Swissair 111 – Das letzte Adieu

Die Angehörigen sind gekommen, um zu verstehen. Ihnen bleibt nicht mehr als eine Flasche Meerwasser und ein paar Steine von Peggy's Cove.

Von Peter Hossli

peter_halifaxHalifax verlässt er erst wieder, wenn er einen Leichnam mit nach Hause nehmen kann. Und zwar will er die sterblichen Überreste vollständig, jedes Glied muss am Rumpf sein, nichts darf fehlen.

Ein Muslim, der seinen Bruder auf dem Swissair-Flug 111 verloren hat, gibt sich nicht mit zerfetzten Körperteilen oder einem angespülten Schuh zufrieden. Nur wer komplett an Allah überführt wird, findet Ruhe, glaubt er.

Er wird lange bleiben müssen.

Leichen birgt in Halifax niemand. Nur der Körper einer toten schwarzen Französin ist ganz geblieben. Einem Baby fehlt ein Bein. Übrig geblieben sind sonst nur Bestandteile von 229 Menschen, von Männern, Frauen und Kindern.

Auf einer riesigen Fläche, deren Radius inzwischen 160 Kilometer erreicht hat, findet die kanadische Küstenwache vor Peggy’s Cove am sechsten Tag nach dem Crash noch immer schwimmende Reste des Unglücksfliegers.

Blech und Blut, dazu Turnschuhe und Reisepässe, eine Shampooflasche, eine Puppe, ein gelbes Spielzeugauto heben Küstenwächter und unzählige Freiwillige aus dem kalten Wasser. Dieser Funde wegen fürchtet Anna-Maria Kroeck ums Geschäft. Die deutsche Auswanderin betreibt seit zwei Jahren in Indian Harbour, dem Nachbardorf von Peggy’s Cove, eine Pension.

Anfang Juni begann Anna-Maria Kroeck den Gästen und Tagesausflüglern Schnorchel und Flossen zu vermieten – ein lukratives Geschäft. «Damit ist Schluss», sagt sie. «Jetzt denken die Schnorchler, man sehe durch die Taucherbrille bloss noch Körperfetzen.» Zum Glück, sagt die Wirtin, könne sie die Zimmer noch für ein paar Tage der angereisten deutschen Fernsehequipe vermieten. «Sind die weg», sagt sie, «ist der Tourismus wohl für ein paar Monate total versaut.»

In Gummistiefeln stampft Kroeck durch Peggy’s Cove. An diesem Ort der stillen, selbst von den Medien respektierten Trauer verteilt sie Visitenkarten mit der Adresse und der Telefonnummer ihrer Pension. «Kommen Sie doch mal vorbei, und schauen Sie sich meine Zimmer an; die sind ruhig, und man sieht den Leuchtturm», wirbt sie eine Fotografin an. Die mag all das gar nicht hören.

Nur fünfzig Meter weiter vorne, beim rot-weissen Leuchtturm, hat sie eben drei Angehörige fotografiert. Menschen, die hierher gekommen sind, um Abschied zu nehmen, um zu verstehen.

Das Rote Kreuz von Halifax hält Blumen bereit. Weil der Felsen hinter dem Leuchtturm von Peggy’s Cove steil abfällt, werfen zwei Soldaten der kanadischen Armee die Sträusse ins Wasser. «Unfälle hats schon genug gegeben», sagt die Rot-Kreuz-Helferin Murielle Provost.

Provost koordiniert die Hilfsarbeiten des Kanadischen Roten Kreuzes. Sie betreut, verteilt warme Decken, füllt den Angehörigen Glasflaschen mit Meerwasser. Wer will, darf Steine von Peggy’s Cove mit nach Hause nehmen. Hilfreich sind den meisten die flauschigen Teddybären, die das Rote Kreuz abgibt. «Manche sind froh», sagt Provost, «etwas streicheln zu können.» Die Bären vermitteln Geborgenheit. «Wärme auch», sagt sie.

