Von Peter Hossli (Text) und Robert Huber (Foto)
Richard Meier, wo waren Sie am 11. September?
Richard Meier: Zu Hause, als das erste Flugzeug den ersten Turm traf. Unter Schock kam ich ins Büro. Sofort schickte ich jemanden an die Perry Street, wo wir in der Nähe von Ground Zero zwei neue Wohnblöcke bauen. Als wir zum Fenster hinaus schauten, strömten Tausende von Leute die 10. Avenue hinauf. Wir hatten keine Ahnung, was wir tun sollten.
Die Terrorattacken stehen für vieles. Inwiefern waren sie auch ein Angriff auf die Architektur?
Meier: Sie waren ein Angriff auf die amerikanische Architektur. Der Wolkenkratzer ist ja der wahrhaftig amerikanische Bautyp. Er nahm in Chicago seinen Anfang und wurde später in die ganze Welt exportiert. Sämtliche kreative Arbeit bei der Stahl- und Betonkonstruktion für Hochhäuser wurde in den USA geleistet.Hat die weltweit live übertragene Zerstörung des 400 Meter hohen World Trade Centers das Hochhaus insgesamt als Lebens- und Arbeitsraum zerstört?
Meier: Nein. Es beginnt jetzt eine Zeit, in der die relative Höhe eines neuen Gebäudes stets kritisch beurteilt wird. Mit relativ meine ich: Ein hohes Gebäude in New York ist nicht dasselbe wie ein hohes Gebäude in der Schweiz. Ein hohes Gebäude in der Schweiz kann zehn Stockwerke hoch sein und zu hoch wirken. Zehn Stockwerke in Manhattan sind niedrig.
Das Gebiet, wo einst das World Trade Center stand, ist nach wie vor umgeben von zahlreichen hohen Häusern.
Meier: Die existierenden Gebäude haben 55 bis 60 Stockwerke. Also müssen dort wieder hohe Gebäude hin.
Wie zuvor 110 Stockwerke?
Meier: Nein, das will niemand mehr.
Also doch, das Ende des echten Wolkenkratzers?
Meier: Wir befinden uns in einer Zeit, in der jedes geplante hohe Gebäude genau analysiert wird. Diese Periode dürfte zehn bis fünfzehn Jahre dauern. Es sei denn, es gibt weitere Terrorattacken. Dann dauerts länger. Dabei spielt es keine Rolle, wo ein Anschlag stattfindet, ob hier in New York oder in Kuala Lumpur. Wo Hochhäuser Symbole eines politischen Systems oder der wirtschaftlichen Situation sind, werden sie zum Ziel.
Blickt man durch Ihr Fenster, ist das Empire State Building zu sehen, mittlerweile wieder das höchste Haus in New York. Viele Firmen ziehen dort derzeit aus und erneuern die Mietverträge nicht.
Meier: Nicht, weil sie das hohe Gebäude nicht mögen. Sondern weil es dauernd falsche Bombendrohungen gibt.
Ist es denn möglich einen sicheren Wolkenkratzer zu bauen, in dem man komfortabel arbeiten oder wohnen kann?
Meier: Technisch? Ja. Allerdings muss der Begriff «sicher» neu definiert werden. Was vor 9/11 als sicher galt, scheint heute unsicher. Sicher ist ein relativer Begriff. Man kann in hohen Gebäuden so sicher leben wie in Häusern in Suburbia. Stellt man die Frage, ob irgendein Haus solch schlimme Attacken aushalten kann, muss man sagen: Sicher ist nichts.
Welche Auswirkungen hat 9/11 auf die Architektur generell?
Meier: Darüber denke ich seit sieben Monaten nonstop nach. Öffentliche Räume, wo sich viele Menschen aufs Mal treffen, scheinen plötzlich gefährlich. Das hat enorme Auswirkungen aufs Bauen. Die Leute wollen nicht mehr dort sein, wo es problematisch sein könnte. Als genereller Trend zeichnet sich daher ab: Amerika setzt beim Bauen auf strikte Sicherheit.
Für Europa ist das nicht neu.
Meier: Wir holen diesbezüglich mächtig auf. Das Verhältnis und die Trennung zwischen öffentlichem und privatem Raum war in Europa stets strikter. Baut man ein Bürogebäude in Europa, ist es automatisch, dass die Öffentlichkeit weit weniger Zugang hat als in den USA. Das wird sich hier nun ändern. Längst kennt Europa eine architektonische Hierarchie bei der Sicherheit. Personen in wichtigen Positionen fahren dort nicht nur in kugelsicheren Autos. Ihre Häuser haben zusätzlich sichere Eingänge. Ein europäischer CEO geht selten durch öffentliche Räume. Hier zu Lande gingen Präsidenten grosser Firma bis anhin stets durchs Hauptportal. Das ist nun vorbei.
