Peter Hossli: Christian Frei, Pietro Scalia, Marc Forster, Ihr seit in der Deutschschweiz aufgewachsen. In welcher Sprache sollen wir das Gespräch führen?
Marc Forster: Schwyzerdütsch, nöd?
Christian Frei: Hochdeutsch wäre für den Journalisten sicher am einfachsten.
Pietro Scalia: Uf Änglisch wärs mer am liebschte. Hochdütsch chan i nüm so guet. Italiänisch wär au nöd schlecht.
Frei: Einfach nicht Englisch, bitte. Da bin ich sprachlich ein bisschen limitiert.
Hossli: Mein Vorschlag: Redet in der Sprache, die Euch am besten liegt, okay?
Scalia: Bene.
(Forster und Frei antworten während des Gesprächs Deutsch, Scalia nur Englisch.)
Hossli: Euch verbindet der Erfolg in Hollywood und die Herkunft, die Schweiz. Marc Forsters Film «Monster’s Ball» ist für zwei Oscars nominiert. Pietro Scalia steigt als bester Cutter von «Black Hawk Down» ins Oscar-Rennen. «War Photographer», der Film von Christian Frei, ist in der Kategorie Dokumentarfilm nominiert. Was habt ihr unternommen, damit ihr am nächsten Sonntag auch gewinnt?
Forster: Gar nichts, ich persönlich bin ja nicht nominiert.
Scalia: Ich betreibe Wahlkampf und sage allen, sie sollen mir ihre Stimme geben. Dann gebe ich mir noch meine Stimme.
Frei: Um meine Kampagne zu beschreiben, muss ich den Diminutiv verwenden. Sie ist auch deshalb klein, weil beim Dokumentarfilm nur wenige Leute abstimmen. Immerhin, das Bundesamt für Kultur unterstützt die Kampagne mit 50000 Franken. Damit veranstalten wir Vorführungen in Los Angeles, schalten Inserate, machen Medienarbeit. Das Echo ist gross. Sechs Monate nach dem 11. September interessieren sich viele für Menschen, die ihr Leben riskiert, um über Kriege zu berichten. Darauf setzen wir.
Forster: Mein Studio, Lions Gate, ist kein Major. Die haben wenig Geld für Oscar-Kampagnen. Miramax gibt 20 bis 30 Millionen für «In the Bedroom» aus. Lions Gate hat nur fünf. Deshalb war ich erstaunt, zwei Nominationen zu erhalten.
Scalia: Es ist wahnsinnig, was abgeht. Ich lebe seit zwanzig Jahren in Los Angeles. Jedes Jahr fängt das Oscar-Rennen früher an und ist noch ein bisschen intensiver.
Forster: Kleine Studios haben deshalb wenig Chancen. Es wäre ein Wunder, wenn mein Film einen Oscar gewinnen würde. Zwar gewann Halle Berry jüngst den Schauspielpreis der Screen Actors Guild. Ihre Chancen sind also gestiegen.
Frei: Halle Berry hat einen politischen Vorteil. Sie wäre die erste schwarze Frau, die als beste Hauptdarstellerin gewinnen würde. Ihr Oscar liegt doch in der Luft.
Forster: Gleichzeitig soll man sie nicht wählen, weil sie Schwarz ist. Ich finde, ihre Performance war die beste des Jahres.
Hossli: Unter Ihren Regieanweisungen…
Forster: …natürlich bin ich befangen. Aber es stimmt. Judi Dench, Nicole Kidman, Sissy Spacek und Renée Zellweger waren alle gut. Halle war klar besser.
Hossli: Die besten Filme sollten Oscars bekommen. Was war gut im letzten Jahr?
Frei: «Moulin Rouge» fand ich toll. Eine wunderbare Referenz an Bollywood, das indische Pendant zu Hollywood. Die Mischung aus kompletter Künstlichkeit und hoher Emotionalität beeindruckt mich.
Scalia: Mir gefielen «Momento», «Moulin Rouge» und besonders Marcs Film. Mir gefallen kleine, von komplexen Figuren bestimmte Filme wie «Monster’s Ball» oder «In the Bedroom».