«Weil man von keinem Sarg Abschied nehmen kann», sagt der Dorfpfarrer von Peggy’s Cove, Richard E. Walsh, «sind solche Rituale oder Mitbringsel bei der Verarbeitung ausgesprochen wichtig.»

Religiöse Vertreter fünf verschiedener Glaubensrichtungen beten. Der Rabbi kommt am Sonntag nach Peggy’s Cove. Am Sabbat bleiben die orthodoxen Juden noch in New York – ihr Glaube verbietet es ihnen, samstags zu fliegen.

In und um Halifax ist der Tod häufiger Gast. Seit Jahrhunderten trägt die Provinzhauptstadt von Nova Scotia im Nordosten Kanadas den Übernamen «City of Sorrow», Stadt der Trauer. Rund 5000 Schiffe gingen vor deren zerfurchten Küsten unter. Als 1873 vor Halifax die «S. S. Atlantic» sank, starben 500. Bei einer Explosion 1917 kamen 2000 Menschen ums Leben. Berühmt ist Halifax wegen den 150 «Titanic»-Opfern, die hier auf drei Friedhöfen begraben liegen. Ihre Leichen waren von Bergungsschiffen gebracht worden.

In Souvenirläden kann man Kochbücher, Holzmodelle oder T-Shirts erstehen. Seit Hollywoodregisseur James Cameron im letzten Jahr aus dem Untergang der «Titanic» ein oscargekröntes Stück Populärkultur machte, sind die «Titanic»-Friedhöfe Hauptattraktion von Halifax. «Jetzt hat das Meer noch ein Swissair-Flieger geschluckt», sagt einer der sechzig Einwohner von Peggy’s Cove.

In der Nacht des Absturzes stürmt die See. Am Freitag, als erste Angehörige aus Europa und New York fast gleichzeitig am Flughafen eintreffen, ist es kalt. Nebel überzieht die Stadt und die fünfzig Kilometer entfernte Küste von Peggy’s Cove. «So trübe ist es zu dieser Jahreszeit hier nie», sagt Pensionsbesitzerin Kroeck.

Einen Tag später, jetzt strahlt im Fischerörtchen die Sonne, sagt Claire Mortimer aus Kalifornien: «Es ist schön zu wissen, dass mein Vater und meine Stiefmutter an diesem einzigartig friedlichen Ort starben.»

Claire Mortimer tritt am Samstag vor Kameras. Ihr eben erst verstorbener Vater sei Vizepräsident der «New York Times» gewesen. «Er ist sicher stolz, dass ich mit den Medien spreche.» Am Montag besucht Claire Mortimer den Hangar in Shearwater, einen Stützpunkt der kanadischen Navy. Dort lagern Flugzeugteile und persönliche Effekten der Opfer. Sie sucht den Ehering der Mutter und findet die Brieftasche des Vaters.

Die Bereitschaft zu helfen ist enorm. Wenige Stunden nach dem Crash ist die Region mobilisiert. 5000 melden sich freiwillig, 5000 Betten in Privathäusern stehen sofort zur Verfügung. Trauerbekenntnisse allenthalben. Entlang der Leuchtturmstrasse, die sich von Halifax nach Peggy’s Cove schlängelt, zeugen spontan aufgestellte Schilder vom tiefen Mitleid der Menschen in Nova Scotia: «Swissair 111, wir teilen die Trauer.» «SR 111. Ihr habt unser Beileid.» «Wir sind mit Euch.» Auf einer Tankstelle flattert eine Schweizer Fahne auf Halbmast.

Belegte Brote, Früchte und Kaffee karrt der kanadische Lebensmittelriese Sobey’s kostenlos nach Peggy’s Cove. Die Heilsarmee, die Soldaten aus der ganzen Provinz herbeibringt, verteilt Eiersandwiches, Orangen und Kuchen. Hunger oder Durst hat niemand, gefüttert werden alle: die übermüdeten Bergungsleute der Küstenwache, die Kameraleute von CNN, der Pfarrer von Peggy’s Cove, die Angehörigen, die rund dreissig Reporterinnen und Reporter, die aus der Schweiz angereist sind.

