Von Peter Hossli (Text) und Per-Anders Pettersson (Fotos)
An der Wäscheleine hängen feuchte Hosen und Hemden, am riesigen Himmel aufquellende Wolken. Es ist heiss. Eine Hündin stillt Welpen. Daneben gedeihen in einem Beet Spinat und Schnittlauch, Basilikum und Peperoni. «Alles, was im afrikanischen Sand so wächst», sagt Urs Gabathuler, ein blonder, blauäugiger Maurer aus der Schweiz, der hier in der nordnamibischen Stadt Outjo daheim ist.
Er baut sein Haus wieder auf, das letzten Mai niederbrannte. Aus dem Innern des Rohbaus dringen Stimmen von Arbeitern. Gabathuler, der Shorts und T-Shirt trägt, führt den Reporter in einen feuchten Raum. «Hier ist alles passiert», sagt er und spricht die unfassbare Tat an, bevor er dazu befragt wird.
Hier im hinteren Teil des Hauses lag das Kinderzimmer. Am 4. Mai frühmorgens stieg ein Angestellter Gabathulers ein, tötete die beiden Söhne des Schweizers sowie seine Schwägerin. Eine im sechsten Monat schwangere Frau richtete er derart zu, dass sie ihr Kind verlor. Nach der Bluttat zündete er das Haus an. Am selben Tag fasste die Polizei den Mörder.
Urs und seine Frau Ansta arbeiteten an jenem Wochenende in einem nahegelegenen Hotel. Als das Paar sich am Freitag von den Kindern verabschiedete, hatte es eine wunderbare Familie, ein schmuckes Haus, ein Geschäft, ein glückliches Leben. Als die beiden am Montag zurückkamen, hatten sie nichts mehr.
Drei mächtige Betonsäulen tragen das Gerüst des neuen Dachs. Wie können sie wieder bauen, wo alles geschah? Wie können sie leben, wo die Kinder starben? «Ob ich das jemals wieder kann, weiss ich nicht», sagt Urs. Er baut hier, weil die Versicherung sonst nicht bezahlt hätte. «Wir ziehen erst einmal ein – wenn wir es nicht aushalten, gehen wir woanders hin.»
Diese Geschichte beginnt vor sieben Jahren in Johannesburg. Nach Südafrika zieht es Gabathuler im Februar 2002. Er mag die Schweiz nicht, wenn sie kalt ist.
Dabei ist er in den Alpen aufgewachsen, im Dörfchen Schiers im Prättigau. Seine Eltern betreiben ein Architekturbüro. Eine Firma, die der Sohn übernehmen sollte. Doch der wollte lieber draussen werken als drinnen sitzen, mit den Händen anpacken statt am Reissbrett entwerfen. Er absolvierte eine Maurerlehre, kam rasch voran, wurde Bauführer.
Im Winter friert der Bergler, die Mentalität der Schweizer ist ihm zu engstirnig. Mit fünfzehn wusste er bereits, dass er mal auswandern will. Er hat den richtigen Beruf dafür. Handwerker braucht es immer und überall. Er geht auf Montage in Thailand und Indien. Ein Schweizer Unternehmer überträgt ihm 2002 die Bauführung in seiner südafrikanischen Firma.
Dort lernt er die Köchin kennen. Sie heisst Ansta, gart Steaks so würzig, kocht Kartoffeln so schmackhaft, wie Urs sie noch nie gekostet hat. Ihr Gesicht ist warm, die liebevollen Augen funkeln, ihr Lächeln betört. Sie hat dunkle Haut und Haarzöpfchen. Urs verliebt sich.
Ansta ist Namibierin. Sie ist ausserhalb von Outjo auf einem Bauernhof aufgewachsen, ging in eine katholische Schule, arbeitete sich hoch von der Putzfrau zur Köchin und zur Buchhalterin. Zuletzt führte sie eine Lodge namens Bergplaas. Das Hotel liegt 21 Kilometer von Outjo entfernt und gehört dem Schweizer, für den Urs arbeitet. Er schickt Ansta nach Südafrika.