Forster: Ich hatte kaum Zeit ins Kino zu gehen, habe fast nur gearbeitet.
Hossli: Wie gewinnt man einen Oscar?
Scalia: Mit Glück. Es gewinnt eben nicht immer der beste Film. Oft stimmen die Mitglieder der Academy aufgrund persönlicher Präferenzen ab. Einer gewinnt, weil er noch nie gewonnen hat. Ein anderer verliert, weil er zu oft gewonnen hat. Heuer denken wohl viele, Regisseur Ron Howard müsse endlich den Oscar bekommen, weil er schon so lange dabei ist.
Forster: Wettbewerbe zwischen Künstlern mag ich eh nicht. Niemand ist besser als der andere. Es reicht völlig, nominiert zu sein. Ich glaube aber: Pietro gewinnt.
Frei und Scalia lachen.
Scalia: Knock on wood.
Forster: 1991 gewann er den Oscar für «JFK». Seither war Pietro ein paar Mal nominiert. Und er hätte bereits für «Gladiator» gewinnen sollen. Jetzt bekommt er ihn halt für «Black Hawk Down».
Hossli: Ist der Cutter nicht ohnehin eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Person im Prozess des Filmemachens?
Forster: Das ist nicht mal eine Frage. Schau Dir doch mal die Filme von Ridley Scott an. Seit der mit dem Pietro arbeitet, sind sie auf einer ganz anderen Stufe. Und seit Oliver Stone nicht mehr mit Pietro arbeitet, sind dessen Filme auch auf einer anderen Stufe – nämlich tiefer.
Frei: Ich wollte Pietro als Supervisor für den Schnitt von «War Photographer» anheuern. Es hatte Dich zwar interessiert, aber Du warst komplett ausgebucht.
Hossli: Scalia mag kleine Filme. Zeit, sie zu verwirklichen, nimmt er sich nicht. Interessiert Sie das Spektakel doch mehr?
Scalia: Ich kam über den Dokumentarfilm zum Schnitt. Gerade hat mich Oliver Stone angefragt, ob ich seinen Film über Fidel Castro schneiden möchte. Ich werds tun. «Black Hawk Down» ist einem Dokumentarfilmen ja ähnlich.
Frei: Fredi Murer hat mal gesagt, ein guter Spielfilm ist ein Dokumentarfilm über wahrhaftige Momente von Schauspielern. Die Suche nach wahrhaftigen Momente ist auch im grossen Kino möglich.
Scalia: Die Unterscheidung ist ohnehin absurd. Es geht im Kino stets ums gleiche, nämlich echte Momente zu finden.
Hossli: Zur Schweiz. Forster stammt aus Graubünden, Scalia aus dem Aargau…
Scalia: Ich bin im Aargau aufgewachsen.
Hossli: Christian in Solothurn. Eure nominierten Filme handeln im Süden der USA, in Somalia, auf den Kriegsschauplätzen der Welt. Ist die Schweiz zu eng?
Forster: Das ist eine Vereinfachung. Die Welt ist global. Ich bin in der Schweiz aufgewachsen, hatte aber immer das Bedürfnis, die Welt zu sehen und sie kennen zu lernen. Dieser Planet hat ein enormes Potenzial. Gleichzeitig neigen wir oft zur Selbstzerstörung. Mir sind Geschichten wichtig, mit denen ich auf das hindeute.
Hossli: Geht das in der Schweiz nicht?
Forster: Das Publikum dort ist halt limitiert. Ich will ein universelles Publikum ansprechen. Am besten geht das mit der universellen Sprache Hollywoods.
Frei: Meine beiden letzten Kinofilme handelten von universellen, nicht schweizerischen Themen. Gedreht habe ich sie in der Tradition der Schweiz, mit Hilfe der Schweizer Filmförderung. Das kann ich nicht genug betonen. Zwei Jahre lang habe ich mich an die Fersen des berühmtesten Kriegsfotografen der Welt geheftet. Hätte ich den Film in den USA gemacht, wären bestimmt Sensationsaspekte im Vordergrund gestanden. Man hätte mich nimmer so geduldig arbeiten lassen.
