Wer darf zuschauen, wie der Staat hinrichtet?

Wenn der amerikanische Bombenattentäter Timothy McVeigh am 16. Mai hingerichtet wird, haben die Angehörigen der 168 Opfer das Recht, dabei zu sein. Fernseh- und Internetproduzenten wollen live senden. Der Fall hat in den USA eine medienpolitische Debatte ausgelöst

Von Peter Hossli

Timothy McVeigh, 32, ist Amerikaner und Terrorist. Am 19. April 1995 zündete der frühere Golfkrieger in einem staatlichen Bürogebäude in Oklahoma City eine Bombe. 168 Menschen starben. 19 waren Kinder. McVeigh mordete, so sagte er zwei Journalisten, weil er sich vom eigenen Staat betrogen fühlte. Am 16. Mai richtet ihn der Staat hin.

Erstmals seit 1963 tötet nicht ein Bundesstaat, sondern die US-Regierung einen Kriminellen – und sorgt für ein Medienspektakel. Fünf Fernsehinterviews will McVeigh vor seinem Ableben gewähren. Über 1300 Journalisten haben sich in Terre Haute, Indiana, angemeldet – um vor einem grauen Hochsicherheitsblock auf die Meldung zu warten, McVeigh sei tot. In Indiana betreibt das Federal Bureau of Prison eine Art Todesfabrik. Alle bundesstaatlichen Todeskandidaten warten hier auf die Vollstreckung ihres Urteils.

Entfacht hat die bevorstehende Exekution eine brisante medienpolitische Debatte: Wer darf zuschauen, wenn der Staat einen Terroristen hinrichtet? Nur die direkt Betroffenen? Oder, weil die Tat gegen das Land gerichtet war, die gesamte Fernsehnation? Wer programmiert das Fernsehen, der Staat oder die Sender? Folgt jetzt das ultimative Reality-TV, die Direktübertragung aus der Gaskammer?

In den USA haben Angehörige von Opfern generell das Recht, Hinrichtungen der Täter persönlich beizuwohnen. Auge um Auge, Zahn um Zahn soll den Hinterbliebenen der Verlust erleichtert werden. «Die Angehörigen wollen sicher sein, dass der Täter auch wirklich tot ist», sagt die New Yorker Juristin Melissa Traino. Überdies unterstreicht der Staat damit seine Autorität: Nur er darf ungestraft töten.

Jeweils zwölf Bürgerinnen und Bürger wohnen einer regulären Exekution live bei, Zugewandte des Opfers, ein bis zwei Medienvertreter sowie Repräsentanten des Staates. Im Fall von Timothy McVeigh haben aber insgesamt 250 Angehörige das dringende Bedürfnis angemeldet, der Injektion eines tödlichen Giftgemisches in den Arm von Bomber McVeigh zuzusehen. Nur zehn werden zugelassen, zu klein sind die Tribünen für die grosse Gruppe.

Um der Platznot beizukommen, orderte Staatsanwalt John Ashcroft am Donnerstag an, die Hinrichtung per Satellit nach Oklahoma zu übertragen. In einer militärisch bewachten Halle werden rund 240 Angehörige am Fernsehen verfolgen, wie McVeigh stirbt. Sie sehen zu, wie er auf dem Schragen gefesselt seine letzten Worte spricht. Dann wird das Gift in seine Venen geführt. Binnen Sekunden stirbt er.

Videosignal wird verschlüsselt

Die Übertragung wird mittels komplexer Technologie verschlüsselt, so dass niemand die Sendung kopieren oder stören kann. Per Los lässt Ashcroft jene zehn Verwandten auswählen, die dem bizarren Theater vor Ort in Terre Haute beiwohnen dürfen. Um nachträglich dem Rest der Welt die Einzelheiten zu schildern, sind zusätzlich zehn Medienvertreter live zugelassen.

Er folge den «Wünschen der Familien, die jemanden in diesem schrecklichen Verbrechen verloren haben», begründete John Ashcroft seinen Entscheid: «Sie können so ein schreckliches Kapitel in ihrem Leben abschliessen.» Überdies wolle man ihnen eine beschwerliche 13-stündige Autofahrt von Oklahoma nach Indiana ersparen. In einer Umfrage von CNN.com sprachen sich 55 Prozent der Stimmenden für die selektive Übertragung der Hinrichtung für Angehörige aus. Gegner reklamierten, das Videosignal könnte gestohlen, teuer verkauft und publiziert werden. Einigen ging Ashcrofts Entscheid nicht weit genug. Offen debattieren die Medien die Möglichkeit, das zwiespältige Spektakel allen Amerikanern zugänglich zu machen. McVeigh empfahl im Februar in einem Brief, eine öffentliche Liveschaltung in die Todeskammer würde die Diskussion beenden, wer seinem Ende beiwohnen dürfe.

Kritiker fordern TV-Übertragung

Mit dem in den USA hochgehaltenen Recht auf freie Presse rechtfertigt der Gründer des Gerichtssenders Court TV, Steven Brill, das Bedürfnis auf Hinrichtungs-TV. Die Regierung müsse der Öffentlichkeit «so viel Inhalte wie möglich» zugänglich machen, «vor allem, wenn es um Aktionen der Regierung geht». Es sei nicht die Aufgabe der staatlichen Zensoren, festzulegen, was und was nicht zu sehen ist. Allerdings, schrieb Brill in einer Kolumne im von ihm herausgegebenen Medienmagazin «Brill’s Content», dürften die Fernsehkanäle damit kein Geld verdienen.

Gegnerinnen und Gegner der Todesstrafe sind einer Übertragung nicht abgeneigt. Der TV-Talker Phil Donahue sagt, das Publikum wisse nicht, wie schrecklich eine echte Hinrichtung sei. Würde man sehen, wie jemand ermordet wird, würde die Stimmung im Land sicherlich gegen die Todesstrafe kippen.