Wie Gurken und Tomaten

Das Kino funktioniert wie der Gemüsehandel. Jede Jahreszeit hat ihre eigenen Produkte.

Von Peter Hossli

Wer im März 1998 den Oscar in der Kategorie «Bester Film» gewinnt, steht schon heute fest. Der Film heisst «Amistad», wurde von Steven Spielberg inszeniert und handelt vom Sklavenhandel im 19. Jahrhundert. Anthony Hopkins ist der Star.

Für die Prämierung oder den kommerziellen Erfolg des Films ist all das nebensächlich. Weit mehr ins Gewicht fallen die Startdaten von «Amistad». In den USA gelangt der Film an Weihnachten 1997 ins Kino, in Europa erlebt er an den Berliner Filmfestspielen im Februar 1998 seine Premiere. Wenig später läuft er in regulären europäischen Lichtspieltheatern an. Im März werden dann in Los Angeles den Schauspielern und dem Regisseur von «Amistad» etliche Oscars überreicht.

Spielberg setzt auf ein erprobtes Modell. Mit diesem Kalendarium wurden in den vergangenen Jahren die meisten Oscars gewonnen. Jüngste Beispiele: «The English Patient», «Schindler’s List», «The Silence of the Lambs» oder «Rain Man».

Nicht nur im Rennen um die begehrte Auszeichnung läuft alles nach jährlich wiederkehrenden Plänen: Das gesamte Kinogeschäft tickt präziser als manche Schweizer Uhr. Regelmässige Zyklen bestimmen die Art der Filme und den Zeitpunkt der Lancierung. Oft wissen die Produzenten schon Jahre im Voraus, an welchem Tag ihre Werke wo anlaufen.

Wie beim Gemüsehandel werden zu jeder Jahreszeit exakt die gleichen Produkte auf den Markt geworfen. Mit einem Unterschied: Während man heimische Tomaten, Gurken oder Kartoffeln dann isst, wenn sie reif sind, fertigen clevere Marketingstrategen ihre massgeschneiderten Filme gemäss den Ansprüchen des Publikums.

Diese variieren nach Aussentemperaturen und Weltregionen.

Richtungweisend sind die USA, mit einem Volumen von rund zehn Milliarden Dollar jährlich der grösste Markt für Kinofilme. Nirgendwo prägt der Kalender das Programm mehr als in Amerika:

Im Sommer, wenn die amerikanischen Schulen während Monaten geschlossen bleiben und die Arbeitslust sinkt, triumphieren auf den Leinwänden Tempo, Action und Stars, nicht aber Sex. Schliesslich sollen Kind und Kegel die Kinos füllen. Mit horrenden Produktionsbudgets wird dann in so genannten High-Concept-Filmen (FACTS 28/1996) stets dieselbe Geschichte erzählt: Ein unerschrockener, geistig agiler, aber schlecht gerüsteter Held besiegt dank Cleverness antiamerikanische und antidemokratische Kräfte. Heuer sind extravagante Technologie, laute Explosionen und auswechselbare Storys in «Con Air», «Batman & Robin» oder «The Lost World: Jurassic Park» zu sehen. Berühmte Namen wie Sandra Bullock, Arnold Schwarzenegger oder Nicolas Cage zieren die Plakatwände.

Im Herbst, wenn die Blätter fallen und die Stadtneurotiker sich für den Winter rüsten, steigt im US-Kino das Niveau und die Anzahl der ausländischen Filme. Differenzierte Geschichten, die Psyche und Seele ausloten, beleben den abkühlenden und aufnahmebereiten Geist. Gleichzeitig nehmen die Einstellungslängen zu, fallen die Hüllen und an den Kinokassen die Einspielergebnisse. Zu sehen sind die Gewinner des Festivals von Cannes. Europäisches Kino. Nackte Haut. Schwermut. Politik. Etwas Gewalt. Wenn die Trauben reifen, erhalten alteingesessene Autorenfilmer freie Leinwände. In US-Kinos starten diesen Herbst Wim Wenders’ «The End of Violence» oder Atom Egoyans «The Sweet Hereafter».

Zu Weihnachten lenken dann rührselige Beziehungs- und Behindertenfilme oder aufwendige Historiendramen vom Christbaum ab. Noch im alten Jahr starten die Favoriten für den Oscar. Geschichtsträchtiges wie «Schindler’s List», Autisten wie in «Rain Man» oder verkohlte Romantiker wie in «The English Patient» stehen kurz vor Jahresende hoch im Kurs. Besonderes Augenmerk liegt diesen Dezember auf Spielbergs «Amistad», Robert Redfords Literaturverfilmung «The Horse Whisperer» und auf James Camerons Untergangsdrama «Titanic». Die drei Filme gelten als Favoriten bei der Oscar-Verteilung. In der Schweiz starten alle zwischen Januar und Februar 1998.

