selbst, der einzigen Person, der er vertraue.
Alle hätten ihm davon abgeraten, an die Wall Street zu gehen. Die Zukunft liege woanders. Er ging trotzdem. «Wenn Du Recht hast, streich das Lob ein», lautet seither seine Devise. «Wenn Du falsch liegst, akzeptiere die Kritik.» Analysten verachtet er. «Mir ist nie ein reicher Analyst begegnet», sagt er. «Wenn die den Markt tatsächlich so gut lesen können, müssten sie reich sein.»
Er ist reich. Slade besitzt 200000 IBM- und 350000 Bear-Stearns-Aktien, was einem Papierwert von rund 50 Millionen Dollar entspricht. Zudem halte er Bargeld, «für die schwierigen Zeiten, die vielleicht noch kommen», sagt der körperlich wie geistig fitte Slade, der täglich 20 Minuten auf dem Hometrainer strampelt und zu Fuss zur Arbeit geht. In seiner Wohnung an der Park Avenue hängen 25 Meisterwerke von renommierten Künstlern wie Pablo Picasso oder Marc Chagall. Deren Wert sei nicht nur enorm gestiegen, sie bereiten ihm «grosse Freude».
Erfolg basiere nur zu 10 Prozent auf harter Arbeit und 10 Prozent auf Verstand. 80 Prozent sei Glück. «Für mich war Hitler ein Glücksfall», unterstreich er die These etwas gar geschmacklos. «Ich wäre nie in die USA gekommen.»
Es zahle sich aus, hart zu arbeiten, ehrlich und loyal zu sein, lautet eine andere Lebensweisheit. Genüsslich zählt er die Namen der sechs Firmen auf, die ihm besser bezahlte Jobs angeboten hätten, die er aber dankend ablehnte. «Sämtliche Firmen gibt es nicht mehr, für Bear Stearns arbeiten heute nicht mehr 50 sondern 10500 Personen.»
Er investiere auch loyal. «Der durchschnittliche Anleger kauft bei 20 Dollar und verkauft bei 24. 40 sieht er nie. Ich kaufe bei 24 und halte bis 40, auch wenn es länger dauert.» Rasch handeln müsse man bei fallenden Kursen. «Der durchschnittliche Anleger kauft bei 20 Dollar, bei 17 kauft er nach und steckt dann bei 14 alles in den Sand, ich verkaufe bei 17 Dollar und fange wieder bei Null an.»
Die Börse hält er trotz jüngster Buchhaltungsskandale für gesund. «Schuld sind stets junge Leute, die zu schnell reich werden wollen», sagt Slade. «Gier ist nie der Weg zum Erfolg.»
Obwohl zahlreiche Meinungsmacher an der Wall Street – insbesondere George Soros und Warren Buffet – sich derzeit vom schwachen Dollar abwenden, setzt er stoisch auf Amerika. «Der tiefe Dollar ist gut für unsere Wirtschaft. Wir exportieren mehr und kaufen weniger», sagt Slade, der Schulden für «sehr gefährlich» hält. «Es gibt kein besseres Land als Amerika», preist er die Wahlheimat. «Es gibt den amerikanischen Traum, nicht den europäischen.» Warum? «Weil dieses Land von Ausländern aufgebaut worden ist, Ausländer schätzt. In Europa verabscheut man Ausländer. Das ist der grösste Fehler der Europäer.»
Darin widerhallt eine bewegte Lebensgeschichte. Slade kam 1908 in Frankfurt als Sohn eines Immobilienmaklers zur Welt. Er hiess Hans Schlesinger, absolvierte eine Bankierlehre und galt als bester Landhockey-Goalie Deutschlands. Der Nationaltrainer verweigerte dem Juden jedoch die Teilnahme an der Olympiade von Berlin. Danach wanderte Schlesinger in die USA aus.1942 meldete er sich freiwillig zum Dienst bei der US-Army. Er gehörte jener Einheit an, die seine Heimatstadt Frankfurt einnahm. «Alle Deutschen» hätte er damals gehasst.
Nach dem Krieg baute der Sprachbewandte die internationale Abteilung von Bear Stearns auf, verkaufte hauptsächlich US-Aktien nach Europa. Rasch realisiert er, dass mit europäischen Wertpapieren ebenfalls satte Gewinne zu erzielen sind. Er investierte in der Schweiz und Frankreich, später in Deutschland. Sein erstes Auslandgeschäft tätigte er mit der Zürcher Bank Vontobel. «Der Franken war nach dem Krieg die einzige sichere Währung Europas.»
Er holte viele Praktikanten aus Deutschland in die USA. «Ich konnte sie für die Schuld ihrer Väter nicht bestrafen.»
Genugtuung widerfuhr ihm, als Slade 1948 im Tor der US-Olympia-Auswahl in London das deutsche Landhockey-Team bezwang.
Jeweils um 14 Uhr geht er nach Hause, das habe er seiner Frau versprochen. Feierabend ist noch nicht. Bis die Börse schliesst, beobachte er sie am Fernsehen und am Computer. Zur Ruhe setzen will er sich nie. «Die Pensionierung ist das Schlimmste, was einem passieren kann.» Er wird wohl auf dem Trading-Floor sterben.