Europas Pharmakonzerne im US-Sturmwind

Die europäische Pharmaindustrie ziehts in die USA, wo alles besser sein soll. Doch dort wird sie von «europäischen Verhältnissen» überrascht: Konsumentenschützer und Politiker machen mobil gegen zu teure Originalprodukte. Die USA gelten als gelobtes Land der Pharmaindustrie. Kein anderer Pillenmarkt ist so gross und so lukrativ. Doch der Wind hat gedreht: Das Wachstum flacht ab, Patente laufen aus, neue Medikamente fehlen. Just in dieser schwierigen Lage wehren sich Konsumenten, Krankenkassen, Politiker und US-Bundesstaaten gegen überrissene Preise.

Von Peter Hossli

Die Stimmung war ausgelassen, denn die Ankündigung – in Anwesenheit von Senator Edward Kennedy – war von Bedeutung: Novartis werde in Cambridge bei Boston ihr neues Forschungshauptquartier aufbauen. Konzernchef Daniel Vasella spricht von einer «Verschiebung des Gravitationszentrums».

Die Kritiker der schweizerischen und europäischen Standortbedingungen fühlten sich bestätigt. Sie geben Preiskontrollen und strengen Auflagen die Schuld am Exodus europäischer Pharmafirmen. Auch Novartis wird nicht müde, in dieses Horn zu blasen. Daniel Vasella winkte wiederholt mit dem Zaunpfahl. Jetzt hat er seine Andeutungen von früher wahrgemacht.

Auch die deutschen Firmen Merck, Boehringer Ingelheim und Altana wollen ihre Investitionen vermehrt nach den USA, dem Fixstern der Pharmaindustrie, ausrichten. Aventis und AstraZeneca haben bereits wichtige Geschäftseinheiten in den weltgrössten Pharmamarkt verlegt, der im Schnitt der letzten fünf Jahre über zwölf Prozent gewachsen ist und damit Europa und Japan in den Schatten stellt.

Doch Novartis und Konsorten handeln vielleicht zu spät, denn der Pharmaindustrie weht in den USA neuerdings ein rauer Wind entgegen. Die Nachricht, wonach der amerikanische Pharmariese Merck seine Umsätze in den letzten drei Jahren künstlich um 12,4 Milliarden Dollar aufgebläht hat, schadet dem Image zusätzlich.

Sogar die Regierung stellt sich gegen die Pharmaindustrie

Pharma-Aktien können nur noch beschränkt als defensive Werte gelten. Denn die Branche muss an zu vielen Fronten kämpfen: Konsumentenschützer, Senioren- und Familienorganisationen, ja ganze Reihen von Bundesstaaten haben von den «überzogenen Preisen» genug. Apotheken und Krankenkassen haben jene aggressiven Anwälte angeheuert, die zuvor die Tabakindustrie in die Schranken wiesen. Politiker drohen Preisreglementierungen und strengere Gesetze an – das überdurchschnittliche Wachstum beruhte primär auf Erhöhungen der Preise, können diese doch bis dato in den USA, anders als in Europa und Japan, praktisch nach Belieben angehoben werden. Selbst an den Universitäten – auch in Boston – regt sich Kritik an den aggressiven Marketingmethoden der Pharmakonzerne. Widerstand gibts auch seitens der Krankenkassen und der Unternehmen, die ihre Mitarbeiter gegen Krankheit versichert haben.

Damit zeichnet sich eine Europäisierung der USA ab – und das just in der Phase, da sich die europäische Pharma mehr und mehr amerikanisiert.

Ashish Singh, Pharma-Analyst bei der Consulting-Firma Bain & Company, spricht von einer «extrem schwierigen Situation». Die Experten der Bank Julius Bär orten gar «ein Klima, das mehr und mehr feindlich» werde. Thomas Sobol von der Anwaltskanzlei Hagens Berman, einer der führenden Pharma-Anwälte der USA, spricht von einer «fundamentalen Änderung»: «Gerichte, Parlamentarier und vor allem Konsumenten haben erkannt, dass die Pharmaindustrie extrem hohe Gewinne erzielt und gleichzeitig etliche Gesetze schwer wiegend verletzt.» Genau wie bei der Tabakindustrie erwartet Sobol in den nächsten Jahren eine weit reichende Debatte über den Sektor. Ahaviah Glaser, Direktorin des Prescription Access Litigation Project (PAL), einer einflussreichen Konsumentenschutzorganisation, drückt sich da lapidar aus: «Die Leute sind wütend.»

Sogar die vermeintlich wirtschaftsfreundliche Regierung von Präsident George W. Bush stemmt sich gegen die Pharmaindustrie. Überraschend empfahl sie Ende Mai dem Supreme Court, im Bundesstaat Maine ein Preiskontrollgesetz für verfassungskonform zu erklären.

Mittlerweile müssen Ärzte hauptsächlich Medikamente verschreiben, die Krankenkassen abgesegnet haben. Um Kosten zu sparen, setzen die Kassen kostengünstigere Nachahmerprodukte (Generika) auf ihre Listen. Mit eklatanten Folgen: Machten 1986 Generika weniger als 25 Prozent der verschriebenen Medikamente aus, ist es nun gut die Hälfte. Der Trend halte an, prophezeit Anwalt Sobol. «Nach den vielen Klagen wird es immer weniger Firmen geben, die Generika vom Markt halten können.» Originalprodukte verlieren innert kürzester Zeit im Schnitt 80 Prozent ihres Umsatzes.

Der Pharmaverband hat inzwischen mit einer Gegenklage auf die Attacken reagiert. Damit möchten sie verhindern, dass die Bundesregierung Reglementierungen einführt. Konkret richtet sich die Klage gegen das aggressive Preiskontrollprogramm Michigans. Der Verband spricht den «Bürokraten und Erbsenzählern» die Kompetenz ab zu entscheiden, welche Arzneien ein günstiges Preis-Leistungs-Verhältnis haben und welche nicht.

