«Ein Lediger weiss auch nicht, welche Frau er heiraten wird»

Seit fast 80 Jahren ist Irving Kahn an der Börse tätig. An Kursprognosen mag er nicht mehr glauben. Der Vermögensverwalter kam 1928 an die Börse. Seither schimpft er, der Dow Jones sei zu hoch. Derzeit setzt der 101-jährige Doyen der Wall Street auf europäische und afrikanische Werte.

Von Peter Hossli (Text) und Charly Kurz (Fotos)

irving_kahn.jpgNew York jubelt, denn Banken feiern Rekordgewinne, und fast täglich erreichen die Börsen ein neues Allzeithoch. Nur Irving Kahn, 101, grämt sich. Leicht geknickt sitzt er auf einem Lederstuhl im sonnendurchfluteten Sitzungsraum von Kahn Brothers, einem Investmenthaus an der Madison Avenue in New York. «Der Markt ist zu hoch», sagt der Chairman leise, aber deutlich. «Es gibt an der Wall Street mehr Pferdeärsche als Pferde.» Gierige Spekulanten, die wenig vom Anlegen verstehen würden, trieben die Kurse an.

Es ist eine Haltung, die er seit bald 80 Jahren vertritt. Seinen ersten Handel tätigte er im Sommer 1929, einen Leerverkauf der Kupfergesellschaft Magma Copper. Ein paar Monate später krachte es an der Börse. Es war der schwarze Freitag. Kahn kassierte ab.

Seither hat er Millionen verdient. Wie viele, verrät er nicht. «Ich bin kein armer Mann», sagt er verlegen, «ich liefere dem Fiskus viel ab, mein Einkommen ist noch immer hoch.» Schliesslich arbeite er fünf Tage wöchentlich, von früh bis spät. Nicht wegen des Geldes, sagt er. «Geld hat nur eine Funktion, es stoppt Kriege.» Wie denn? «Menschen bekriegen sich wegen des Glaubens. Haben sie genug Geld, führen sie keinen Krieg.» Er zupft ein Vergrösserungsglas aus dem Hemd und beäugt die Visitenkarte der Besucher. «Das, was ich abends esse, ist mir wichtiger als mein Kontostand.»

Kahn, das dichte weisse Kopfhaar nach hinten gekämmt, setzt auf fassbare Werte. Er ist ein klassischer Value-Investor. Er sucht ständig nach unterbewerteten Firmen und Sektoren, kauft Aktien bei tiefem Stand, hält sie lange und denkt langfristig. Er lernte bei Benjamin Graham, dem einstigen Professor an der Columbia University und famosen Erfinder des wertorientierten Anlagens. Grahams bester Schüler war der Grossinvestor Warren Buffett.

irving_thomas_kahn.jpgKahn investiert nicht aufgrund von Erwartungen, er analysiert die neusten Zahlen von einzelnen Firmen. «Die Zukunft lässt sich nicht voraussagen», sagt er. Er habe demnach keine Ahnung, ob der Dow Jones steigen oder fallen werde. «Ein Lediger weiss auch nicht, welche Frau er heiraten wird.» Einen Aktientipp lässt er sich nicht entlocken. «Warum soll ich das kostenlos tun?», fragt er. «Meine Kunden zahlen mir ein Prozent Kommission.»

Die Kahn Brothers, eine Firma, die Irving 1978 mit seinen Söhnen Thomas und Alan gegründet hat, verwaltet rund 800 Millionen Dollar an privaten und institutionellen Geldern. Sie nimmt Klienten auf, die ihr Risiko minimieren wollen, aber bereit sind, drei bis fünf Jahre auf eine erste Rendite zu warten.

Sachbücher bilden, Romane sind reine Zeitverschwendung

Schnell verdientes Geld ist daher nicht seine Sache. Kahn mag krisenfeste Branchen. «Alle essen, alle nutzen Energie, alle werden krank», sagt er. Er würde nie Geld in Fabrikanten von Luxusgütern investieren. Allzu schlecht fährt er damit nicht. Zwischen 1994 und 2006 erzielte Kahn Brothers einen durchschnittlichen Jahresertrag von 16,07 Prozent, der S-&-P-500-Index legte im Schnitt um 11,39 Prozent zu.