Vor zwei Jahren haben sie gesagt, urbane Lebensräume seien im Trend, man zöge in die Stadt. Stimmt das noch?
Meier: Nach 9/11 haben viele Leute New York verlassen. Aus verständlichen Gründen. Ich bezweifle aber, dass diese Flucht lange anhält. Die Leute werden zurückkommen. Zeitweilig wird die Stadt ruhiger und abends weniger bevölkert sein.
Dann wurde am 11. September die Renaissance der amerikanischen Grossstadt als Lebensraum gestoppt?
Meier: Amerika ist nach wie vor weit weniger urbanisiert als Europa. Europa ist insgesamt eine städtische Gesellschaft. Dort gibts kaum mehr ländliches Leben. US-Städten werden dereinst wieder weiter wachsen. Derzeit befinden sie sich aber in einer reflexiven Phase.
In Downtown Manhattan ist das grösste städtische Erneuerungsprojekt der USA im Gang. Was soll passieren?
Meier: Wie derzeit wohl jeder amerikanische Architekt mache ich mir darüber viele Gedanken. Es gibt noch keine einfache definitive Antwort und vielleicht nicht einmal eine umsetzbare Lösung. Noch verhindern zu viele Emotionen die nötige Klarheit. Wie baut man, ohne jene Familien vor den Kopf zu stossen, die Ground Zero als Friedhof betrachten? Nach wie vor werden ja Leichen geborgen.
Wie baut man dort denn richtig?
Meier: Ground Zero muss nicht nur der schönste Ort New Yorks werden. Es muss darüber hinaus wirken. Es muss ein Katalysator werden für Wachstum und Wandel der ganzen Stadt im 21. Jahrhundert. Mit einem statisches Projekt ist das unmöglich. Es muss sich ständig verändern, vielleicht über die nächsten fünfzig oder hundert Jahren. Verkehrsplaner sind genauso wichtig wie kulturelle Institute. Mir schwebt ein Prozess des Wiederaufbaus vor, nicht eine Totalität. Anfänglich müssen ungenutzte Räume offen bleiben, die man später füllt. Sie dienen dazu, nachzudenken. Das alles braucht Zeit.
Welche Rolle kommt der Architektur in diesem Prozess zu?
Meier: Eine entscheidende. Ein einziger Architekt kann das nicht leisten. Jede Architekturschule Amerikas sollte ein Projekt entwerfen. Selbst wenn es bloss darum geht, über urbane Räume nachzudenken. Die Natur dieser Stadt sollte sich im Wiederaufbau spiegeln: Alles ist hier verschieden, aber verwandt und Teil eines grösseren Kontextes. Es gibt jetzt kein einziges Bild von New York mehr. Für einige Leute stand das World Trade Center dafür. Nun sind Räume wichtig, die gegen innen wie gegen aussen darstellen, dass dieses Einzelbild verschwunden ist.
Die Familien der Opfer verlangen zudem eine angemessene Gedenkstätte.
Meier: Es darf nicht eine einzige Gedenkstätte sein. Es muss viele Gedenkstätten geben. Traditionelle, aber auch Galerien, eine Gedenkstätte für die Individuen, eine Gedenkstätte für die Totalität des Ereignisses. Es wäre ein Desaster, wenn man jetzt einfach so ein Ding in die Mitte dieses riesigen Platzes stellen würde.
Ihre Vision tönt viel versprechend. Die New Yorker sind aber eigensinnig. Sind Sie optimistisch, dass sich die Stadt zusammenraufen und den langen gemeinsamen Prozess einleiten kann?
Meier: Schwierig abzuschätzen. Ich weiss es wirklich nicht. Sagen wir mal, ich bin hoffnungsvoll. Das ist fast optimistisch.
Seit vierzig Jahren sind Sie Architekt. Was wollen Sie da noch erreichen?
Meier: Mit Ausnahme von Skandinavien und Belgien habe ich in jedem europäischen Land gebaut, dort viel gelernt – und viel zur jeweiligen Architektur beigetragen. Meist habe ich Städte nachhaltig verändert. Gerne hätte ich jetzt denselben Effekt in amerikanischen Städten.
Sie haben weit mehr Erfolg in Europa als in Ihrer Heimat. Warum?
Meier: Schwer zu sagen. Vielleicht wegen dem ausgefeilteren Verhältnis, das Europa zur zeitgenössischen Architektur entwickelt hat. Seit ich 1979 in Frankfurt begann, hat sich Europa drastisch verändert. Damals wurde zeitgenössische Architektur verachtet. In den Siebzigern und frühen Achtzigern existierte moderne Architektur in Europa nicht. Der Wiederaufbau nach dem Krieg war architektonisch ein Desaster. Meine Arbeit in Deutschland hat der Architektur Europas geholfen, zur Moderne zurück zu finden.
