Es war kein Wunder

Dem amerikanischen Piloten Chesley Sullen­berger gelang, was vor ihm keiner schaffte: Er landete einen Jet auf einem Fluss. Alle 155 Passagiere überlebten. Jetzt redet er darüber.

Von Peter Hossli

Ein Ausnahmekönner sieht so aus: schütteres weisses Haar, schlaksiger Rumpf, schläfrige Augen. Der Händedruck ist schlaff.

Er heisst Chesley Sullenberger, ist 58 und Pilot. Gänse verklemmten kurz nach dem Start vom New Yorker Flughafen La Guardia seine beiden Triebwerke. Er landete den Airbus auf einem Fluss. Alle Insassen überlebten.

Damit gelang Sullenberger die erste erfolgreiche Notwasserung der zivilen Luftfahrt.

Das Kunststück vollbrachte er am 15. Januar 2009 um 15.30 Uhr auf dem Hudson, einem mächtigen Strom, der entlang der Häuserschluchten New Yorks in den Atlantik mündet.

Ein knappes Jahr später empfängt Sullenberger in Köln Reporter. Seine Autobiografie «Man muss kein Held sein» erschien eben auf Deutsch. «Hallo, ich bin Sully», stellt er sich mit seinem kindlichen Kosenamen vor.

Hat er den Rhein gesehen? «Ja, es wäre um einiges schwieriger, darauf zu landen», gesteht er. «Der Rhein ist schmaler als der Hudson und es hat hier viel mehr Brücken.»

An jenem kalten Tag in New York war ideales Flugwetter mit wenig Wind. Um 15.25 Uhr hob Sullenbergers Airbus 320 mit der US-Airways-Flugnummer 1549 von Startbahn vier ab. Eine Stunde später würde er in Charlotte landen. Von dort ginge er heim nach Kalifornien.

Sein Flieger stieg innert zwei Minuten auf eine Flughöhe von tausend Metern. Er flog über der Bronx, als um 15.27 Uhr elf Sekunden ein Gänseschwarm in die Motoren drosch.

15492Sullenberger spürte einen dumpfen Schlag, dann «die Vibration, welche beim Zermalmen der Vögel entsteht», erzählt er. «Die Triebwerke waren kaputt.» Ein fürchterlicher Gestank drang ins Cockpit. Nach Fisch roch es nicht. Es sind Gänse, war dem Pilot gleich klar. «Gänse essen keinen Fisch. Hätte es nach Fisch gestunken, wären es Möwen gewesen.»

Die Schubkraft verkümmerte, der Flieger verlor sofort an Geschwindigkeit. Ein «überwältigendes Gefühl» befiel Sully. «Ich spürte intensivsten körperlichen Stress.» Der einstige Militärpilot wusste: «Das ist die schwierigste Situation meines Lebens – damit alle durchkommen, muss ich Extremes leisten.»

Dreissig Jahre lang hatte er Zivilflugzeuge pilotiert. Eine Million Menschen sicher ans Ziel geflogen. Jede Maschineschadlos auf eine Landebahn gesetzt. «Das kann nicht wahr sein», dachte er in den Schrecksekunden. «So was passiert mir doch nicht.»

Er übernahm das Steuer von Copilot Jeff Skiles. Der hatte den Flieger gestartet und bis zum Vogeleinschlag pilotiert. Sullenberger war der erfahrenere Pilot. Zudem lag die Stadt links vom Cockpit. Links sass er, der Kapitän.

15493Blitzschnell musste er ein hochkomplexes Problem erfassen, durchdenken und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. «Es war eine Mischung aus Intellekt, Instinkt und Erfahrung», sagt er. Eine Minute lang hatte er vor, nach La Guardia zurückzufliegen oder den Flughafen Teterboro in New Jersey anzupeilen. Vielleicht würde er den ­Airbus und somit 145 Millionen Dollar ja retten können.

Er verwarf die Idee. Für eine echte Landung fehlte der Schub. «Als diese Option wegfiel, war ich freier und willig, das Flugzeug zu opfern, um die Passagiere zu retten.»

Dieser «veränderte Bewusstseinszustand», wie er sagt, habe es enorm erleichtert, die ihm verbliebene, einzige Alternative mental vollständig zu akzeptieren: eine Notwasserung.

«Der Fluss war meine letzte Chance.»

Fünf Minuten und 43 Sekunden dauerte der Flug insgesamt. Drei Minuten davon hatte er keinerlei Antrieb. Wie schaffte es Sullenberger, keine Fehler zu begehen? «Ich hab einfach alles andere ausgeblendet.»