Zuweilen fährt er noch besser. Vor vier Jahren kaufte Kahn Aktien von Monsanto. Es faszinierte ihn, wie der Agrarkonzern mit den neusten wissenschaftlichen Errungenschaften den Ernteertrag vermehren kann. «Wenn eine neue Technologie die Produktivität steigert und die Kosten senkt, investiere ich», sagt der 101-jährige Anleger. Der Kurs der Monsanto-Aktien hat sich verfünffacht. Kahn ist nicht bullish, er mag europäische Aktien. «Sie sind billiger als amerikanische, da liegt mehr Wert vergraben, zudem sind Europäer meist smarter als Amerikaner, Intelligenz schafft Werte.»

Grosse Zahnlücken zeugen vom Preis des Alters. Sein Gesicht ist sonst fleischig, die Augen sind wach. Kahn ist sportlich gekleidet und trägt ein hellblaues Hemd, dazu eine beige Krawatte mit geradem Ende. Sie macht ihn jünger, als er ist. Beim Gehen lässt er sich stützen. Mental ist er topfit. Fakten kann er präzise darstellen. Er liest täglich die «Financial Times» – die beste Zeitung für Anleger -, das «Wall Street Journal» und wöchentlich den «Economist». Rund 6000 Sachbücher stehen in seiner Bibliothek, aber kein einziger Roman. «Es ist reine Zeitverschwendung, sich mit Fiktion zu befassen», sagt er. «Nur wer Bescheid weiss, ist ein guter Anleger.»

Vielleicht weil er einst das College abbrach, lernt er unaufhörlich und lässt er sich von neuer Technologie einnehmen. Statt über Vergangenes zu reden, redet er über Nanotechnologie. «Sie ist vielversprechend, allerdings gibt es nur wenige gute Firmen, die damit Geld verdienen.»

Die Tür geht auf, Thomas Kahn, der Präsident von Kahn Brothers und Irvings Sohn, betritt den Raum. «Was erzählt das Orakel heute?», witzelt der 64-Jährige. Seine laute Stimme füllt den Raum. Das Wichtigste, was er von seinem Vater gelernt habe, sei, nie gierig und immer diszipliniert zu sein. Irving habe die Kinder gezielt gefördert. Ein Tennisprofi habe sie auf dem Court angewiesen, eine Pariserin habe gekocht, und beim Essen hätten sie nur Französisch sprechen können.

Begeistert von Wasser- und Infrastrukturanlagen

Der Sohn schildert detailliert die Anlagestrategie des Unternehmens. «Wir sind der Igel, nicht der Hase, wir starten langsam, haben am Schluss aber meist die Nase vorne.» Thomas redet, Irving schliesst die Augen und gönnt sich ein Nickerchen. Kaum hat sich der Sohn verabschiedet, erwacht der Vater.

Mit Verve spricht er nun über das Potenzial von Wasseraktien, von denen er etliche in seinem Portfolio, das 40 Titel umfasst, hält. «Sie legen langsam zu, aber sie legen zu», sagt er und preist das kühle Nass als Erdöl der Zukunft. «Saudi-Arabien ist reich, weil das Land Öl hat. Wasser hat es nicht. Wer Wasser entsalzen kann, wird reich.»

Dem risikobewussten Investor gefallen ohnehin die Anbieter von Infrastruktur, besonders in den Schwellenländern. Doch er setzt nicht vornehmlich auf China oder Indien, er will Neuland betreten. «Afrika braucht alles, neue Strassen, neue Häuser, neue Kraftwerke.» Da wachse ein Markt heran, der über Jahre hinweg hohe Renditen abwerfen werde. Er mag besonders Südafrika und Senegal. «Afrika wird noch zu meinen Lebzeiten aufblühen.»

Das kann durchaus sein, denn die einst aus Polen eingewanderten Kahns altern gut. Irvings grosse Schwester ist 105, sein kleiner Bruder 98, eine andere Schwester starb, verfrüht, 101-jährig. Mediziner attestieren der Familie hohe Werte des guten Cholesterins. Kahn erklärt es anders: «Ich gönne mir öfter Hamburger mit Pommes frites.»