Hossli: Es gibt Schweizer Dokumentarfilme, die vielleicht genau so gut oder besser sind als Ihr Film. Nominiert wurden Sie wegen des internationalen Themas.
Frei: Absolut. Der letzte Film von Richard Dindo ist ein Meisterwerk, vor dem ich mich verneige. Sein Thema – Jugendliche in Winterthur – hat auf dem internationalen Markt aber keine Chance. Insgesamt hatte der Schweizer Dokumentarfilm international ein tolles Jahr. Gabriel Baurs «VenusBoyz» wurde bereits in sechs Ländern für eine Kinoauswertung verkauft. Von fünf Oscar nominierten Dokumentarfilmen wurden drei in der Schweiz bei Swiss Effects post-produziert. Das ist eine Firma mit Weltruf, bei der hochkarätige Regisseure wie Spike Lee oder Mira Nair ihre Filme fertig stellen. In der Schweizer Presse sollte man aufhören, über unseren ausbleibenden internationalen Erfolg zu jammern.
Forster: Das ganze Grenzdenken ist ohnehin absurd. Wir leben im 21. Jahrhundert. Die Welt entwickelt sich nur weiter, wenn wir Menschen tolerant sind.
Scalia: Als ich mit 18 die Schweiz verliess, fragte mein Lehrer vorwurfsvoll, was ich denn an einer Filmschule wolle. Ich hatte vor, im Ausland das Handwerk zu erlernen und dann in der Schweiz und Europa Filme zu machen. Nach meiner Rückkehr ging es mir zu lange, Geld zu finden. Mir wars in der Schweiz zu eng geworden.
Hossli: Ist die Enge der Grund für die fehlende Schweizer Spielfilm-Tradition?
Frei: Das stimmt ja gar nicht. Der Schweizer Spielfilm beginnt nicht mit dem jungen Schweizer Film. Ich verehre Filme wie «Hinter den sieben Gleisen». Damals interessierten sich die Leute, die Wahrhaftigkeit von Arbeit und Personen in spezifisches sozialen, emotionalen, familiären Situation zu zeigen. Heute zeigt der europäische Spielfilm unglaublich arrogante Klischees von leblosen Manager.
Scalia: Was ist denn eine gute Geschichte? Was macht eine Geschichte gut? Konflikt. Es ist wirklich eine einfache Sache.
Frei: Aber es ist wahr.
Scalia: In der Schweiz ist vieles vorprogrammiert. Man macht es so und nicht anders. Man hat Angst vor Selbstkritik. In der Schweiz gebe es durchaus gute Konflikte – doch niemand will sie anfassen.
Frei: Als Künstler musst Du gegen den Strom schwimmen, und wenn der Strom das pseudo-linksliberale Feuilleton ist, dann schwimme ich auch dagegen an.
Hossli: Die Schweizer Filmszene ist von Neid geprägt. Ist das in Hollywood anders?
Forster: Hier ists nicht der Neid sondern harter Wettbewerb. Fünfzig Regisseure wollten «Monster’s Ball» verfilmen. Hätten die Drehbuchautoren meine visuelle Präsentation nicht gemocht, wären sofort zehn andere Regisseure in Frage gekommen. Das ist mit jedem Projekt so. Man kriegt zwar exklusive Offerten, aber es sind oft Filme, die man nicht machen will.
Frei: Das Kino ist eine hartes Geschäft. Klar gibts Neid, zumal in unserer Branche alles sichtbar ist. In der Schweiz ist das Neidsystem demokratisiert. Das verleiht gewisse Leute, nach dem Champignon-Prinzip zu agieren. Wächst einer zu hoch hinaus, wird versucht, ihn herunter zu schneiden. In den USA hört man ständig Sätze wie «I’m so happy for you» oder «Great, man». Das hört man in der Schweiz nicht. Statt dessen wartet ein Medienheer, das einem bloss angreift. Bei mir wars aber nicht schlimm.