In den tristen Wintermonaten des neuen Jahres schliesslich unterhalten jeweils weniger aufwendige B-Action-Movies mit zweitklassigen Stars oder plumpe Komödien das Kinopublikum. Exemplarisch hierfür stehen «Metro» mit Eddie Murphy und «Liar, Liar» mit Jim Carrey. Das Publikum aber freut sich bereits auf die nächsten Sommerfilme.

Neben dieser Saisonware leuchten drei weitere Fixsterne am Kinohimmel: Der neue Bond, der neue Disney und der neue Woody Allen.

Der Herbst ist die bevorzugte Jahreszeit des New Yorker Klarinettisten.

Die animierten Märchen aus dem Hause Disney starten in den USA jeweils im Sommer, in Europa im November.

Für seine Majestät leistet 007 im Dezember Dienst. Erstmals weltweit zur selben Zeit. «Tomorrow Never Dies», der neue Bond, startet in Paris am 17. Dezember, in Detroit und Chur am 19. Dezember und in Australien und Estland einen Tag nach Weihnachten.

James Bond unterstreicht die Globalisierung des Filmgeschäftes. Noch vor wenigen Jahren lagen die Startdaten in Amerika und im Rest der Welt Monate auseinander. Heute fallen sie zusammen.

Allerorts jederzeit dasselbe.

Die Action-Filme des Sommers gehorchen genauso den Rahmenbedingungen der globalen Strategien. Zwei Wochen nach dem US-Start gelangte das Gefängnisdrama «Con Air» in der Schweiz in die Kinos. «Speed 2» oder «Jurassic Park 2» laufen diesseits und jenseits des Atlantiks.

Die Welt rückt zusammen. Die Globalisierung beschleunigt das Geldverdienen. Satellitenfernsehen oder Internet können überall parallel empfangen werden und sind ein beliebtes Tummelfeld des Zielpublikums der Bilderhändler: Jugendliche zwischen 16 und 25. Sie erfahren via elektronische Medien früh, in welchen Filmen ihre Helden auftreten. Europäische Zeitschriften und Zeitungen berichten schon während der US-Starts über die neuen Filme mit den weltweit bekannten Stars. «Spiegel», «Stern» und FACTS druckten Bilder und vermeldeten das fulminante US-Einspielergebnis von Spielbergs neustem «Jurassic Park». Niemand möchte nach solchen Erfolgsmeldungen ein halbes Jahr auf den Europastart warten.

An den grossen europäischen Festivals in Berlin, Cannes und Venedig veranstalten die marktbeherrschenden US-Verleihfirmen alljährlich Sondervorstellungen ihrer Produkte und Interviewtermine mit Schauspielerinnen und Schauspielern. So war im Mai an der Côte d’Azur die ganze Weltpresse zugegen, als «Con Air» uraufgeführt wurde. Noch Monate auf die Lancierung eines so vermarkteten Films zu warten, macht wenig Sinn.

Da die ganze Welt die Lingua americana des Kinos versteht und US-Firmen weltweit agieren, bringt eine globale Lancierung nur Vorteil: Man spart Werbegelder, erhält mehr kostenlosen Platz im Fernsehen und in den Printmedien.

Längst verschwunden ist in Europa die Hors Saison. Früher liefen in den heissen Sommermonaten noch Reprisen, alte Schmöker mit Robert Mitchum oder James Stewart. Seit die amerikanischen Verleihfirmen in fast jedem europäischen Land einen Ableger haben, erproben sie das US-Modell – lautes Kino in den Sommermonaten – auch hier. Warum, so ihre Überlegung, sollten Schweizer, Deutsche oder Finnen die heisse Zeit nicht ebenfalls in klimatisierten Kinos verbringen? Schliesslich sind Stallone, Schwarzenegger, Batman oder Spielbergs Dinosaurier hüben wie drüben Markenartikel.

Die Zahlen geben ihnen Recht. «Sommerfilme spielen bei uns gleichviel ein wie Produkte, die im Herbst starten», sagt der Schweizer Buena-Vista-Chef Roger Crotti.

Jede Jahreszeit hat ihren Preis und ihren Marktwert. Die Kosten für einen Film, der im Sommer startet, bewegen sich zwischen 80 und 200 Millionen Dollar. Summen, die meistens leicht wieder eingespielt werden. In Rekordzeit fliessen zwischen Mai und Ende August drei Viertel des Jahresumsatzes in die Kinokassen.

Im Herbst flauen die Erwartungen ab. Hollywood legt eine Verschnaufpause ein und überlässt das Feld zwischenzeitlich billig produzierten europäischen oder unabhängigen US-Filmen.

