In Boston kommt Kleines gross heraus

Wenig klingt bei Investoren derzeit verheissungsvoller als Nanotechnologie. Wissenschaftler wie Unternehmer hoffen, damit Krebs heilen, Energie gewinnen oder blitzschnelle Computer bauen zu können. Die weltweit bedeutendste Ballung solcher Aktivitäten gibt es in Boston. Hier hat man Grosses vor mit den kleinen Teilchen.

Von Peter Hossli

Kurz bleiben die Schuhe am Boden haften. Dann reisst eine kräftige Klebematte jeglichen Schmutz von den Sohlen. Nur wer sauber ist, darf das fensterlose Laboratorium der Firma Nantero betreten. Wissenschaftler tragen staubsichere weisse Overalls mitsamt Haarnetzen. Hinter dickem Glas entwickeln sie in Woburn ausserhalb von Boston die nächste Generation von Halbleitern – aus so genannten Kohlenstoffnanoröhren konstruieren sie NRAM, Nonvolatile Random Access Memory. Das sind Chips, die dereinst sämtliche Speicherarten ersetzen sollen. Ihr Baustoff ist Kohlenstoff, der auf molekularer Ebene verändert worden ist und dadurch neuartige Eigenschaften erhalten hat. Das Potenzial von NRAM ist enorm. Im Nu springen von derartigen Chips gesteuerte Geräte an. Sie benötigen weniger Strom und halten länger als herkömmliche Halbleiter. Bei weitem übertrifft deren Leistung jene von Silizium-Chips, günstiger ist zudem deren Herstellung.

NRAM existiert. Stolz reicht der jugendlich wirkende CEO und Ko-Gründer von Nantero, Greg Schmergel, einen schwarz-goldenen Halbleiter aus Kohlenstoff herum. «Nächstes Jahr gelangt ein erstes NRAM-Produkt auf den Markt», sagt er. Das NRAM-Patent gehört Nantero. Zusätzlich hat die Firma über 80 weitere Patente eingereicht. Bisher hat sie 34 Millionen Dollar an Risikokapital erhalten. Geld, das hauptsächlich in die Entwicklung der Nano-Chips fliesst. Nantero plant nämlich keine Massenproduktion. Die Firma hofft, die Technologie an etablierte Hersteller wie Intel, Infineon oder AMD zu lizenzieren. Bevor steht der Börsengang.

Nantero ist eines von über hundert Unternehmen, die in und um Boston auf Nanotechnologie setzen. Die Firma veranschaulicht das für die Region typische Wechselspiel zwischen wissenschaftlicher Innovation und risikofreudiger Finanzierung. Viele der lokalen Nano-Firmen sind jung und dementsprechend kleine Startups. Hinzu kommen etablierte Unternehmen, die sich gezielt der Schlüsseltechnik des 21. Jahrhunderts öffnen wollen – und in die winzigsten Gefilde von Materie vorstossen.

Zwerg bedeutet das griechische Wort «nano». Zuweilen witzeln Forscher, nano sei ein Verb, das «wir wollen staatliche Forschungsgelder» heisse. Tatsächlich wird das Präfix oft und nicht selten falsch verwendet – von Institutionen und Firmen, die sich Staatszuschüsse erhoffen. Dabei lässt sich die Nanotechnologie klar umschreiben. Eine Definition dreht sich um die Dimension, in der geforscht oder hantiert wird. Ein Nanometer entspricht einem Milliardstel Meter. Von Nanotechnologie ist dann die Rede, sobald im Bereich unter 100 Nanometern etwas fabriziert, modelliert, beobachtet oder verändert wird. Zum Vergleich: Ein rotes Blutkörperchen umfasst rund 7000 Nanometer. Puristen sprechen jedoch nur dann von Nanotechnologie, wenn bei einem Material auf der Ebene der Atome oder der Moleküle Veränderungen vorgenommen werden und sich dadurch bei Materialen neue Eigenschaften bilden. Zudem reden Physiker von Nanotechnologie, wenn bei Systemen oder Apparaten molekulare Kräfte oder die Gesetze der Quantenmechanik spielen.