Dort fällt ihr der blonde Maurer mit den verträumten blauen Augen auf. Nur etwas gefällt ihr nicht: Er raucht viel zu viel.
Urs und Ansta sind ab März 2002 ein Paar. Im September ziehen sie in die Schweiz, leben in Schiers. Sie ist erstaunt, wie wenig Schwarze es hier gibt. Beim Einkaufen starren sie alle an. Eines Tages berührt in der Waschküche eine alte Frau ihre Haut. Später, als das Paar in Namibia wohnt, wollen Kinder die helle Haut und das Haar von Urs anfassen.
Am 20. August 2003 heiraten Ansta und Urs auf dem Schierser Standesamt. Sie lernt Deutsch und nimmt eine Stelle als Kaltspeiseköchin im Hotel Alpina an, ein moderner Bau beim Bahnhof. Desserts richtet sie, Salate, Fleisch- und Käseplatten. Ihre Chefs fluchen oft, wie ihr auffällt. Bei der Familie von Urs fühlt sie sich wohl. «Sie lieben mich bedingungslos, geben mir nie das Gefühl, anders zu sein.»
Ansta mag die Schweiz, den Schnee, die kalten Winter. Es stört sie nicht, wenn Fremde sie fragen, wer sie adoptiert habe oder wann die Ferien enden und sie nach Afrika zurückgehe.
Gehen will Urs. Auf Ferienreisen nach Namibia verliebt er sich in den grossen Himmel, das weite leere Land, das fischreiche Meer. All das hat die Schweiz nicht. Die afrikanischen Clanstrukturen beeindrucken ihn. 300 Verwandte feiern im Januar 2005 in Outjo ein namibisches Hochzeitsfest für Ansta und Urs. Es dauert zwei Nächte und drei Tage und beginnt mit dem Schlachten einer Kuh. Auf deren Innereien tanzen die Gäste, welche das Rindvieh bis auf die Knochen verspeisen. Zuletzt übergiessen sie die Braut und zwei ledige Cousinen mit Bauchfett. Das soll Glück bringen.
Urs weiss nach dem Fest: Hier kann er leben. Er löst seine Pensionskasse auf. Ende November 2005 wandert das Paar mit vier Koffern aus. Ansta ist sechs Monate schwanger.
Sie fliegen nach Windhoek, der Hauptstadt der ehemals deutschen Kolonie. Vom Flughafen führt eine 380 Kilometer lange Strasse durch Windhoek und zwei Kleinstädte nach Outjo. Am Strassenrand stehen rostbraune Termitenhügel. Hungrige Wildschweine grasen. Hügel und trockene Bäche tragen deutsche Namen. Menschen hat es ausserhalb der kleinen Städte kaum. Namibia ist nach der Mongolei das am dünnsten besiedelte Land der Welt.
6400 Einwohner zählt Outjo. 5000 davon l¬eben in von Schwarzen bewohnten Wellblechsiedlungen am Stadtrand, die in Namibia «Location» heissen. Banken und Tankstellen säumen die Hauptstrasse. Es hat zwei Supermärkte, drei Wechselstuben, ein paar Touristenshops.
Outjo ist ein Durchgangsort. Reisende kaufen Wasser und Benzin, lassen den Landrover für die Safari flicken, ruhen vor Abenteuern aus. Hundert Kilometer entfernt liegt derEto¬sha-Nationalpark, wo Löwen, Zebras, Elefanten und Giraffen die Savannen bewandern.
Outjo ist auch eine Stadt, wo Schwarz und Weiss seit Jahrhunderten getrennt leben. Die kontrolliert wird von Buren, den weissen Südafrikanern, die im 17. Jahrhundert von Holland aus das südliche Afrika besiedelten. Noch vor zwanzig Jahren konnten Schwarze in Outjo grund- und folgenlos geschlagen und getreten werden. Um 20 Uhr mussten sie in der Location sein, sonst peitschten weisse Grobiane sie heim. Weissbrot und weissen Zucker durften Schwarze nicht kaufen.