Hossli: Die «Aargauer Zeitung» schrieb, Ihr Film sei gezielt Oscar kompatiblen.
Frei: Das schlägt doch auf den Journalisten zurück. Wer meint, man könne mit Kalkül gute Filme drehen, versteht nichts vom Kino. Viele etablierte Schweizer Filmer haben mir herzlich gratuliert. Die Dokumentarfilmszene freut sich mit mir. Geärgert hat ich mich am Tag der Nominierung die Schweizerische Depeschen-Agentur. Die titelte «13 Oscar-Nominierungen für «Lord of the Ring». Mein Film wurde nicht mal erwähnt. Immerhin ists der erste Schweizer Dokumentarfilm im Oscar-Rennen. Im Ausland würde der verantwortliche Redaktor sofort gefeuert.
Hossli: Pietro Scalia, Sie sind in Italien geboren, in der Schweiz aufgewachsen und in den USA gross geworden. Die Schweizer sind stolz auf Sie, die Italiener ebenso.
Scalia: Darüber bin ich glücklich. Als ich in der Schweiz aufgewachsen bin, gabs viele Vorurteile gegenüber Immigranten aus Süditalien. In Italien sagten sie mir, Du bist kein Italiener, Du bist Schweizer. Dann kam ich in die USA, wo das alles keine Rolle mehr spielte. Gleichzeitig behielt ich meine schweizerische und italienische Seite. Ich bin ein Produkt beider Länder, verfeinert hier in Hollywood.
Hossli: Christian Frei, ziehen Sie jetzt auch nach Hollywood?
Frei: Diese Frage ist relativ absurd. Als Xavier Koller vor elf Jahren seinen Oscar abholte, ging er zwanzig Minuten nach der Feier zurück ins Hotelzimmer. Dort fand er zwei Stapel Drehbücher mit den besten Grüssen der Produktionshäuser. Sollte ich den Oscar bekommen, passiert das nicht. Die Schweiz ist ein guter Nährboden für Dokumentarfilme. Es hat Geld und es gibt einen Wettbewerb mit Leuten, die mich inspirieren. Hans Stürm, Urs Graf, Dindo – das ist eine ganze Vätergeneration. Daniel Schmids «Il Bacio di Tosca» ist nach wie vor der beste Schweizer Dokumentarfilm. Ich suche universelle Themen – aber kaum hier.
Scalia: Machst Du jetzt Spielfilme?
Frei lacht.
Scalia: Ja?
Frei: Ist lustig, dass Du fragst. Manchmal habe ich schon das Gefühl, ich würde gerne diese authentischen wahrhaften Momente von Schauspielern zeigen. Ich bin nicht ein Dokumentarfilmer, der sich da allzu sehr abgrenzt. Eine gute Geschichte ist eine gute Geschichte.
Scalia: Das ganze Oscar-Tamtam wird Dich mächtig verwirren und ich bin sicher, dass Du viele Angebote bekommst. Das ganze ist ein Zirkus, eine Feier. Es fühlt sich grossartig an. Jeder liebt Dich.
Forster: Es ist alles eine grosse Illusion.
Scalia: Die man geniessen muss. Da wir alle aus der Schweiz kommen, stehen wir mit den Füssen auf dem Boden.
Forster: Erfolg ist eine knifflige Sache. Einerseits willst Du es geniessen, andererseits weisst Du: es ist nur eine Illusion. Morgen ist vielleicht alles wieder vorbei, also geniess es schon heute. Das Leben verändert sich schnell. Ich lebe im Jetzt.
Hossli: Was rät Ihr Christian Frei?
Forster: Zuerst muss ers wirklich wollen. Filmemachen ist für mich Geschichtenerzählen. Das muss ich einfach machen. Ich bin nicht eines Morgens aufgewacht und hab gesagt, oops, jetzt werde ich Regisseur. Ich spüre diesen Drang. Ich weiss nicht, wie stark das bei Christian vorhanden ist. Da kenn ich Dich zu wenig. Wichtig ist, das System hier zu verstehen. Als ich ankam, hab ich gar nichts begriffen. Bei mir dauerte es zwei, drei Jahre, bis ich gelernt habe, wie man einen Job kriegt. Man muss sich einen Fanclub aufbauen mit Leuten, die Entscheidungen treffen, die einem empfehlen. Ist man mal drin, wird Hollywood rasch ganz klein.