Da es «endlich Zeit ist, sich mit Nanotechnologie intensiv zu befassen» führte der Head of Investment Services and Product beim Private Banking von Credit Suisse, Arthur Vayloyan, eine Gruppe von Interessierten Anfang September nach Boston. «Nirgendwo sind die wissenschaftlichen Tätigkeiten konzentrierter als in Boston, ist das Klima für Firmengründungen anregender», sagt Vayloyan. Zwar wird auch in Europa und Asien sowie in zahlreichen Entwicklungsländern intensiv geforscht. Die USA ist aber weltweit führend, besagt eine Ende September vom Research Council präsentierte Studie. Hauptgrund sei die breit abgestützte Forschung. Nicht wie anderenorts ausschliesslich der Staat, sondern zusätzlich angesehene Konzerne wie IBM oder Intel sowie Risikokapitalisten tragen Forschung und die Entwicklung. Das wiederum schafft ein Klima mit enormer Risikobereitschaft.

Diese ist nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen. In kurzen Hosen, Ledersandalen, einem zerknitterten T-Shirt und ohne Socken führte Professor Alan Schwartzman die CS-Gruppe durch sein Laboratorium am Massachusetts Institute of Technology (MIT), der wohl angesehensten technischen Hochschule der Welt. Mit hochsensiblen Rastertunnelmikroskopen untersuchen seine Studenten die Beschaffenheit und Eigenschaften durch Nanotechnologie veränderten Materialen. «Zu mir kommen Biologen und Chemiker, Physiker und Ingenieure», sagt Schwartzman, dessen erst zwei Jahre altes Labor ständig ausgebaut wird.

Von solcher Grundlagenforschung gehen die Impulse für den Nano-Boom aus. Über ein Dutzend Universitäten in und um Boston wetteifern um die gescheitesten Köpfe, die in den Bereich zwischen einem und 100 Nanometer vordringen wollen. Dazu gehören die besten Universitäten der Welt. Die Harvard University in Cambridge beheimatet das nationale Center for Nanoscale Systems und errichtet derzeit ein Haus für die winzige Welt. Das benachbarte MIT hat Nanotechnologie zum zentralen Forschungsbereich erklärt. Gründeten MIT-Abgänger in den neunziger Jahren Internet-Firmen, versuchen sie nun im Miniatur-Bereich grosse Gewinne zu erzielen.

Etwa die 2001 aus dem Forschungslaboratorium des MIT hervor gegangene Firma Angstrom Medica in Woburn. Sie ist in der Life Science tätig, dem aussichtsreichsten Bereich der Nanotechnologie. Angstrom-Forscher stellen medizinaltechnische Produkte aus nanotechnologisch veränderten Kalzium-Phosphat-Kristallen her. Es sind synthetische Knochen, die der menschliche Körper besser aufnimmt als bisherige Implantate. Angstrom besitzt das Patent für die «NanOss» genannten Kristalle und hat bisher rund 9 Millionen Dollar an Private-Equity-Finanzierung erhalten. Mit Nanotechnologie könne er synthetische Gebeine bilden «mit denen wir die Eigenschaften von menschlichen Knochen nachahmen», sagt Angstrom Chef Paul Mraz.

Der prominente MIT-Professor Robert Langer amtet als Firmenchef von Accusphere, einer börsenkotierten Firma mit 110 Angestellten. Sie hat ein Verfahren entwickelt, wie medizinische Wirkstoffe in Nanopartikeln verpackt zu schadhaften Zellen geführt werden können – ohne dabei andere Organe zu belasten. Zusätzlich entwickelt die Firma Medikamente für Herzkrankheiten, Asthma und Krebs. Die 1993 gegründet und 2003 an die Börse geführte Firma hat einen Marktwert von rund 100 Millionen Dollar. Allerdings hat Accusphere noch kein nanotechnologisch entwickeltes Medikament auf Markt.