Apartheid gibt es in Namibia seit der Unabhängigkeit im Jahr 1990 nicht mehr. Überwunden ist sie aber noch nicht. Die Schwarzen leben ärmlich in der Location, die Weissen auf grossen Höfen. Der Bürgermeister ist schwarz. Die wirtschaftliche Macht obliegt den Weissen. Ihnen gehören die Tankstellen und Banken, die Apotheke, Supermärkte, die Hotels.
Tagsüber verachten Weisse die Schwarzen. Nachts stellen sie in der Location schwarzen Frauen nach, machen Versprechungen, zeugen Kinder, die sie dann im Stich lassen. Wie die schwarzen Männer, die die Frauen verlassen, wenn sie schwanger sind. Es sind in Outjo daher die Frauen, die das Haus bestellen, die Kinder grossziehen, morgens vom Hügel der Location zur Arbeit runtersteigen.
Hier in Outjo lassen sich die Gabathulers nieder. Als Urs sieht, wie nachlässig in Namibia gebaut wird, denkt er, das kann ich besser und effizienter. Er gründet ein Baugeschäft und nennt es Gobo’s Builders. Gobo war sein Kosename in der Schule. Er entwirft Häuser, mauert, besorgt das Sanitäre und Elektrische. «Swiss Quality, Namibian Prices», lautet das Motto, gut und günstig. Ansta führt die Buchhaltung. Zeitweilig beschäftigen die beiden 25 Leute. Es sind Schwarze, die es schätzen, von Urs etwas lernen zu können. Sie sagen, er zahle sie gut und behandle sie fair.
Ansta und Urs haben Erfolg. Sie erwerben Land, zwei Autos, bauen ein Haus.
Am 29. März 2006 kommt ihr Sohn zur Welt, mitten in der Froschsaison. Um sieben Uhr abends setzen bei Ansta die Wehen ein. Auf dem Spitalboden hüpfen Frösche. Kurz nach zehn ist der Bub da. «Er sah süss aus und war riesig», sagt die Mutter. Ein echter Brocken, 3,9 Kilogramm schwer. «Es war unglaublich schön, ihn in den Armen zu halten.»
Urs besteht auf einem afrikanischen Namen, seine Mutter und Ansta wollen einen europäischen. Sie einigen sich auf Leon Ndele. Löwe und «weiser Mann», was Ndele in Zulu bedeutet. Fortan rufen ihn alle Ndele.
Er entwickelt sich prächtig, ist kräftig, kann mit zehn Monaten gehen. Ein aufgeweckter Bub, «dickköpfig wie die Mutter», sagt Urs. «Ja, er war dickköpfig», sagt Ansta, «wie sein Vater.» Die beiden reden Hochdeutsch. Erzählen, wie Ndele Deutsch und Englisch verstand, wie er von den Nachbarskindern die namibischen Sprachen Damara und Herero lernte und sie spielend unterscheiden konnte. Wie er kleine und grosse Autos mochte und der Vater ihn auf den Bau mitnahm. «Für ihn wars der schönste Sandkasten der Welt», sagt Urs.
Ndele ist einjährig, als er mit seinen Eltern in die Schweiz reist. Erstmals sieht er Schnee, isst die Flocken, die vom Himmel in seinen Mund fallen. Vier Wochen verwöhnen die Grosseltern ihn gnadenlos, sagt Urs.
Ansta wird ein zweites Mal schwanger. Ndele küsst immer wieder den Bauch der Mutter, ist mit dem Baby zärtlich, bevor es da ist.
Simon Nandume ist ein Christkind. Per Kaiserschnitt kommt er am 25. Dezember 2008 zur Welt, wiegt vier Kilogramm und ist so weiss wie sein Vater. «Meine Tanten waren schockiert, wie hell er war», sagt Ansta.
Ndele liebt den Bruder. Ist er mal eifersüchtig, packt ihn Urs ins Auto. «Auf der Baustelle war sein Leben wieder in Ordnung.»
Am 4. Mai steht in Namibia alles still. Das Land begeht den Cassinga Day. Am 4. Mai 1978 massakrierten südafrikanische Soldaten nahe der angolanischen Stadt Cassinga 600 namibische Freiheitskämpfer.
