«Sie haben Anrecht auf viel Geld»

Wie Anwälte auf Jagd nach Vioxx-Patienten gehen und gegen Merck gewinnen wollen. Ende September nahm Merck das Rheuma- und Schmerzmittel Vioxx vom Markt. Amerikas Topanwälte bereiten jetzt eine der grössten Schadenersatzklagen der Geschichte vor. Dem Pharmariesen wird das Ende angedroht.

Von Peter Hossli

Die Stimme von Daniel Becnel strotzt vor Selbstvertrauen. «Das ist ein einfacher Fall», sagt der Jurist aus Louisiana im nasalen Cajun-Akzent, «ich könnte ihn schon morgen gewinnen.» Becnel ist der leitende von rund 700 Anwälten, die Vioxx-Hersteller Merck anklagen. Letzte Woche rief er das Juristen-Heer nach Las Vegas, ins Hotel-Casino Venetian. Alle kamen. Während zwei zehnstündigen Sitzungstagen legten sie die Route für den Marsch auf Merck fest. Wie Zocker suchten sie in der Spielerstadt nach einer Strategie, um mit möglichst geringem Einsatz möglichst viel zu holen. «Wir sind organisiert wie ein global operierender Konzern», sagt Becnel. Vier Chefanwälte befehlen, 39 Kanzleien unterstützen sie. «Die Zeiten von David gegen Goliath, wo ein einziger Anwalt gegen eine multinationale Firma auf verlorenem Posten stand, sind vorbei. Wir sind heute weltweit vernetzt und mächtig genug, es mit allen aufzunehmen.»

Ins Visier geraten ist Merck. Ende September stoppte der Pharmariese den Verkauf von Vioxx, ein Schmerz- und Rheumamittel, das ein massiv erhöhtes Infarktrisiko birgt. Zu spät, sagt die amerikanische Nahrungsmittel- und Medikamentenbehörde FDA, die in einer Studie 27000 Todesfälle und zusätzlich 100000 Schlaganfälle oder Infarkte auf Vioxx zurückführt. «Astronomische Zahlen», sagt Becnel und prophezeit freudig: «Es werden noch mehr sein.» Zumal er nicht nur in den USA Kläger suche, sondern «mit Anwälten in Europa und Lateinamerika» verhandle. Zu den 20 Millionen amerikanischer Vioxx-Patienten gesellen sich nämlich noch 60 Millionen internationale.

Längst nicht alle Las-Vegas-Reisenden ziehen dereinst vor Gericht. Kleinere Firmen erstellen oft nur Klägerlisten. Sie kategorisieren Patienten nach «guten» und «weniger guten» und «schlechten» Fällen. Gut sind junge Nichtraucher, schlecht alte unsportliche Raucher. Die Listen gehen an grosse Anwaltsfirmen, die genügend Personal und Ressourcen haben, um zu recherchieren und komplexe Anklageschriften zu verfassen. Rede gewandte Juristen wie Daniel Becnel vertreten die Fälle vor Gericht. Bei einem Verdikt wird die Beute – ein Drittel der Schadenssumme – unter allen Beteiligten aufgeteilt.

Klienten finden sie auf allen Kanälen, per Zeitungsinserat, mittels TV-Werbespots oder Anzeigen im Internet. Auf Dutzenden von Websites mit URLs wie vioxxinjury.net oder vioxxcentral.com melden sich Pillenschlucker. «Nur schwerwiegende Vioxx-Verletzungen» sucht beispielsweise die Vioxx Legal Group. «Hatten Sie einen Herzinfarkt? Nahmen Sie Vioxx? Womöglich haben Sie Anrecht auf viel Geld, rufen Sie an», heisst es unverfroren auf Plakaten in New Yorks Subway.

Geschickt nutzen die Anwälte die Medien. Sie geben freizügig Auskunft, in der Hoffung, Artikel oder Fernsehensberichte ermutigen zusätzliche Vioxx-Patienten zur Klage. Denn: Je mehr Kläger, desto fetter der Fang. Merck schweigt. «Zu laufenden Verfahren nehmen wir nicht Stellung», sagt die Firmensprecherin.