Der Zeitpunkt des politischen Umdenkens könnte für die Industrie nicht ungünstiger sein. Denn die Branche kriselt auch wegen hausgemachter Probleme. Angesichts einer Innovationskrise sind die Entwicklungspipelines mehr leer als voll. Lancierte Novartis im vergangenen Jahr das aussichtsreiche Krebsmedikament Gleevec, mangelt es Riesen wie Bristol-Myers Squibb (BMS), Merck, Eli Lilly oder Schering-Plough an zugkräftigen neuen Hits. Doch selbst der Novartis-Chef macht sich Gedanken, wie das Wachstum langfristig gesichert werden kann.

Wurden vor fünf Jahren noch über 50 neue Medikamente jährlich lanciert, waren es im vergangenen Jahr bloss noch halb so viele. Ein Grund dafür ist auch im Umstand zu suchen, dass der Direktionsposten der Zulassungsbehörde FDA seit anderthalb Jahren verwaist ist. «Ohne eine starke Führungspersönlichkeit an ihrer Spitze neigen die Mitarbeiter dazu, besonders risikoscheu zu sein», klagt James Mullen, Chef der Biotechfirma Biogen. Gemäss einer Studie der Tufts University in Massachusetts gibt die Pharmaindustrie heute zweieinhalbmal so viel für die Entwicklung eines neuen Medikamentes aus wie Mitte der Achtzigerjahre, d. h. rund 800 Millionen Dollar.

«Die Unternehmen können ihre hohen Forschungsausgaben nicht mehr rechtfertigen», sagt Singh, «die Resultate fehlen.» Frühestens in fünf, eher in zehn Jahren dürfte die neuartige Genforschung (Genomik) fruchten und vermarktbare Medikamente abwerfen. «Bis dann durchlebt die Industrie eine harte Zeit», prophezeit Fred Hassan, Chef des amerikanischen Pharmakonzerns Pharmacia.

In ihrer Bedrängnis lassen sich die Unternehmen zunehmend auf teure Lizenzübernahmen ein. So bezahlte Bristol-Myers Squibb zwei Milliarden Dollar im Voraus an die New Yorker Firma ImClone für das angeblich viel versprechende Krebsmittel Erbitux. Doch die US-Gesundheitsbehörde FDA weigerte sich, das Mittel auch nur für eine allfällige Zulassung in Betracht zu ziehen. ImClone ist mittlerweile vom Börsenkomet zur Lachnummer verkommen und BMS zum Übernahmekandidaten.

Der Senat soll Parallelimporte aus Kanada zulassen

Zehn Gouverneure – Demokraten wie Republikaner – schlossen im März einen Pakt, der die Pharmaindustrie daran hindern soll, ihre auslaufenden Patente mit Pseudo-Innovationen zu verlängern. Sie wollen die Pharmaindustrie zu Anhörungen vor den Kongress zitieren. Der Senator Charles Schumer ist einer von ihnen. Im Handelsausschuss des Senats prangerte er den Missbrauch des Patentrechts an: «Bald sind wir so weit, dass sie nur noch die Farbe ihrer Pillen ändern.»

«Amtsinhaber beider Parteien, die sich nicht für billigere Medikamente einsetzen, bekommen es im November an der Urne zu spüren», prophezeit der demokratische Senator von Georgia, Zell Miller. Deshalb warten im Senat mehrere Gesetze auf ihre Verabschiedung. Eines würde es Apothekern erlauben, in den USA hergestellte Pulver und Pillen aus Kanada zu reimportieren. Auf der anderen Seite der Grenze kosten dieselben Arzneien im Schnitt 40 Prozent weniger. Die Pharmaindustrie scheut solche Parallelimporte wie der Teufel das Weihwasser. Bisher waren sie eine europäische Spezialität.

Die Wut der Senioren
Besondere Sorge bereitet der Pharmaindustrie in den USA das Kundensegment, das am meisten Medikamente kauft – Seniorinnen und Senioren. Die haben genug von überhöhten Preisen.

Ende Mai schloss sich die American Association of Retired Persons (AARP) drei Kartellrechtsklagen an, die den Medikamentenherstellern vorwerfen, Generika nicht auf dem Markt zuzulassen, Preise künstlich hochzuhalten und den Wettbewerb auszuschalten. Die amerikanischen Senioren schlucken 40 Prozent der Pillen, die auf den Markt kommen. Im Übrigen berät und unterstützt die 35 Millionen Mitglieder zählende Seniorenorganisation das Prescription Access Litigation Project (PAL). Diese Konsumentenschutzorganisation setzt sich vehement für geringere Kosten im US-Gesundheitswesen ein. Die Ausgaben für Markenmedikamente haben in den USA massiv zugenommen, von 40 Milliarden Dollar im Jahr 1990 auf 145 Milliarden (Stand März 2002, auf der Basis Einzelhandelspreise). Schreitet diese Entwicklung voran, dürften sich die Kosten bis im Jahr 2010 auf 414 Milliarden erhöht haben.

Die finanzstarke Altenorganisation lobbyiert deshalb vermehrt im US-Kongress und klärt ihre Mitglieder darüber auf, wie sie zu günstigen Medikamenten kommen können – etwa über Internetanbieter oder in Kanada, wo die Arzneien im Schnitt 40 Prozent billiger sind.

Im Bestreben, den Druck abzubauen, sind Pharmahersteller dazu übergegangen – so auch Novartis -, den weniger begüterten Senioren Rabattkarten zu verteilen.