Wein, Brot und Familie

Die Bindellas lehrten uns den Genuss – mit 46 Restaurants in der Schweiz und einem Weingut in der Toskana. Dieses Jahr übergab Senior Rudi Bindella sen. die Leitung an Rudi Bindella Jr. Was muss ein Sohn mitbringen, damit er zum Chef seines Vaters werden kann?

Peter Hossli (Text) Régis Golay (Fotos) 13.06.2023

Rudi und Rudi Bindella – gibt das nicht ein Durcheinander?

RUDI BINDELLA JR. Manchmal schon, deshalb bin ich einfach der Junior.

RUDI BINDELLA SEN. Es ist kein Durcheinander, sondern die Pflege einer schönen Tradition. Mein Vater hiess Rudolf, deshalb haben meine Eltern mich so getauft. Mein Erstgeborener sollte auch so heissen.

Wie ruft man Sie beide, damit alle wissen, wer gemeint ist?

SEN Rudi ist der Junior, ich bin der Senior.

Bei «Bindella» denkt jeder an Italien. Sie besitzen ein Weingut in der Toskana, die meisten Ihrer Restaurants bieten italienische Speisen an. Aber Ihre Vorfahren kamen aus Spanien ins Tessin.

SEN Die Bindellas zogen um 1700 von Spanien nach Mailand, später ins Tessin, schliesslich nach Zürich. Wir haben eine Wurzel in Italien.

JR Wir sind Botschafter Italiens in Zürich. Persönlich bin ich durch und durch Zürcher.

SEN Wir haben von vielem ein bisschen. Die Natur funktioniert bekanntlich am besten als Mischkultur.

Mein Urgrossvater kam um 1910 aus Verona ins Fricktal und baute Wasserkraftwerke. Als er merkte, dass es dort nichts Richtiges zu essen gab, eröffnete seine Frau einen italienischen Lebensmittelladen. Italiener haben die Schweizer gelehrt, gut zu essen.

JR Gut zu essen und gut zu trinken. Sie zeigten, dass es mehr gibt als Sauerkraut und Bratwürste.

Ihr Grossvater eröffnete in Zürich mit dem «Santa Lucia» die erste Pizzeria der Stadt.

JR Er war ein Pionier. Pizza galt damals als etwas Exotisches. Und er servierte sie aus dem Holzofen. Heute gibt es 13 Santa-Lucia-Pizzerias. Der Teig ist knuspriger und dünner als in Neapel. Es ist Schweizer Pizza – italienisches Kulturgut, den hiesigen Geschmäckern angepasst.

SEN Für die weichere neapolitanische Pizza haben wir die Più-Ristoranti, die du entwickelt hast, Rudi.

Bindella Senior, Sie haben die Italianità konsequent weiterentwickelt. Was hat es gebraucht, die Schweizerinnen und Schweizer zu überzeugen, dass Olivenöl der Butter als Fett überlegen ist?

SEN Wir stellten bereits in den 1980er-Jahren auf jeden Tisch je eine Flasche Olivenöl und Aceto balsamico.

JR Statt Aromat und Zahnstochern.

SEN Das hat vor uns niemand gemacht. Heute sind Öl und Balsamico gar nicht mehr wegzudenken. Wir reden über die Qualität von Lebensmitteln, wobei wir nie dozieren, sondern die Gäste informieren. Heute wissen alle, wie gesund Olivenöl ist.

JR Letztlich haben die italienischen Gastarbeiter das gute Essen hierhergebracht. Viele arbeiteten bei uns im Restaurant oder im Handwerksbetrieb meines Grossvaters. Italienisches Essen hat Vorteile: Es ist einfach zu produzieren und zuzubereiten. Deshalb hat es sich schnell verbreitet.

Was ist richtiges italienisches Essen?

JR Das gibt es nicht. Südlich von Rom kocht man mit Olivenöl und Zitronen, nördlich von Bologna mit Butter und Rahm.

Es gibt Puristen, die alle Zutaten einer Pastasauce festlegen wollen, daneben gibt es Freidenker, die sagen: Kocht mit dem, was gerade da ist. Zu welcher Gruppe gehören Sie?

SEN Gutes italienisches Essen bedeutet wegzulassen, die Reduktion auf das Wesentliche. Wichtig ist die Qualität des Produkts, die Tomate, das Öl, der Käse, der Schinken. Danach muss ein Rezept so einfach wie möglich sein. Ich will sehen, was auf dem Teller ist. Andere Esskulturen decken zu und verkleiden. Bestellt ein Italiener ein Stück Käse, erwartet er ein Stück gebrochenen Parmesan auf dem Teller, ohne Peterli oder Schnittlauch als Dekoration.

Es ist wie beim Schreiben: Ein Text ist gut, wenn jeder Satz eine neue Information enthält und ohne Adjektive auskommt.

SEN Es ist schwieriger, eine statt sechzig Seiten zu schreiben. Aber es bereitet mehr Freude, eine gut geschriebene Seite zu lesen.

JR Die italienische Küche ist bereits stark reduziert.

SEN Und doch bricht gerade etwas auf. Wir essen nicht mehr unbedingt in einem Zug Antipasto, Primo und Secondo, sondern nacheinander drei Vorspeisen. Und wenn jemand zuerst das Dessert essen will, darf er das.