Die seien im grossen Stil frühestens im Jahr 2015 zu erwarten, sagt Dr. Mostafa Analoui, ein eloquenter Forscher, der für den amerikanischen Pharmakonzern Pfizer neue Methoden sucht, um Medikamente zu entwickeln. Er nahm an der CS-Reise teil und legte die Zukunft der Technologie wie Investitionsmöglichkeiten dar. «Obwohl das Potenzial der Nanotechnologie enorm ist, müssen verantwortungsvolle Wissenschaftler übertriebene Hoffnungen dämpfen und die Unterschiede zwischen Science und Fiktion klar kommunizieren», sagte Analoui. Die so genannt niedrig hängenden Nano-Früchte, also rasch zu erwartende Produkte, seien in den Bereichen Diagnostik und bei den Zuführungssystemen von Medikamenten zu erwarten. Bereits jetzt sind vier solcher Zuführungssystemen auf dem Markt. Die Heilung schwerer Gebrechen werde folgen, glaubt er. «Jeden Tag sterben in den USA 3000 Menschen an Herzversagen», so Analoui, «dank Nanotechnologie werden neue Therapieformen entwickelt, die Tausenden das Leben retten wird.»

Vorsicht ist geboten. Noch fehlen Erkenntnisse, welche Wirkungen molekular veränderte Partikel auf den Menschen haben. Vor zwei Jahren publizierte die Versicherungsgesellschaft Swiss Re eine umfassende Studie zu den Risiken von Nanopartikeln – und gab sich «besorgt» über die gesundheitlichen Folgen. Nahe liege etwa die Vermutung, dass das Schadenpotenzial von Kohlenstoffnanoröhren ähnlich sein könnte wie von Asbestfasern. «Jede neue Technologie birgt Risiken», sagt Pfizer-Forscher Mostafa Analoui. Es gebe allerdings reale Gefahren sowie Risiken, die von der Öffentlichkeit zwar wahrgenommen würden aber nicht real seien. Er appelliert an die Wissenschaft. «Wir alle sind verpflichtet, die echten Risiken zu kennen.» Zudem müsste die wissenschaftliche Gemeinschaft Rahmenbedingungen erstellen, die eine sichere Anwendung garantierten. Vor allem Transparenz vermeide, dass der Nanotechnologie dasselbe negative Image zufalle wie der Gentechnologie. «Wir müssen ehrlich sagen, dass uns ein gutes Verständnis der Gefahren bisher fehlt.» Analoui selbst beurteil die Risiken als «geringfügig».

Reichlich zu reden gab in Boston die Frage nach den Investitions-Möglichkeiten. Einig waren sich die Vertreter von Wirtschaft wie Wissenschaft, dass es noch Jahre dauern würde, bis aus der Grundlagenforschung eine grosse Anzahl einträglicher Produkte hervorkommen wird. In zehn Jahren dürften reine Nano-Produkte einen Umsatz von rund 377 Milliarden Dollar erzielen, schätzt Mostafa Analoui, wobei rund 77 Milliarden auf den grössten Sektor Life Science fallen dürften. Eine rasche Entwicklung sei zudem in der Informationstechnologie möglich. «Die Nanotechnologie wird bei IT entscheidend sein», sagte der IBM-Forscher Don Eigler, ein Gigant im Feld der kleinen Dinge. Dem braungebrannten Hobby-Surfer war es 1989 gelungen, aus 35 Xenon-Atomen das IBM-Logo zu gestalten. Er erwartet «phänomenale Fortschritte» bei der Rechnerleistung von Computern und erhofft sich eine «radikale Reduzierung» beim Stromverbrauch. Doch auch er warnte vor allzu übertriebenen Hoffnungen. «Noch ist Silizium der IT-Kaiser, es ist schwierig, den Kaiser zu stürzen.» Investoren riet er, bewusst Firmen zu suchen, die ihre Produkte mit bereits existierenden Werkzeugen herstellen können. «Es muss eine Technologie sein, die sich über Jahre weiter entwickelt.» Nur so seien langfristige Gewinne möglich. «Sonst landet man mit der Nanotechnologie dort, wo keiner sein will: im Höllenreich der Gebrauchsgüter.»

Um das zu verhindern, müssten die Investoren die oft hoch komplexe Technologie genau kennen, gemahnte Pfizer-Forscher Analoui. Zumal bis anhin die historischen Daten fehlten, um den Wert einer Nano-Firma zu berechnen. Sein konkreter Tipp an Anleger: «Von Firmen, bei denen die Forscher das Management stellen, rate ich dringend ab.»