Vorbild Swissair

Vor siebenzehn Jahren stürzte vor Kanada ein Schweizer Flugzeug ab. Seither orientieren sich Airlines nach einem Crash an der Bewältigung dieses Unglücks.

Von Peter Hossli (Text) und Sabine Wunderlin (Fotos)

hans_klausAm 3. September 1998 lenkte Hans Klaus seinen weissen VW Käfer zum Terminal 1 des Flughafens Kloten. Er parkierte das Auto mit Baujahr 1973 auf das gelb markierte Parkfeld der Polizei. Ohne Zahnbürste und Ersatzwäsche bestieg er einen Airbus 310 der Swissair und flog nach Kanada.

Nun sitzt Klaus (48) im hellen Büro seiner Firma. Es friert ihn. «Da kriege ich noch heute Gänsehaut», sagt der stattliche Mann – und erzählt vom «schwierigsten Moment in Halifax». Damals, im Herbst 1998, als Swissair-Flug 111 vor der kanadischen Küste ins Meer stürzte. Swissair-Chef Jeffrey Katz stand vor Angehörigen der 229 Opfer – und schilderte erstmals, was mit der MD-11 geschah. «Gleichzeitig bat er, DNA-Proben abzugeben, um Leichenteile zu identifizieren», erzählt Klaus. Viele weinten, einige sackten zu Boden. Ihnen war nun bewusst geworden: Sie werden ihre Liebsten nie mehr sehen.

Wichtig war aber: die schlechte Nachricht überbrachte der Chef.

Hinter Klaus hängt die Fotografie eines eingemotteten Jets. Nach dem Swissair-Crash arbeitete er mit dem Care-Team und leitete die Kommunikation in Nordamerika. «Noch heute orientieren sich Airlines an der Swissair», sagt Klaus.

Wie jetzt Germanwings in den französischen Alpen, wo Lufthansa den Absturz von Flug 4U9525 abwickelt – nach Schweizer Vorbild. «Erstmals betrachtete in Halifax eine Airline einen Absturz nicht mehr nur als technisches Ereignis.»

Drei Bereiche waren wichtig: Wie bisher wollte die Swissair die Ursachen des Unfalls klären; neu war der Care-Gedanken für die Angehörigen; drittens kam eine offene Kommunikation hinzu.

Klaus flog im ersten Flieger nach Halifax, mit Ärzten, dem Care-Team und CEO Katz. Im Cockpit sassen Piloten, die auf solche Einsätze vorbereitet waren, unterstützt von Flugbegleitern, die mit grossem Druck umgehen konnten.

Schon Tage später flog die Swissair Mütter und Väter, Söhne und Töchter der Opfer nach Kanada. Um «ihnen die Möglichkeit zu geben, sich persönlich zu verabschieden», erklärt Klaus. «Ohne physischen Bezug ist der Abschied kaum möglich.» Denn: «Ein örtlicher Bezug erleichtert es, einen unerwarteter Tod zu akzeptieren.»

Angehörige konnten in Kanada eine Hand ins Meer halten. Sie glitten mit Booten zur Absturzstelle, warfen Blumen ins Wasser. «Das waren wichtige Rituale, um Verstorbenen zu gedenken.»

SR 111 war von New York nach Genf unterwegs. Kabel entzündeten sich. Das Flugzeug stürzte ab. Menschen aus 20 Ländern starben. «Wir ermöglichten allen Angehörigen unbürokratische Reisen nach Halifax», sagt Klaus. Es gab Personen, die sofort anreisen wollten, andere warteten Wochen auf den richtigen Zeitpunkt. Die Swissair betreute sie vor Ort. «Ihre Bedürfnisse waren einfach», so Klaus. «Sie brauchten ein Hotelzimmer, etwas zu essen, Busse oder Autos vor Ort.» Für alle Sprachen organisierte die Swissair Übersetzer vor Ort, für alle Religionen Geistliche.

Damals – wie jetzt in Frankreich – konnten nur Leichenteile geborgen werden. Ohne identifizierte Leiche aber darf kein Totenschein ausgestellt werden. Deshalb gaben Angehörigen Blut- oder Haarproben. Einige brachten Röntgenbilder, Zahnarztberichte oder Angaben über Tätowierungen nach Halifax. Wenn möglich, erhielten sie Leichenteile, um wenigsten einen Fuss oder eine Hand zu beerdigen.

Die Betreuung dauerte mehrere Jahre. Am ersten Jahrestag etwa flog die Swissair die Angehörigen erneut nach Halifax – zum Trauern.

In der Kommunikation ist heute Standard, was die Swissair damals entwickelte. «Es war eine offene und schnelle Kommunikation», so Klaus. Auf der ersten Maschine von Kloten nach Halifax flogen 60 Journalisten mit. «Weil wir nicht wollten, dass sich Schweizer Medien nur über CNN informierten», so Klaus. «Sie sollten sich ihr Bild vor Ort machen.» Dass Journalisten mitkamen, «war Initialzünder für die offene Kommunikation.»

Möglichst frei sollten die Medien aus Halifax berichten können. «An gewisse Orte durften die Journalisten nicht hin», so Klaus. Tabu waren die Hotels der Angehörigen. «Die Medien müssen ein solches Unglück aber voll abdecken können», betont Klaus. «Da gehört das menschliche Schicksal dazu.» Etwa die Angehörigen. «Ihre Würde muss aber respektiert werden.»

Bewusst bemühte sich die Swissair, den Reportern technische Aspekte zu erklären, öffentlich zu sagen, wie die Blackbox funktioniert, wie Piloten mit Lotsen sprechen. «Erstmals erklärte eine Airline ihr Unglück», so Klaus. Später arbeitete er für die Fifa, für Japan Tobacco, für Bundesrätin Ruth Metzler, hat heute eine eigene Firma. Aber: «Ich hatte nie mehr ein so starkes Team wie bei der Swissair.»

Nach viereinhalb Wochen in Halifax kehrte Klaus zurück nach Zürich. Sein Käfer stand noch immer auf dem gelb markierten Parkplatz der Polizei. Er hatte eine Visitenkarte an die Scheibe geheftet mit dem Vermerk «Halifax». Warum erhielt er keine Busse? «Alle Menschen am Flughafen waren damals solidarisch und halfen, diese Katastrophe zu bewältigen.»