Dieses Jahr fällt der Feiertag auf einen Montag. Zwei deutsche Entwicklungshelfer nutzen das verlängerte Wochenende für einen Kurzurlaub. Sie buchen die Bergplaas-Lodge, wo Ansta für sie kocht. Da Urs die Deutschen kennt und sie mag, geht er mit. Er freut sich auf ein Wochenende mit Frau ohne Kinder.Anstas Schwester Bertina, 23, und deren Freundin Butelesi, 19, betreuen die Buben.
Am Freitag fährt das Ehepaar weg. Sie telefonieren täglich. Ndele erzählt, was er spielt, was er erlebt. Am Sonntag fährt Urs nochmals nach Outjo, um etwas zu holen. Er besucht die Kinder. Alles ist okay. Am Sonntagabend um sieben telefoniert Ansta ein letztes Mal mit Ndele. Er schaue Zeichentrickfilme, sagt er. «Morgen kommen wir heim, ich freue mich», sagt sie.
Ansta kann nicht einschlafen und bittet Urs, die Tür abzuschliessen. «Ich hab Angst», sagt sie. «Du brauchst dich nicht zu fürchten, ich bin hier.» Eng umschlungen schlafen sie ein.
Um vier weckt sie ein Anruf. Es ist Anstas Tante. «Euer Haus brennt», sagt sie. Ansta denkt, das sei ein makabrer Witz. Makabre Witze gehören zum namibischen Alltag. Als sie merkt, dass es stimmt, schreit sie – erst stumm, dann laut. Einer der Gäste fährt Ansta und Urs nach Outjo. Auf der Fahrt telefoniert sie ständig. Einmal heisst es, die Kinder seien wohlauf, dann, die Schwester liege tot im Garten.
Ansta ruft den Freund ihrer Schwester Bertina an. Ernestus, den alle Bouti nennen, ist bei Urs Vorarbeiter. Er war am Wochenende bei Bertina und den Kindern. Niemand nimmt ab. Sie ruft nochmals an, hinterlässt eine Nachricht. «Geh zum Haus, etwas ist passiert, schau nach den Buben, Bertina, Butelesi.»
Noch weiss sie nicht, dass sie den Telefonbeantworter eines Mörders bespricht.
Gegen 5 Uhr früh kommen sie beim Haus an. Nasser Rauch steigt auf. Die Feuerwehr ist da, die Polizei, Hunderte von Schaulustigen. Frauen kreischen. Männer stehen fassungslos da. Die Polizei dirigiert das Auto mit Urs und Ansta zum Spital. Dorthin, wo Ndele inmitten von Hunderten Fröschen zur Welt kam.
Das Paar, das noch immer nicht weiss, was passiert ist und wo die Kinder sind, erhält keine Informationen. Es erhält Beruhigungsmittel.
Wieder stellt Ansta die Nummer von Ernestus ein. Jemand nimmt das Telefon ab, atmet schwer, sagt nichts, hängt auf. Erneut wählt sie die Nummer. «Bouti, Bouti, wo bist du? Wo sind die Kinder?» Er schweigt.
Drei Stunden nachdem sie im Spital angekommen sind, besteht Gewissheit. Die Kinder und Bertina sind tot. «Richtig begriffen haben wir das erst ein paar Tage später», sagt Ansta.
Zur selben Zeit, als Fahnder im versengten Haus die menschlichen Überreste bergen, greift die Polizei zehn Kilometer südlich von Outjo den mutmasslichen Mörder auf. Als er erfährt, eine der Frauen habe überlebt und ihn identifiziert, legt er ein Geständnis ab.
Kinder hat der Kindermörder keine. Er ist 39 Jahre alt, ein Bauarbeiter, zuletzt angestellt im Betrieb von Urs. Ein ruhiger Mann, der seine Arbeit tut und wenig redet. Er fällt nie auf. Er trinkt nicht. Urs hat ihn vor zweieinhalb Jahren kennengelernt, als er einen suchte, der Gipsdecken hängen kann. Bald merkte er: Bouti kann noch viel mehr. Er beförderte ihn.
