Journalistische Geschichten sind gut, wenn sie aktuelle Themen mit Menschen plausibel darstellen. Möglich werden solche Geschichten durch persönliche Begegnungen. Als Reporter bin ich jenen Menschen zu grossem Dank verpflichtet, die mir Zeit geben und Fragen beantworten.
Eine Auswahl von Begegnungen im Jahr 2009:
Auf eine Zigarre mit Marc Rich
Der Financier Marc Rich nennt die Ehe mit Gisela Rossi in einem Buch seinen zweitgrössten Fehler. Der Milliardär lud mich zum Lunch in sein Chalet nach St. Moritz ein. Dort zeigte er Reue. «Den Kaffee trinken wir im Wohnzimmer», sagt Rich. Für die Haushälterin ein Zeichen, ihm eine Siglo II zu bringen, eine kräftige kubanische Cohiba-Zigarre. Drei bis vier Cohibas rauche er täglich, sagt er. Zigarrenschneider und das rosa Feuerzeug sind aus Plastik. «Wollen Sie auch eine?», fragt er. «Schon, aber ich sollte mitschreiben, was Sie sagen.» «Sie können sicher beides, rauchen und arbeiten.» Sein Charme obsiegt. «Okay, ich nehme eine.» Mehr
In Köln mit Ausnahmepilot Chesley Sullenberger
Ein Ausnahmekönner sieht so aus: schütteres weisses Haar, schlaksiger Rumpf, schläfrige Augen. Der Händedruck ist schlaff. Er heisst Chesley Sullenberger, ist 58 und Pilot. Gänse verklemmten kurz nach dem Start vom New Yorker Flughafen La Guardia seine beiden Triebwerke. Er landete den Airbus auf einem Fluss. Alle Insassen überlebten. Das Kunststück vollbrachte er am 15. Januar 2009 um 15.30 Uhr auf dem Hudson, einem mächtigen Strom, der entlang der Häuserschluchten New Yorks in den Atlantik mündet. Ein knappes Jahr später empfängt Sullenberger in Köln Reporter. Seine Autobiografie «Man muss kein Held sein» erschien eben auf Deutsch. «Hallo, ich bin Sully», stellt er sich mit seinem kindlichen Kosenamen vor. Hat er den Rhein gesehen? «Ja, es wäre um einiges schwieriger, darauf zu landen», gesteht er. «Der Rhein ist schmaler als der Hudson und es hat hier viel mehr Brücken.» Mehr
Auf Besuch bei Urs und Ansta in Namibia
An der Wäscheleine hängen feuchte Hosen und Hemden, am riesigen Himmel aufquellende Wolken. Es ist heiss. Eine Hündin stillt Welpen. Daneben gedeihen in einem Beet Spinat und Schnittlauch, Basilikum und Peperoni. «Alles, was im afrikanischen Sand so wächst», sagt Urs Gabathuler, ein blonder, blauäugiger Maurer aus der Schweiz, der hier in der nordnamibischen Stadt Outjo daheim ist. Er baut sein Haus wieder auf, das letzten Mai niederbrannte. Aus dem Innern des Rohbaus dringen Stimmen von Arbeitern. Gabathuler, der Shorts und T-Shirt trägt, führt den Reporter in einen feuchten Raum. «Hier ist alles passiert», sagt er und spricht die unfassbare Tat an, bevor er dazu befragt wird. Am 4. Mai frühmorgens stieg ein Angestellter Gabathulers ein, tötete die beiden Söhne des Schweizers sowie seine Schwägerin. Nach der Bluttat zündete er das Haus an. Am selben Tag fasste die Polizei den Mörder. Wie können sie wieder bauen, wo alles geschah? Wie können sie leben, wo die Kinder starben? «Ob ich das jemals wieder kann, weiss ich nicht», sagt Urs. Er baut hier, weil die Versicherung sonst nicht bezahlt hätte. «Wir ziehen erst einmal ein – wenn wir es nicht aushalten, gehen wir woanders hin.» Mehr
In Bern mit UBS-Verwaltungsratspräsident Kaspar Villger