Warum sind Sie der Moderne treu geblieben und haben die einstweilen trendige Postmoderne nie angerührt?
Meier: Es gab für mich keinen anderen Weg. Der Postmoderne konnte ich nie etwas Interessantes abgewinnen. Die Zeit hat mir inzwischen recht gegeben. Heute dominiert eindeutig wieder die Moderne.
Was fasziniert Sie daran?
Meier: Die Ideen aus den dreissiger Jahren kreisen um die Herstellung von Räumen durch öffnen und schliessen, mit Artikulation und Struktur. Was ist ein spezielles Konstrukt und was stellt es in einer gewissen Situation dar? Was macht ein Gebäude speziell? Nicht die Dekoration, sondern nur, was es ist und wie es in Beziehung zu anderen Dingen steht. Bei der Moderne geht es um die Herstellung von Räumen und den Gebrauch von Licht. Man entledigt sich unnötigen Dingen und sucht die Essenz. Genau das tue ich. Ich suche nach Essenz und Klarheit.
Damit haben Sie wieder Erfolg?
Meier: In der heutigen Architektur geht es genau darum. Die Moderne – oder was immer man es nennen will – ist wieder en vogue. Erneut wird versucht, die klarste Idee, den klarsten Ausdruck dieser Idee in jeder architektonischen Form umzusetzen. Heute streben junge Architekten genau das an. Die ganze Postmoderne hingegen ist unbrauchbar geworden.
In den USA gibts eine Rivalität zwischen Ihnen und Frank Gehry, ein Vertreter der Postmoderne.
Meier: (winkt ab.) Die Leute können daraus machen, was sie wollen. Ich kann das nicht kontrollieren. Ich mag Frank, er ist eine seriöse Person. Er macht interessante und weniger interessante Sachen.
Die hohe Architektur erlebt einen regelrechten Boom. Die Öffentlichkeit interessiert sich vermehrt fürs Bauen.
Meier: Das Interesse ist weit grösser in Europa als in den USA. Die Qualität der europäischen Architektur hat sich in letzter Zeit markant verbessert. Währenddessen nimmt das öffentliche Interesse in den USA eher wieder ab. Hier sind es stets die selben drei, vier Architekten. Man hört wenig über junge. In Europa hingegen tauchen stets neue Talente auf.
Während die hohe Architektur floriert, dümpelt die Gebrauchsarchitektur auf ständig tiefem Niveau. Warum?
Meier: Warum? Weil das niemand wirklich interessiert. Sie ist überall schlecht.
Obwohl sie nachhaltig wirkt?
Meier: Es gibt Leute die sagen, Architektur habe eine nachhaltigere Wirkung als Bildung. Ich glaube das nicht. Aber: die Wirkung von Architektur ist enorm. Es gilt das gleiche wie bei der Politik: Jedes Land hat die Architektur, die es verdient.
Die Schweizer Architektur hat in den letzten Jahren mächtig an Ansehen zugelegt. Was halten Sie davon?
Meier: Die Schweiz hat hervorragende Architekten. Peter Zumthors Arbeit hat eine grosse taktile Qualität. Er sorgt sich sehr darum, wie etwas gebaut wird, wie es in Bezug zur Umgebung steht. Herzog und de Meuron sind da industrieller. Nichtsdestotrotz ist ihre Arbeit durchdacht, verfolgt ein Ziel, ist seriös und kümmert sich darum, wie ein Ort wirkt.
Warum bringt die kleine Schweiz solch hochkarätige Architekten hervor?
Meier: Warum nicht? Die Schweizer sind sehr gebildete, offene Menschen. Obwohl man oft das Gefühl hat, lebt das Land ja doch nicht in einem Vakuum.
Sie haben in Asien, Europa und den USA gebaut. Inwiefern spricht Architektur eine universelle Sprache?
Meier: Sie ist universell, weil Menschen überall Architektur erleben. Und sie ist universell geworden, weil wir in einer wirklich globalen Gesellschaft leben. Was an einem Ort passiert, wird sofort überall wahrgenommen und rege debattiert. Es gibt zwar unterschiedliche Klimas, Kulturen und politische Systeme, aber sonst sind wir Menschen uns doch sehr ähnlich. Wir erleben Räume und Plätze ähnlich.
Dann kann dasselbe Meier-Gebäude überall stehen?
Meier: Natürlich nicht. Lokale Begebenheiten, das Licht, die geografische Struktur, die Kultur müssen in einen Bau einfliessen. McDonald’s ist das Paradebeispiel für die Unmöglichkeit einer gleichförmigen Architektur. Weltweit dasselbe Gebäude zu sehen, empfinde ich als Horror. Zumal McDonald’s schrecklich aussieht und ein schreckliches Bild abgibt.