Butelesi ist dünn. Auf dem linken Arm hat sie eine lange Narbe. Das klassisch schöne Gesicht mit den hohen Wangenknochen ist traurig. Eine dünne Goldkette ziert den schlanken Hals. Sie sitzt in einem Restaurant an der Hauptstrasse von Outjo, knabbert Pizza, nippt an einer Cola. Sie hat Hunger, aber keinen Appetit.
Als Einzige hat sie das abscheuliche Verbrechen gesehen. Und sie hat es überlebt – mit mehr als zehn Stichwunden. Ihr ungeborenes Kind starb. Sie lag zwei Monate im Koma und magerte von fünfzig auf dreissig Kilo ab.
Sie spricht leise, wirkt gebrochen. Ihre Sätze sind kurz. Den Mann, der zwei Kinder und ihre Freundin tötete, nennt sie «er». «Die Kinder waren hübsch», sagt sie. «Es waren gute Kinder, Ndele war fröhlich und redete viel.»
Am Freitag spielte Butelesi mit Ndele im Garten Fussball. Am Samstag kam «er» vorbei, brachte Butter und Brot für ein gemeinsames Frühstück mit. Danach kickte «er» mit Ndele. «Wie immer» sei er gewesen, sagt sie. Bevor er ging, fragte er, was er zum Abendessen bringen solle. «Fleisch», sagte ihm Bertina.
Er bringt es nie. Am Sonntag spielen die Kinder erneut im Garten. Am Abend schauen sie fern. Ohne zu murren, gehen sie um acht ins Bett. Ndele schläft im Kinderzimmer, Nandume auf einer Matratze im Elternzimmer. Er trinkt nachts noch einen Schoppen und soll dabei den Bruder nicht wecken. Bertina und Butelesi schauen einen Film. Um zehn schlafen sie in der Stube ein.
Babyschreie wecken sie. Ernestus ist durch ein Fenster eingedrungen. Zuerst erdolcht er Nandume. Bertina sieht im Elternzimmer das Baby und den Eindringling. Sie schreit ihn an. Er sticht sie ab. Butelesi flieht. Kommt nicht weit. Die Türen und die Fenster sind mit Kindersicherungen versehen.
Ernestus fasst sie, sticht ihr in den Po, in den Bauch, in die Arme. Sie stellt sich tot. Bertina flieht in den Garten. Er eilt ihr nach, sticht, 19 Mal. Bis sie tot ist.
Butelesi schafft es, sich hinter dem Haus zu verstecken. Sie hört, wie der Mörder ins Haus zurückkehrt und sich über Ndele hermacht. Hört die Schreie des Buben. Irgendwie flieht sie in ein nahes Haus. Fällt zu Boden.
Zwei Monate liegt sie im Spital im Koma. Als sie erwacht, fasst sich an den Bauch. Ihr Baby, ein Mädchen, ist nicht mehr da.
Sah sie den Täter? «Er trug dunkle Kleider, aber keine Maske», sagt sie. «Ich erkannte sein Gesicht.» – «Er wirkte normal, nicht wütend.» – «Er hatte ein einziges Messer.» – «Die Klinge war lang.» – «Er war ganz still.» – «Er sagte nichts zu Bertina, nichts zu den Kindern.» – «Er stach absichtlich in meinen Bauch.»
Butelesi sieht nicht, wie Ernestus einen Kanister aus dem Schuppen holt, Benzin ausgiesst und mit einem Feuerzeug von Urs entzündet. Das Metalldach erzeugt einen Hitzestau mit Temperaturen gegen 1400 Grad, sagen Forensiker. Das Haus wird zur Feuersäule.
Riesig ist die Wut in Outjo. Keiner mag hinnehmen, dass die Kinder der beliebten Gabathulers sterben mussten. Frauen demonstrieren vor dem Gefängnis. Ein Lynchmob will den Mörder herauszerren und selber richten. Vor dem Supermarkt trifft der Polizeiinspektor den deutschen Hotelier. «Willi, wir haben ihn.» – «Gut, fahr ihn ins Feld, buddele ihn ein», sagt der Hotelier. Der Polizist schweigt.