Scalia: Es zirkulieren hunderte, ja tausende Drehbücher. Es ist enorm wichtig, das richtige Material zu finden. Das ganze ist ein Spiel. Viele Leute reden viel. Hast Du Erfolg und ist Dein Name in der Presse, musste Du etwas ganz unschweizerisches machen – Du musst so viel Profit wie möglich daraus schlagen. Anfänglich ists schwierig zu sagen: ich bin wirklich gut.
Frei: Wenn Du das in der Schweiz sagst, drehen Sie Dir gleich den Hals um.
Scalia: Du musst es sagen. Ja, ich bin grossartig. Schweigst Du, sagts keiner.
Frei: Ertrinken nicht 99 Prozent der Leute in Los Angeles? Stimmt das Klischee, jeder Taxifahrer sei ein Drehbuchautor?
Forster: Das stimmt schon.
Frei: Ich müsste hier wieder ganz unten anfangen, das will ich nicht. Eher interessiert mich, einen Blick hinter die Glitzerfassade zu werfen. Vielleicht drehe ich einen Dokumentarfilm über das Heer von Mexikanern, die die Wüste Los Angeles in einen Palmengarten verwandeln. Der Glamour ist ja nur ein Teil Hollywoods.
Scalia: Los Angeles ist eine komische Stadt. Sie ist so verführerisch wie brutal.
Hossli: Hier sitzen drei Schweizer, die es in Hollywood zu höchsten Ehren geschafft haben. Ein Erfolg, grösser als die Goldmedaillen von Simon Ammann?
Frei: Schreiben Sie: gleich gross. Sonst machen wir uns in der Schweiz unbeliebt.
Hossli: Es gibt weltweit ein paar hundert aktive Skispringer, aber Millionen von Filmern.
Frei: Darf ich was fragen? Wie geht es Dir Marc, hast Du bereits neue Projekte?
Scalia: Ich möchte nicht für Marc antworten, aber der sitz auf der Rakete.
Forster: Am Freitag fliege ich nach London, um die Vorproduktion für einen Film mit Johnny Depp zu beginnen. Es ist ein risikoreiches Projekt. Deshalb habe ichs angenommen. Ich habe viele Angebote bekommen, die bestimmt sicherer gewesen wären. Mich reizt das Risiko. Erstmals arbeite ich mit Miramax. Da weiss man nie so recht, wie es rauskommt.
Scalia: Mit Miramax? Du hast Deine Seele an den Teufel verkauft.
Forster: Genau. Danach arbeite ich mit Brad Pitt an einem Drehbuch für einen Film, den Universal produziert.
Frei: Voll geil, würde Simon Ammann zu Deinen Erfolgen wohl sagen. Gratuliere.
Hossli: Lasst uns übers Geld reden, das Elixier der Filmindustrie.
Frei: Wüsste die Academy, wie ich arbeite, wäre ich gar nicht nominiert worden. Mein Büro ist in der Roten Fabrik. Zwei Jahre lang hatte ich eine Assistentin. Jetzt bin ich ganz allein. Meine Produktionsfirma? Das bin ich. Für die Dreharbeiten wars ein Vorteil. Weil ich keine Löhne zahlen musste, konnte ich beharrlich hinter Nachtwey herziehen. Seit der Nomination ist es aber verrückt. Ich breche fast zusammen. Verdient habe ich nicht viel.
Hossli: Das dürfte sich jetzt ändern.
Frei: Möglich. Da ich bereits etliche Verkäufe in Aussicht habe, habe ich mir einen Ford Mustang Cabriolet gemietet. Ich will das Game so richtig mitspielen.