Als Hoffnungsträger übernahm der ehemalige Finanzminister Kaspar Villiger (68) Mitte April das Präsidium des Verwaltungsrats der angeschlagenen Crossbank UBS. Beim Interview in einem Büro in Bern bat der Verwaltungsratspräsident der Grossbank UBS die Öffentlichkeit um Geduld. Künftig stehe der Kunde, nicht der Bonus im Zentrum. «Herr Villiger, was ist das Beste am Vergleich zwischen den USA und der Schweiz?» Kaspar Villiger: Aus Sicht der UBS, dass der Mühlenstein an unserem Hals weg ist. Aus staatsbürgerlicher Sicht, dass alles rechtsstaatlich gelöst wird. «Die Schweiz jubelt, die USA jubeln. Das macht misstrauisch.» Villiger: Kompromisse sind gut, wenn beide Parteien Hurra rufen oder sich beklagen. Hauptsache, sie sagen das Gleiche. Die US-Steuerbehörde hat ein Interesse, den Vergleich propagandistisch zu nutzen, um Druck zu machen. Der Druck richtet sich aber nicht mehr gegen die UBS. Mehr
In der Villa von Igor Olenicoff
Zwei oxidierte Kupfertore trennen die von Palmen gesäumte Quartierstrasse von der mediterran anmutenden Villa an der Ostküste Floridas. Ratternd öffnet sich die rechte der grünlichen Pforten. Galant winkt Igor Olenicoff den Mietwagen der Reporter auf den Vorplatz des Hauses in Lighthouse Point. Vom Strandstädtchen zwischen Fort Lauderdale und West Palm Beach fahren Millionäre ihre Motorjachten aus. Olenicoff, 67, ist längst kein Millionär mehr. Auf 1,7 Milliarden Dollar schätzt Forbes das Vermögen des Immobilientycoons, der rund 11 000 Mietwohnungen in Kalifornien, Florida und Nevada besitzt. «Ich habe viel mehr Geld», sagt Olenicoff. Wie viel? Das sagt er nicht. Er ist client number one im Steuerstreit zwischen der UBS und den USA. Mattblaue Augen leuchten aus dem verschmitzten Gesicht. Die obersten zwei Knöpfe des kleinkarierten Hemds sind offen. Er trinkt Kaffee. Die Wände der Villa sind geschmückt mit Ölgemälden. «Bilder, die es nicht auf meine Jacht oder in das Haus in Kalifornien geschafft haben», sagt der Kunstsammler. Mehr
Mit Barack Obama an der Amtseinführung
Los geht es um fünf Uhr früh, eine Stunde später als der Concierge am Abend vor dem geschichtsträchtigen Eid riet. «Zwei Millionen fahren per Bahn in die Stadt, das dauert», warnte er. «Ziehen Sie sich warm an.» Minus zehn Grad Celsius zeigt das Thermometer um fünf. Zwei Paar Socken sind angezogen, ebenso Thermounterwäsche, über Hemd und Anzug eine Daunenjacke, dazu Schal und Wollmütze. Zum Frühstück gibt es Müesliriegel. Unverhofft strahlt vor dem Hotelzimmer das hoffnungsvolle Gesicht von Barack Obama. «Ein historischer Tag», titelt «USA Today», das Blatt liegt vor der Tür. Selbstsicher und einnehmend lacht der neue Präsident von einer Fotografie herab. «Heute übernimmt Obama die Macht», schreibt die Zeitung. Mehr
Auf der Ranch von Bushs Nachbar
Gross war die Euphorie im 705-Seelen-Kaff Crawford, als mit George W. Bush einer der Ihren zum Präsidenten gewählt wurde. Die hoffnungsvollen Träume von einst sind geplatzt, Ernüchterung hat sich breitgemacht. Eine Diagnose vor Ort. An der Primarschule trafen sich Billy Lu und Keith Lynch, beide 71. Seit 52 Jahren sind sie verheiratet, haben drei Kinder, fünf Enkel. Vier Meilen vom Stadtzentrum entfernt, an der Prairie Chapel Road, halten sie Schafen, Ziegen und Pferde. Just stoppen ein Minivan und zwei Geländewagen. «Wo geht es zum Präsident?», röhrt der vorderste Fahrer. «Geradeaus, drei Meilen», sagt Lynch und winkt gefällig. «Zu sehen gibt es nichts.» Ihr Idyll platzte als Bush einzog, sagen die Lynchs, Nachbarn des Präsidenten. Fuhren früher täglich drei Autos vorbei, seien es zeitweise Hunderte gewesen. Ständig hämmerten Helikopter über ihr Dach. Keith zog Autos von Fahrern aus den Gräben, die enge Strassen nicht gewohnt sind. «Hoffentlich hört das nun auf, Verkehr macht mürbe.» Mehr
Das Jahr, das war – alle Artikel von 2009
Fotos: Sebastian Derungs, Per-Anders Pettersson, Charly Kurz, Stefan Falke