Ein Hotel gewährt Urs und Ansta Kost und Logis, im Supermarkt können sie gratis einkaufen. Weisse wie Schwarze sammeln Geld für sie, die nichts mehr haben. Kein Dach und kein Bett. Keine Kleider. Fotos sind verbrannt, die Alben der Kinder, das Video, auf dem die ersten Schritte von Ndele festgehalten sind.
Konnten sie überhaupt etwas beerdigen? Gesehen haben sie die sterblichen Überreste nie, sagt Urs. Auf dem Boden des Hauses sah er allein Meuchelspuren, die Umrisse der Kinder. Daher weiss er, wo sie zuletzt lagen.
Die Polizei fand nur die verbrannten Körper der Kinder. Die Leichen gelangten für gerichtsmedizinische Tests nach Windhoek. Beide starben durch Messerstiche, sagen forensische Experten. «Für uns ist es wichtig, die Gewissheit zu haben, dass die Buben nicht im Feuer erstickten und nur kurz leiden mussten», sagt Urs.
Über Trauer zu reden, ist schwierig, sie zu beschreiben oder nachzuvollziehen, fast unmöglich. «Nichts bringt meine Kinder zurück», sagt Urs. Er verspüre «allgegenwärtige, tiefe Schmerzen», die nichts mit dem Mörder zu tun haben. «Ich hasse ihn nicht. Ich vergebe ihm nicht. Ich verspüre ihm gegenüber gar nichts.»
Wer Kinder hat, überlegt sich, was er tun würde, wenn jemand sie tötet. Bei den meisten Menschen bleibt diese Frage zum Glück hypothetisch. «Hätte ich ihn auf der Flucht er¬wischt, hätte ich ihn wohl umgebracht», sagt Urs. Doch die Polizei fasst ihn. Die Möglichkeit der Rache entschwindet.
Bis sie wieder kommt. Tage nach der Tat treffen sich die Eltern mit Polizistinnen auf einer entlegenen Wiese. Unverhohlen fragen die Frauen: «Sollen wir Bouti abknallen?» Passiert es im Polizeiposten, wurde er auf der Flucht erschossen. «Es wird keine Zeugen geben, die was anderes behaupten», sagen sie.
Und? Geriet er in Versuchung, den Mörder töten zu lassen? «Spinnsch?!», widerfährt es Urs. «Daran habe ich keine Sekunde gedacht. Nie.»
Zumindest nicht spontan. «Es ist eine ziemlich schräge Situation, wenn dir die Polizei anbietet, einem Mord zuzustimmen.» «Sicher, wir hätten Ruhe gehabt.» Urs will einen Prozess, ein öffentliches Verhör, ein rechtskräftiges Urteil. Und: «Ich will wissen, warum er es getan hat.» Lebenslänglich soll er im Gefängnis schmoren. Das ist unangenehmer als ein rascher Tod. Sollte er fliehen oder vorzeitig rauskommen, würde Urs ihn wohl umbringen lassen. «Das ist in Namibia kein Problem.»
Ansta wäre eher bereit gewesen, ihn töten zu lassen. Aber nicht mit gezielten Schüssen. «Er muss leiden, wie meine Kinder litten.»
Es ist Sonntag in der Location von Outjo. Auf einem eingezäunten Sandplatz steht eine gelb und rot angemalte Kirche. Es sind die Farben der Sonne und der Erde. An einem dürren Baum hängt eine leere Gasflasche, die eindringlich klingt, wenn man mit einer Stange draufschlägt. Sie ersetzt die kaputte Glocke.
Schön gekleidete Menschen strömen ins spartanische Gebäude. Urs hat die alten Turnschuhe durch feste schwarze Schuhe ersetzt. Ansta trägt ein elegantes Kleid. Er, der fast ständig raucht, zündet noch rasch eine Zigarette an. Drinnen darf er nicht rauchen.