Sind Architekten Künstler?
Meier: Ja, Architektur ist eine Kunst. Wir machen dreidimensionale Konstrukte, in denen wir existieren, die wir beleben und gebrauchen. Aber ein Architekt hat zudem eine soziale, eine juristische und moralische Verantwortung, die sich von derjenigen anderer Künstler unterscheidet. Diese Verantwortung ist die wichtigste Aufgabe jedes Architekts. Daneben muss die Architektur eine anregende Qualität haben. Nur dann wird sie zur Kunst. Sie beeinflusst Stimmungen, unsere Sinne und die Art, wie wir mit Leuten umgehen.
In Rom haben Sie fürs Jahr 2000 die Millenniumskirche errichtet. Was denkt denn der Papst über Architektur?
Meier: Er war noch bei guter Gesundheit und wusste genau Bescheid, als wir erstmals darüber sprachen. Architektur interessiert ihn sehr. Ihm gefiel mein offener, heller Vorschlag, sowie der Blick in den Himmel und ins Himmelreich.
Bedeutende Architekten werden oft berühmt wegen eines Baus. Gibts ein Gebäude, auf das Sie speziell stolz sind?
Meier: Ist ein Bau mal fertig, gehe ich rasch zum nächsten über. Aber das Getty Museum in Los Angeles wird sicher in der ersten Zeile meines Nachrufs stehen.
Ein kolossaler und umstrittener Bau, der Ihnen viel Kritik eingetragen hat. Allzu glücklich dürften Sie über die erste Zeile Ihres Nachrufs nicht sein.
Meier: Ich bin sehr glücklich darüber. Das Getty ist ein aussergewöhnliches Gebäude. Natürlich, nicht alles ist so geworden, wie ich es mir gewünscht habe. Das ist immer so. Für mich war es aber ein sehr wichtiges Projekt während 18 Jahren. Heute bin ich sehr stolz darauf.
Was treibt Sie so lange an?
Meier: Die Realisation eines Projektes. Sehen, wie es gebaut wird. Erleben, dass es nicht mehr bloss auf Papier vorliegt, oder als Modell, sondern dass man durch die fertigen Räume gehen kann. Die Qualität des Lichtes und des Raums sehen, erleben, wie die Leute auf die Architektur reagieren, das treibt mich an.
Zum Schluss. Ihr Büro hat nur weisse Wände und weisse Möbel. Warum bauen Sie fast ausnahmslos weiss?
Meier: Das sage ich Ihnen nicht.
Liebevoll bezeichnen junge amerikanische Architekten Richard Meier als «the white guy», den weissen Kerl. Fast sämtliche seiner weltweit errichteten Gebäude hält der 68-jährige Stararchitekt in strahlendem weiss. An weissen Tischen arbeiten die rund fünfzig Angestellten in seinem gänzlich weiss gestrichenen Büro an der Westseite Manhattans. Stets trägt er weisse Hemden. Seit Jahren schon wallt sein Haar in glänzendem Weiss.
An Weiss schätzt Richard Meier die Klarheit, ein Thema, das sich durch dessen ganzes Werk zieht. Nie rückte er davon.
Meier, in Newark in New Jersey geboren und aufgewachsen, schwärmt vom Licht – «das ist nirgends schöner als in Kalifornien» – und von hellen, grossen Räumen – «wenn Du in New York grosse Räume hast, ist es Dir egal, wo sie sind». Als Vorbilder bezeichnet er Ludwig Mies van der Rohe, den Finnen Alvar Aalto, den Tessiner Francesco Borromini sowie Le Corbusier, «den wichtigste Architekten des 20 Jahrhunderts», sagt Modernist Meier.
Obwohl er zu den weltweit einflussreichsten Architekten zählt, wird der Amerikaner in Europa mehr geschätzt als in den USA. In Frankfurt baute er das Museum für Kunsthandwerk, in Ulm das Stadthaus am Münsterplatz, in Barcelona das Museum für zeitgenössische Kunst, in Paris den Hauptsitz des Senders Canal+, in Basel ein Bürohaus für die Credit Suisse, im Vatikan die Millenniumskirche.
Kritik zog Meiers wichtigstes US-Projekte auf sich, das monumentale Getty Museum in Los Angeles. Eine Milliarde Dollar hat das im Ende 1997 eröffnete Gebäude gekostet. Es gilt als zu bombastisch, zu uneinheitlich. Zu Meiers Entlastung: Einsprachen zwangen ihn zu zahlreichen Änderungen. So durfte er nicht weiss, sondern musste gelblich bauen.