Sagte ihm der Fluglotse etwas, das nichts nützte, ignorierte er es. «Es ist meine natürliche Begabung, zeitgleich Details und das grosse Ganze zu überblicken. Ich sehe den Wald und weiss immer, welcher Baum wichtig ist.»

Zeit, die Passagiere zu informieren, hatte er kaum. Kurz vor der Landung redete er zu ihnen. «Hier spricht der Kapitän, nehmen Sie die Schutzhaltung für eine Notlandung ein!»

Womöglich verhinderte das Schweigen Panik an Bord, glaubt er. Zumal der Flug ruhig ablief. Turbulenzen gab es keine. Perfekt segelte die Maschine durch die Luft. «Die Passagiere merkten, dass jemand die Kontrolle hatte», sagt Sullenberger. «Da blieben sie gelassen.»

Flusswasser spritzte ans Cockpitfenster, sonst verlief die Landung makellos. Kurz hielten Copilot Skiles und er inne. «Wir schauten einander an und sagten simultan: ‹Well, das war weniger schlimm, als ich dachte.› Es war ein Zugeständnis, dass wir das schwierigste Problem des Tages gelöst hatten. Einen Moment lang entwich die Anspannung.»

15491Sullenberger war gelungen, was er beabsichtigt hatte: sein Flugzeug aufs Wasser zu setzen.
Erfüllt war sein Tagwerk noch nicht. «Es gab nichts zu feiern. Noch waren 155 Menschen an Bord, die lebend an Land mussten.»

Die Evakuierung verlief ordentlich. «Es war ein Vorteil, viele vife Geschäftsleute im Flieger zu haben», sagt der Pilot. Vielflieger, die genau wussten, was in einem Flugzeug passieren kann. Sie bildeten kleine Teams und begannen, einander beim Aussteigen zu helfen.

Zuletzt ging Sullenberger zweimal durch die Kabine. Niemand sollte zurückbleiben.

Weiterhin jagte Adrenalin durch seinen unterkühlten Körper. «Die Anspannung löste sich erst, als ich wusste, dass alle überlebt hatten, also vier Stunden nach der Landung.»

Vom Fluss rief er seine Frau an. Danach den Operations Manager der Airline, Bob Haney. «Hier ist Bob», sagte der. «Hier ist Kapitän Sullenberger.» «Ich kann jetzt nicht sprechen», wimmelte Haney ihn ab. «Da schwimmt gerade ein Flugzeug von uns auf dem Hudson.» «Ich weiss, ich bin dessen Pilot», sagte Sullenberger. Haney verschlug es die Sprache.

15494Alle Gedanken ans Scheitern hatte er abgeschüttelt. «Ich habe nie gedacht, an diesem Tag zu sterben.» Obwohl er weiss: Bei Wasserungen bersten Flugzeuge meist in tausend Teile.

Wie im September 1998 eine MD-11 der Swissair, die vor dem kanadischen Halifax ins Meer krachte. «Ich war mir sicher, mein Flugzeug erfolgreich im Fluss zu landen.» Zumal die Umstände anders waren als beim Swissair-Jet, der ja nachts abstürzte. Er hingegen flog am Tag. Der Atlantik vor Halifax peitschte wild. «Mein Hudson war flach.»

Zur Ausnahmetat befähigten ihn «Disziplin und Übung», glaubt Sullenberger. Er sei nicht «Captain Cool», wie New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg meinte. «Mein Leben war eine ideale Vorbereitung.» Er lese viel, sei neugierig, überlege sich, wie er sein Leben führen soll. Stets wollte er ein Spezialist werden. «Das Warum ist mir wichtig.»

Sein texanisches Naturell half ihm, «Regeln für eine Notlage zu finden, für die es keine Regeln gibt», sagt er. «Amerikaner können Ordnung in jedes Chaos tragen.»

Nie vergisst er, dass er selbst zu den 155 Überlebenden von Flug 1549 gehört. «Wir alle haben eine zweite Chance erhalten, um darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist, um Nähe zu jenen Menschen zu finden, die wir lieben; eine zweite Chance, die von uns gesteckten Ziele zu erreichen.»

15496Die Notwasserung erhob den «analytischen Gewohnheitsmenschen», wie er sagt, zum globalen Superstar. Präsident Bush rief ihn an. Barack Obama lud ihn zur Amtseinführung ein. Er warf Bälle an Baseballspielen und palaverte in Talkshows. «Dabei bin ich der Gleiche wie am 14. Januar, jetzt wissen einfach mehr Menschen, wer ich bin.» Er lernte öffentlich zu reden, tut es gerne und kann es gut. «Es gibt aber Tage, da will ich wieder anonym sein.»