An Gott glaubt Urs nicht. Daran hat der Tod seiner Kinder nichts geändert. Er geht zur Kirche wegen Ansta. Sie ist gläubige Katholikin. Sie singt, sie betet, sie kniet nieder. Er sitzt da, denkt nach. Sie empfängt die Kommunion, er hat Lust auf eine Zigarette. Und doch hat er einen Bezug zur Kirche: Er hat sie mit dem Priester entworfen und dann aus Backsteinen gebaut. Er tat es seiner Frau zuliebe.
Wie überlebt man den brutalen Tod der eigenen Kinder? Wie überlebt eine Beziehung eine solche Tragödie? «Es ist ein Auf und Ab», sagt Urs. «Manchmal geht es besser, manchmal überhaupt nicht.» Anfänglich zerbricht das Paar fast daran. Die beiden halten sich gegenseitig nicht aus. Später merken sie, wie sehr sie sich doch brauchen. Einmal hat sie mehr Kraft, dann wieder er. «Wir überleben, weil wir uns lieben», sagt Urs. Oft wolle sie einfach nur sterben, sagt Ansta. «Hätte ich Urs nicht, wäre ich tot.» Sie überlebe, weil «Urs mir gezeigt hat, was es heisst, richtig zu lieben».
Sie erzählen Geschichten von den Kindern. Wie Urs mit Ndele stundenlang auf dem Bau spielte, wie der Kleine die Schildkröten fütterte, wie er seinem Bruder den Nuggi einstöpselte. Wie Ndele quengelte, «was für ein Saugoof der manchmal war». Urs drückt einen Lacher raus und spürt gleichzeitig unerträgliche Trauer.
Ausgerechnet er – ein Vater in Namibia, der bei den Kindern bleibt – verliert sie. Hellwach liegt er oft im Bett, kann nicht schlafen, weil er glaubt, Ndele «Papa, Papa» rufen zu hören.
Nicht immer, aber oft werweissen sie über Erklärungen für die unerklärliche Tat. Ein Motiv gibt es nicht. «Vielleicht tötete er die Kinder, weil ich mit Urs eine glückliche Beziehung habe und weil er das meiner Schwester nicht bieten konnte», sagt Ansta.
Von Eifersucht ist in Outjo die Rede. Bertina sei nicht die Treueste gewesen, sagen die, die sie kannten. Aber ist das ein Motiv, Kinder zu töten? «Ndele und Nandume haben ihm ja nichts gemacht», sagt Ansta. «Wir haben ihm nichts getan. Er ass mit uns. Er hat mit Ndele Fussball gespielt. Er hat mein Baby in seinen Armen gehalten.»
Bei Verhören wird der Mörder gefragt, warum er die Kinder getötet habe. Eine Antwort gibt er nie. Er weint immer nur. «Warum weint er?», fragt Ansta. «Er hat zwei Kinder getötet, eines nach dem anderen, gezielt, daran hatte er doch sicher Freude.»
Der Arzt, der Ansta und Urs betreut, befragt später den Mörder. Er stellt fest, dass er zum Zeitpunkt der Tat weder betrunken noch bekifft war. Eine psychische Störung erkennt er nicht. Er ist ein kaltblütiger Mörder.
Ansta plagt sich mit Vorwürfen. Sie will wissen, was sie falsch gemacht habe. Denkt oft, sie hätte die Kinder mitnehmen sollen. Sagt, das wäre nie passiert, wären sie in Schiers geblieben. Urs widerspricht. «Das hat nichts mit Namibia zu tun, nichts mit Schwarz und Weiss.» Eine sinnlose Tat ohne offensichtliches Motiv, sagt er, die ist überall möglich.
Ernestus sitzt in Untersuchungshaft in der zweistöckigen hölzernen Polizeistation von Otjwarongo, einer Stadt 60 Kilometer südlich von Outjo. Nächstes Jahr soll ihm am Obersten Gericht in Windhoek der Prozess gemacht werden. Ob Ansta und Urs aussagen, ist noch nicht klar. Vorverhandlungen blieben sie fern. Sie fanden keine Kraft, den Mörder zu sehen. Zur Hauptverhandlung fährt Urs. «Ich will ihm direkt in die Augen schauen.»