Mit Thanksgiving Ende November und der Weihnacht wachsen die kommerziellen Erwartungen. Nun beginnt die schwierigste und – je nach Erfolg der Kampagne – einträglichste Jagd nach Zuschauern und Dollars: das Oscar-Rennen. Schauspieler mit Format agieren in den Hauptrollen. Garanten für Qualität führen Regie. Die Produzenten hoffen auf gute Kritiken, die die Filme ins neue Jahr begleiten und von den Oscar-Juroren gelesen werden. Geht ihre Rechnung auf, laufen ihre Filme rechtzeitig zur Oscar-Verteilung in Europa an. Dank der Oscar-Berichterstattung erhalten sie zusätzliche Publizität. Gewinnt ein Film einen oder mehrere der begehrten goldenen Statuetten, kann er nochmals so viel kassieren wie bis anhin. Weil die Kosten dieser anspruchsvollen Werke oft geringer ausfallen als diejenigen der Action-Spektakel des Sommers, sind die Gewinne der Oscar-Filme meistens besonders satt. Geld, das für die neuen Filme der neuen Saison dringend benötigt wird. Nur so kann das Jahr wieder von vorne anfangen.

Immer dasselbe

Die Festivals in Cannes, Venedig und Berlin zeigen stets gleichartige Filme.

Filmfestivals sind die Schaufenster für die Bilder-Händler. Hier kann man sehen, was alsbald in den Kinos läuft. Wer regelmässig nach Berlin, Cannes oder Venedig fährt, wird feststellen, dass dort alljährlich gleichartige Filme zu sehen sind.

Jeweils im Februar, wenn in Hollywood die Oscar-Nominationen bekannt gegeben werden, laufen im Wettbewerb der Berlinale neben europäischen Koproduktionen die eben nominierten US-Filme. Die Berlinale ist so auch Werbeplattform für Filme, die kurz nach dem Festival in die Kinos kommen.

In Cannes (Mai), dem wichtigsten Festival, wiederholt sich das Prozedere alljährlich. Um die goldene Palme streiten sich ein bis zwei Filme aus Hollywood (dieses Jahr: «L. A. Confidential», «Absolut Power»), ein von Frankreich finanzierter Strohhüttenfilm aus Afrika, zwei bis drei chinesische Filme, die jüngs- ten Werke grosser Autoren wie Wim Wenders oder Mike Leigh, zwei französische Produktionen, ein Iraner und ein Japaner. Die Cannes-Filme laufen in den US- und in den europäischen Kinos üblicherweise erst im Herbst nach dem Festival an.

In Venedig schliesslich (September) tauchen erstmals Filme auf, die als Oscar-Anwärter gehandelt werden. Martin Scorsese und Woody Allen stellen üblicherweise ihre Filme in der Lagunenstadt vor.

Frühjahr USA
In den tristen Wintermonaten unterhalten billig produzierte B-Action-Movies oder plumpe Komödien das Publikum. Zweitklassige Stars wie Eddie Murphy oder Jim Carrey agieren in familiengerechten Filmen. In Europa gelangen sie zwischen April und Mai in die Kinos.

Sommer USA
Im Sommer füllen diesseits und jenseits des Atlantiks horrend teure Actionfilme die Kinokassen. Merkmale: Namhafte Stars, agile Helden besiegen hoch gerüstete Schurken, Spezialeffekte bestimmten die Geschichten. Weil Kind und Kegel ins Kino kommen sollen, fehlt der Sex.

Herbst USA
Wenn der Wein reift, wird es im US-Kino ruhiger und anspruchsvoller. Nun stehen ausländische Filme oder unabhängige US-Produktionen auf dem Programm. Die Hüllen der Akteure und die Einspielergebnisse fallen. Autorenfilmer wie Wim Wenders oder Atom Egoyan zeigen ihre Werke.

Weihnachten USA
Mit Thanksgiving und Weihnachten steigt die Qualität im grossen US- Kino. Mit rührseligen Behindertenfilmen oder Historiendramen beginnt das Oscar-Rennen. Favoriten 1997: «Titanic» von James Cameron und Spielbergs «Amistad». Europastart dieser Filme: Januar bis April.

Disney
Seit Disney 1989 den Trickfilm wieder als lukratives Geschäft entdeckt hat, gelangt alljährlich ein animiertes Märchen in die Kinos. In den USA im Sommer, in Europa im Herbst. Heuer kämpft der starke Grieche Herkules gegen böse Mächte.

Woody Allen
Seit Jahren schon kündigt Stadtneurotiker Woody Allen seine neuen Filme als «Fall Projects», Herbstprojekte, an. Nach der Premiere in Venedig gelangen sie dann regelmässig im Oktober in die US-Kinos. In Europa folgen sie im April.

James Bond
Wie nichts anderes verdeutlicht der Agent ihrer Majestät die Globalisierung der Filmwirtschaft. Der neuste Bond gelangt im Dezember 1997 weltweit zum selben Zeitpunkt in die Kinos. Überall wird gleichzeitg für dasselbe Produkt geworben.