Scalia: Ich arbeite unterhalb der ominösen Linie. Oberhalb der Linie sind Regisseure, Autoren, Stars und die Produzenten. Was die da oben verdienen, hat nichts mit dem zu tun, was wir da unten verdienen. Der Unterschied ist enorm.
Forster: Pietro ist überqualifiziert und unterbezahlt. Im Gegensatz zu so vielen, die unterqualifiziert und überzahlt sind.
Scalia: Ich beklage mich nicht. Schliesslich arbeite ich für die Produzenten, die es sich leisten können, mich gut zu bezahlen. Es ist aber nicht richtig, dass Cutter weniger verdienen. Der Schnitt ist genauso wichtig wie etwa das Drehbuch, die Kamera, oder die Musik. Ich verdiene aber weit weniger als ein Komponist.
Forster: Wer unterhalb der Linie arbeitet, trägt weniger Verantwortung. Auch nach einem Flop hast Du weiterhin Arbeit. Bleibt der Erfolg aus, haben die Regisseure Probleme. Deshalb müssen sie stets genügend Geld auf der Bank haben.
Hossli: Wie oft darf einer denn scheitern?
Forster: Je nach dem, wie viele Erfolge Du bereits aufzuweisen hast. Ridley Scott konnte problemlos ein paar Flops machen – bevor er Pietro verpflichtete.
Scalia: Drei Flops, und Du bist draussen. Demi Moore war hintereinander in drei Filmen, die wenig einspielten und bei der Kritik durchfielen. Jetzt ist sie weg vom Fenster und muss wieder unten anfangen.
Frei: Marc, bist Du als Regisseur eigentlich am Umsatz beteiligt?
Forster: Nicht bei «Monster’s Ball». Da bekomme ich nur etwas, wenn alle Rechnungen bezahlt sind. Ich wähle ein Projekt nicht wegen des Geldes sondern wegen dem Inhalt. Geld ist mir nicht wichtig, habe ja noch keine Familie. So lange ich die Miete zahlen kann, ist mir Geld egal. Ich mache Filme, an denen ich Spass habe, für die ich Passion entwickeln kann.
Hossli: Künstlerisch läuft in Hollywood derzeit wenig. Es gibt kaum gute Filme für ein erwachsenes Publikum. Warum?
Scalia: Es gibt wenige, die Risiken eingehen. «Monster’s Ball» ist eine Ausnahme. Der Film wurde von einem kleinen Studio gemacht. Für ein grosses Studio wäre er zuwenig kommerziell. Studiobosse machen nichts, das nicht kommerziell ist.
Forster: Ich wollte «Monster’s Ball» zuerst für fünf Millionen Dollar machen, dann gingen wir auf drei Millionen runter. Wir wussten, dass wir das Geld zurück erhalten werden mit Videokassetten und Verkäufen ins Ausland. Weil wir billig arbeiteten, haben die mich in Ruhe gelassen. Ich hatte sämtliche Freiheiten. Ich habe den Film gezeigt, die haben gesagt, ja, das ist noch schön, da könnte noch was draus machen. Dann gabs ein paar gute Kritiken. Jetzt sind wir überrascht, wie viele Geld der Film macht.
Scalia: Es gibt zu wenige starke Produzenten. Die Saläre sind zu hoch. Der Regisseur bekommt zehn Millionen Dollar, der Star 20 Millionen, der Produzent macht 5 Millionen. Zusammen mit dem Drehbuch ist man vor Drehbeginn bereits bei 50 Millionen Dollar. Weil jeder ein immer grösseres Stück des Kuchens will, sind die Kosten schnell Mal bei 120 Millionen Dollar. Deshalb geht niemand mehr echte Risiken ein. Es ist traurig.
Hossli: Wie verändert 9/11 Eure Arbeit?
Frei: James Nachtwey war ja mitten drin. Er lebt in Downtown Manhattan und hat sofort zu fotografieren angefangen. Das Interesse an seiner Arbeit ist sehr gestiegen. Er selbst hat sich nicht verändert. Es gibt eine gewisse Abkehr im Feuilleton von der rein ironischen Betrachtung der Welt. An deren Stelle traten echtes Interesse und Neugier. Darauf beruht mein Film. Nachtweys komplett unzynische Art ist endlich wieder en vogue.