Es ist Dienstag, kurz nach fünf. Das Licht ist nicht mehr so grell. Die Arbeiter, die das neue Haus bauen, sind nach Hause gegangen. Urs hat in einer Schubkarre ein Feuer entfacht. Ansta steht im Innern des Einzimmerbungalows, den Urs nach dem Brand gebaut hatte. An der Wand hängen die fünf Fotos von Ndele und Nandume, die sie noch haben. ¬Ansta richtet einen Tomatensalat. Sie nimmt Koteletten aus dem Tiefkühlfach und mariniert Steaks vom Kudu, einer Antilopenart.
Ein Braai bereiten die beiden vor, wie in Namibia der Grillabend heisst. Kaum ist das Feuer in der Schubkarre zu Glut verfallen, schaufelt Urs die heisse Kohle in einen Grill und bedeckt ihn mit rohem Fleisch.
Die Koteletten serviert er draussen. Dann treibt ein Gewitter die Essenden in den engen Bungalow. Auf wenigen Quadratmetern stehen ein Bett, ein Kochherd, ein Kühlschrank und ein Tischchen mit Computer. Es wird gemütlich. Witze über die Pflege afrikanischer Frauenhaare fallen, über die acht Kilo, die Urs in Afrika zugelegt hat. «Es gibt in Afrika keinen Hunger?!», foppt ihn Ansta. Über die schweizerisch-afrikanische Beiz, die sie eröffnen will – Slogan: «Das einzige Restaurant in Namibia mit nüchternem Koch.» Darüber, dass sie, die Afrikanerin, die Hitze in Namibia verabscheut und die Kälte der Alpen so sehr mag.
Herzhaft lachen Ansta und Urs. Sie schaut ihn liebend an. Er schaut liebend zurück. Einen Abend lang sind die beiden, denen das Schlimmste widerfahren ist, was Eltern sich vorstellen können, ein bisschen glücklich.
Sie wollen nicht aufgeben – das tun die beiden nicht. Sie wollen weitermachen, in Namibia, nicht in der Schweiz. Land will Urs kaufen, Häuser bauen, sie vermieten. Schafe will er züchten und das Fleisch über den lokalen Metzger vertreiben.
Freunde trösten sie, sie seien noch jung, er 31, sie 33, und hätten Zeit, eine neue Familie zu gründen. Ein zwiespältiger Trost. «Sie haben keine Ahnung, was diese Kinder uns gegeben haben», sagt Ansta, die kinderlose Mutter. «Sie waren so lieb, sie waren kerngesund. Sie waren so glücklich.» – «Kein anderes Kind kann Ndele oder Nandume ersetzen.»
Ein Kilometer südlich vom Stadtzentrum zweigt ein abfallender Kiesweg von der Strasse ab. Nach einer scharfen Rechtskurve führt ein schmaler Feldweg durch ein offenes Tor. Auf einer sandigen Wiese liegt in einer flachen Talsenke der Friedhof von Outjo.
Auf dem Grabstein von Ndele und Nandume erinnert eine deutsche Inschrift an die Schweizer Herkunft der zwei Knaben.
Das Abendlicht ist von einnehmender Schönheit. Ansta zündet eine Kerze an. Die Packung Kaugummi, die sie letzte Woche für Ndele hingelegt hat, ist verschwunden.
Zärtlich legt Urs den Arm um sie, hält sie fest. Sie legt den Kopf auf seine Schultern. Minutenlang schweigen sie, schauen einfach nur auf das von bunten Blumen geschmückte Grab. Das Licht der Kerze lodert im Wind.
Es gibt Hoffnung in dieser Geschichte. Bald ziehen Urs und Ansta ins neue, grössere und robustere Haus ein. Der kälteempfindliche Bananenbaum hat den Winter überlebt.
Und Ansta ist schwanger.
Ein sehr schöner und einfühlsamer Bericht. Du hast genau den richtigen Ton getroffen.
Ali
Ich bin auch Schweizer und wohne seit 2009 in Namibia… der Bericht fährt ein… ich wünsche der neuen Familie nur das Beste, viel Kraft und Frieden!!!