Zumal er seit dem Husarenritt kaum mehr fliegt. Wehmut belegt seine Stimme, wenn er erzählt, nun ein Advokat für Piloten zu sein.

Er gab auf, was er liebte. Statt zu fliegen, erklärt er, wie Fliegen noch sicherer sein kann.
«Es gibt weniger Unfälle als je zuvor», sagt er. «Aber heute sind sie einzigartiger, es ist daher schwierig zu sagen, wie der nächste Unfall ablaufen wird.» Ein guter Pilot müsse «jederzeit mit völlig Unerwartetem fertigwerden».

Es genüge nicht, Sicherheitsregeln zu befolgen. Er selbst ignorierte etliche davon.

15498Sullenberger ist der Star einer Branche, die leidet. Seit dem 11. September 2001 sank sein Lohn um 40 Prozent. Es reichte kaum, um seine Familie zu ernähren. Deshalb verpachtete er Land und betrieb nebenher eine eigene Firma. Um zwei Drittel kürzte US Airways seine Pension. Auf Flügen ass er mitgebrachte Brötchen. «In den Fünfziger- und Sechzigerjahren lag der Status von Piloten knapp unterhalb jenem der Astronauten», sagt Sullenberger. «Jetzt stehen wir eine Stufe über Buschauffeuren, allerdings bekommen die eine bessere Pension.»

Nun will er den Berufsstand beflügeln. «Es ist ein wichtiger Beruf, er verdient Respekt.» Respekt, den er mit der spektakulären Landung errang. Ein Held sei er deswegen nicht, betont Sullenberger. «Ein Held ist jemand, der bewusst Risiken eingeht, um andere zu retten. Ich habe das nicht gewählt, es wurde mir aufgebürdet. Meine Crew und ich arbeiteten ausgezeichnet, aber Helden sind wir keine.»

Ein Wunder habe er nicht vollbracht, sagt Sullenberger und widerspricht vehement Pressetiteln wie «Miracle on the Hudson», welche bunte Blätter weltweit setzten. Er hatte Wetterglück. Tage später trieb Eis auf dem Hudson.

15495Ansonsten machte er einfach alles richtig.

Er weiss, wie sehr sich die Welt damals Helden wie Wunder gewünscht hatte. Die Wirtschaft war abgesackt. Amerika blickte auf acht Jahre Bush zurück. Die 9/11, zwei teure Kriege, hohe Staatsschulden und viele Arbeitslose gebracht hatten. «Die Landung zeigte, dass wir Menschen noch in der Lage sind, Gutes zu tun.»

15497Deshalb schrieb er darüber ein Buch. Zudem wollte er den genauen Ablauf der Ereignisse festhalten und den tausenden Unbekannten, die ihm Briefe schickten, Danke sagen.

Es ist ein packendes Buch, halb Biografie, halb Kampf ums Überleben. Trotz dem bekannten Happy End ist es bis zuletzt mitreissend.

Sullenberger hatte Berner Vorfahren namens Sollberger. Er wuchs in Texas auf, träumte als Bub vom Fliegen, diente in der US-Flugwaffe und wurde mit 28 Zivilpilot. Die Frau, die er liebte, wollte ihn erst nicht. Später konnte das Paar keine eigenen Kinder bekommen. Es adoptierte zwei Mädchen, jeweils im Geburtssaal.

Sein Witz ist trocken und selbstentlarvend. Er schildert, wie Gattin Lorrie und First Lady Michelle Obama über die lauten Schnarchgewohnheiten ihrer beiden Gatten lästern.

hossli_sullenbergerBestechend hoch ist Sullys IQ. An der Schule gehörte er dem Lateinerklub an. Warum wurde er Pilot? «Ich hätte nichts anderes tun können.» Ihn packte bei der Fliegerei «das Wunder der Wissenschaft, die Schönheit der Mathematik, die Präzision der Technik», sagt Sullenberger. «Und die Freiheit der Lüfte.»

Bereits beim ersten Flug, mit 16, fühlte er sich «unabhängig und frei», sagt er. «Ich war Herr über Maschine und Luftraum. Das verlieh mir ein Gefühl von Freiheit und Selbstsicherheit, das ich auf der Erde nie erlebte.»

Eine letzte Frage? «Klar», sagt Sullenberger. Würden Sie es nochmals schaffen? «Meine Notwasserung glückte, da die Umstände mir entgegenkamen. Erhalte ich eine ähnliche Sachlage, dann schaffe ich das nochmals.»