Zwei Tatbestände müssen die Anwälte beweisen. Erstens soll Vioxx tatsächlich Herzinfarkte und Schlaganfälle auslösen. Zweitens soll Merck die ihr bekannten Risiken herunter gespielt haben. Die beklagte Firma reklamiert, erst eine jüngst fertig gestellte Studie hätte die Gefahren offen gelegt. Man hätte schleunigst gehandelt um die Patienten zu beschützen.

Falsch, entgegen die Anwälte und unterstellen Merck, Raffgier führte zum Nichtstun. Das zumindest suggerieren Firmen interne E-Mails sowie unabhängige Studien, eine von der Universität Bern. Seit März 2000 seien die Gefahren bekannt gewesen. «Klar vorhanden» seien Hinweise auf Herzprobleme, schrieb etwa Mercks Forschungschef am 9. März 2000 in einem E-Mail, was er als «Jammer» bezeichnete. Ein Jammer, weil Vioxx Merck jährlich 2,5 Milliarden Dollar einbrachte.

«Nichts spricht für Merck», sagt Klägeranwalt Becnel. «Die internen Dokumente zerstören sie, die Forschungsergebnisse zerstören sie, die Wissenschaftler zerstören sie, die nun aus den Schlupflöchern steigen und aussagen.» Schwierig werde es bloss, einzelne Todesfälle klar Vioxx zuzuordnen. «Bei Toten mit Autopsie geht das problemlos», sagt er. «Bei den anderen öffnen wir die Gräber und holen die Autopsie nach.»

Nicht einmal die Wiederwahl von George W. Bush bereitet ihm Sorgen. Der Präsident hatte mehrmals angekündigt, resolut gegen Schadensersatzklagen vorzugehen. «Am 11. September 2001 starben 3000 Menschen, wegen Vioxx starben 27000», sagt Becnel. «Kein US-Politiker wird es wagen, uns da aufzuhalten.»

Deshalb rät er Merck, rasch den Vergleich zu suchen und den Beispielen von Sulzer Medica und Bayer zu folgen. Becnel war sowohl bei den Klagen wegen den Öl verschmierten Sulzer-Gelenken wie bei der Bayer-Cholesterinpille Baycol leitender Anwalt. «Mit schnellen Vergleichen haben beide Firmen den Kollaps abgewehrt.» Sobald eine Einigung feststand, stiegen deren Aktien. Bayer überlebte. Sulzer Medica konnte verkauft werden.

Über 40 Milliarden Dollar hat Merck bisher an Börsenwert eingebüsst. Top-Forscher wechseln zur Konkurrenz. «Sie verlassen ein sinkendes Schiff», sagt Becnel. «Will das Management den Konzern retten oder zumindest flott für eine Fusion machen, muss es eilig zahlen.» Kämpfe es hingegen gegen jede Klage, «dann gibt es Merck wohl bald nicht mehr».

Zumal die Firma mit nur 650 Millionen Dollar versichert ist. Merrill Lynch beziffert den Vioxx-Schaden aber auf 17,6 Milliarden Dollar, wobei die Bank mit 51000 Fällen rechnet. Andere Analysten halten die Schätzung für Schönfärberei. Becnel erwartet über 100000 Klagen. Präzedenzfälle sprechen gegen Merck. So hatte die Pharmafirma Wyeth 16,6 Milliarden für den schadhaften Diätcocktail Fen-Phen zu entrichten, die bisher grösste Schadenszahlung. Wobei nur sechs Millionen Patienten die Wyeth-Pillen schluckten. Vioxx nahmen weltweit 80 Millionen Patienten. «Zudem», holt Becnel selbstsicher aus, «ist die Vioxx-Klage viel leichter zu gewinnen als Fen-Phen.»