Forster: Mich interessieren immer noch die gleichen Projekte und Geschichten wie vor dem 11. September. Die Problematik hat ja schon vorher existiert. Jetzt ist sie vielen endlich bewusst geworden.
Scalia: Mit «Black Hawk Down» hatten wir eine spezielle Situation. Der Film handelt von einem für die US-Armee desaströsen Ereignis in Somalia. Danach wandte sich die USA ab von Krisengebieten wie Ruanda oder Bosnien. Wir hatten keine Ahnung, ob die US-Öffentlichkeit bereit war, mit den Konsequenzen des Krieges – nämlich dem Tod – visuell derart explizit konfrontiert zu werden.
Forster: Darf ich kurz unterbrechen. Ich muss leider gehen. Um 12 Uhr habe ich ein weiteres Meeting, das ich unmöglich verschieben konnte. Sorry.
Hossli: Sie treffen sich, um das Brad-Pitt-Projekt mit Universal zu besprechen?
Forster: Nein, nein, das ist noch ein dritter Film, den ich derzeit plane.
Frei: You’re really on a roll.
Forster: Das ist ein sehr grosses Projekt, das beste Drehbuch, das ich je gelesen habe. Zuerst wollten die einen AAA-List-Regisseur. Nun wollen sie mich sehen.
Hossli: Okay, zum Schluss: Gewinnt Ihr?
Scalia: Frag das nicht, Du verdirbst es. Ich denke nicht daran. Es geht ja nicht ums Gewinnen. Hmm. Vielleicht sag ich das, weil ich schon einen habe. Auf die Titelseite kommt doch nur der Sieger. Die Nominierten vergisst man stets schnell.
Frei: Sehen wir uns an der Oscar party?
Forster: Geht nicht, ich arbeite dann.
Pietro Scalia, 42, kam in Sizilien zur Welt. Er wuchs in Aarau auf und lebt seit zwanzig Jahren in Los Angeles. Scalia gilt als einer der besten Cutter Hollywoods. Lange Zeit schnitt er die Filme von Oliver Stone. 1991 gewann er für «JFK» einen Oscar. Nachher montierte er unter anderem «Little Buddha» und «Stealing Beauty» von Bernardo Bertolucci und «Good Will Hunting» von Gus Van Sant. In den vergangenen zwei Jahren schnitt er hintereinander die drei Filme von Ridley Scott: «Gladiator», «Hannibal» und «Black Hawk Down.» Für den Kriegsfilm in Somalia wurde Scalia heuer zum vierten Mal für einen Oscar nominiert.
Seit zwanzig Jahren arbeitet Christian Frei, 43, als unabhängiger Regisseur und Produzent. Er hat in Fribourg Journalismus und Kommunikationswissenschaften studiert. Regelmässig realisiert er Dokumentarfilme für das Schweizer Fernsehen. 1997 stellte er den Dokumentarfilm «Ricardo, Miriam y Fidel» fertig. Darin schildert er den Auszug einer kubanischen Familie nach Miami sowie das komplexe Verhältnis zwischen Kuba und den USA. In seinem neusten, Oscar nominierten Film «War Photographer» begleitet Frei dem US-Kriegsfotografen James Nachtwey in etliche Krisengebiete.
Regisseur Marc Forster, 32, gilt als Shootingstar in Hollywood. Die US-Kritik lobt seine visuelle Kraft sowie den gekonnten Umgang mit Schauspielern. In «Monster’s Ball» habe er Billy Bob Thornton und Halle Berry zu ihren bisher besten Leistungen geführt. Nach der Matura verliess der Bündner die Schweiz. Er besuchte die Filmschule der New York University. 1995 realisierte er seinen ersten Film, «Loungers», der aber nicht ins Kino kam. Einen Verleih fand jedoch der im Jahr 2000 auf Video gedreht «Everything Put Together». Er erzählt von einer Mutter, deren Neugeborenes stirbt.