Die kanadische Fluggesellschaft Air Canada, derzeit betroffen von einem Streik, stellt der Swissair kostenlos einen Airbus 319 zur Verfügung, um Angehörige der Opfer und Medienschaffende zwischen Halifax und New York hin und her zu fliegen. Die Swissair bezahlt nur das Kerosin. Von Hans Klaus, dem Halifax-Pressesprecher der Swissair, will ein lokaler Taxifahrer kein Geld, als er erfährt, warum Klaus in den Nordosten Kanadas gereist ist.

Kriegsgewinnler sind die Ausnahme.

Eine Handyverleihfirma verlangt für die Handymiete 49 statt 3 Dollar pro Tag, die Minute kostet 2 Dollar statt 50 Cents. «Es ist ein Preis, den Angebot und Nachfrage bestimmen», sagt der Telefonvermieter. Ein Fischer aus West Dover kuttert Journalisten für ein paar hundert Dollar zur Bergungsstätte.

Im Pressezelt gibts Unruhe zwischen Deutsch und Welsch. Zornig schreit ein welscher Radiojournalist den Kollegen von Radio DRS an. Der Deutschschweizer sagte eben auf Englisch, ihm seien die vielen deutschen Namen unter den Opfern aufgefallen. «Die Crew stammte wohl aus Zürich.» Das reicht im fernen Kanada zum Anti-Zürich-Reflex. «Nein, es gab viel mehr Tote aus der Romandie», ärgert sich der welsche Radiomann.

Währenddessen kommts im Hotel «Lord Nelson» zum bewegendsten Moment der Woche. Doktor John Butt, der medizinische Ermittler, informiert 300 am selben Tag angereiste Angehörige. «Leichen», sagt er, «wird niemand sehen. Vermutlich hat sie eine Explosion in Stücke gerissen.» Butt bricht in Tränen aus. Familienmitglieder der Opfer brechen zusammen. Nur ein paar sind froh. Sie wissen nun, der Tod vor Halifax trat sofort ein.

In der Stadt beginnt der Alltag wieder. Am nächsten Sonntag findet in Halifax eine internationale Flugshow statt. Sie wurde nicht abgesagt.

Identifizierung

Schwierige Untersuchungen im Labor
Ohne Leiche kein Totenschein: Die sterblichen Überreste der Opfer werden aufwändigen DNS-Analysen unterzogen.

Komplexe verfahren
Ohne sicher identifizierte Leiche darf in der Regel kein Totenschein ausgestellt werden. Im Falle der Opfer des Swissair-Flugs 111 gibt das Probleme. Es konnten fast nur Leichenbestandteile geborgen werden. Um dennoch genau festzustellen, wer am 3. September auf der MD-11 ums Leben kam, kommen komplexe Verfahren zur Anwendung.

Nach der Bergung werden die Leichenteile gewaschen, dann gekühlt, schliesslich tiefgefroren. Bevor man die sterblichen Überreste ins Labor in die kanadische Hauptstadt Ottawa überführt, werden sie nach Grösse sortiert.

Blut- und Haarproben
Allen Angehörigen, die nach Halifax reisten, wurden Blut- oder Haarproben genommen. Daraus soll die Erbinformation DNS gewonnen werden. Wer vor Abreise noch dazu kam, brachte Röntgenbilder, Zahnarztrapporte oder Angaben über Tätowierungen der Opfer mit nach Halifax.

Insgesamt konnten unter der Leitung des untersuchenden Arztes John Butt innert drei Tagen Proben von 170 Familien gesammelt werden. Im Labor werden Gentechniker versuchen, DNS-Übereinstimmungen festzustellen.

Der administrative Aufwand ist enorm. Weil noch nie so viele DNS-Proben auf einmal verglichen wurden, lässt John Butt ein Computerprogramm zu deren Bewältigung entwickeln.

In der Zwischenzeit gelang es der Swissair, die Ausstellung von Totenscheinen zu bewirken. «Ohne das Papier in der Hand mag niemand nach Hause fliegen», sagt eine Swissair-Betreuerin.