Meine Eltern verkauften Delikatessen. Meine Mutter stand um vier Uhr auf und richtete den Fischstand, um sieben machte sie den vier Kindern dann das Frühstück. Mein Vater ging um sechs Uhr los und baute den Gemüse- und Früchtestand auf. Ich begann mit acht Jahren, im Betrieb zu arbeiten. Eine Trennung zwischen Geschäft und Familie gab es nicht. Wie war das bei den Bindellas?

SEN Wir leben für das Geschäft. Wir sind am Morgen die Ersten, die kommen, am Abend die Letzten, die gehen. Das ist unser Leben, das macht uns Freude. Das Private muss sich am Ganzen orientieren, nicht umgekehrt. Alles dreht sich um unser Motto: La vita è bella.

Aber ist das für ein Kind wirklich ein schönes Leben?

SEN Schon als Junge war ich oft mit meinem Vater unterwegs. Was sein Beruf war, wusste ich nicht. Aber ich dachte: Was er macht, gefällt mir, das will ich auch machen – mich mit anderen Menschen abgeben. Ich habe nie über einen Berufswunsch nachgedacht, ich wollte einfach tun, was mein Vater tat.

JR Ich konnte mir nie etwas anderes vorstellen, als in unserem Geschäft zu arbeiten. Als Kind habe ich im Lager geholfen, später war ich mit den Chauffeuren unterwegs, während des Studiums habe ich gekocht.

Bei den Bindellas sind mehrere Generationen gleichzeitig im Unternehmen. Von aussen betrachtet hat man den Eindruck, das funktioniert ganz gut.

SEN Das haben Sie schön formuliert: «Von aussen betrachtet». Aber wir arbeiten tatsächlich ausserordentlich gut zusammen. Das gelingt, weil wir einander respektieren – und jeder den anderen so sein lässt, wie er ist.

Das klappt aber alles nur, wenn einer der Chef ist.

SEN Seit ich 75 bin, ist Rudi jr. für alles verantwortlich. Ich kann mitreden, man hört mich an. Entscheidet die Geschäftsleitung aber gegen mich, ist das in Ordnung. Trotz klaren Regeln behandeln wir uns wertschätzend und anerkennend. Das sehen die Leute und denken: «Ah, die haben es gut miteinander.»

JR Seit 2010 bin ich zurück im Geschäft, 2018 habe ich meine Position gefunden, seit diesem Jahr liegt die operative Führung allein bei mir. Die meisten Entscheide fällen wir zusammen. Sind wir uns aber einmal nicht einig, dann entscheide ich.

Wenn es beispielsweise um ein neues Restaurant geht?

JR Du, Papi, wolltest in Zug ein «Bindella» machen, ich habe ein «Più» vorgeschlagen. Es gibt kein eindeutiges Richtig, kein eindeutiges Falsch. Aber wir haben uns an unsere Abmachung gehalten.

In Zug gibt es heute ein «Più», kein «Bindella».

JR Der festgelegte Prozess hat funktioniert.

SEN Der Sohn bleibt immer der Sohn. Als Vater musste ich realisieren: Du bist jetzt 45 Jahre alt, zwar immer noch mein Sohn, aber wenn du nicht mein Sohn wärst, hättest du eine Eigenständigkeit, die zu respektieren ist. Also kann ich nicht sagen, weil du mein Sohn bist, musst du mir gehorchen. Um das zu begreifen, brauchte ich ein wenig Zeit.

Wie wird man vom Vater zum Geschäftspartner?

SEN Der Vater muss loslassen und dem Sohn so viel Verantwortlichkeit zugestehen, wie er es bei einem Dritten tun würde. Ich musste das Gefühl loswerden, automatisch übergeordnet zu sein.

Nur dann ist es möglich, dass der Sohn zum Chef des Vaters wird?

JR In der Konsequenz schon. Aber in der Realität ist es nicht so hart, wie Sie das jetzt formulieren. Es kommt vor, dass beide recht haben oder beide sich irren. Was half: Die Übergabe erfolgte in Stufen; wir führten Regeln ein und prüften, was sich bewährt.

Erzieht ein Vater seinen Sohn, ist er manchmal streng. Legt man die Furcht vor dem Vater jemals ab?

SEN Ich schlafe mit der Armbrust unter dem Kissen …

JR Die Gefühle eines Sohnes gegenüber dem Vater verschwinden vermutlich nie. Aber Furcht ist das falsche Wort. Respekt ist sicher da.

SEN Der Respekt vor meinem Vater war gross, aber das war eine andere Generation. Er hatte Aktivdienst im Krieg geleistet und musste viel entbehren.

Sie haben vier Söhne und eine Tochter, Rudi ist der Älteste.

SEN Ich war zu Rudi sicher am strengsten. Aber mit dir habe ich am meisten Zeit verbracht. Das gab uns einen speziellen Kitt. Mit einem Unterbruch …

JR … während meiner Sturm- und-Drang-Zeit …

SEN … da entfernten wir uns ein bisschen, aber nachher sind wir wieder zusammengekommen und konnten von dem Humus zehren, der in den ersten Jahren entstanden war.

Das Verhältnis zwischen Väter und Söhnen ist oft durch die Arbeit geprägt, durch den Drang, etwas aufbauen zu müssen.

SEN Ich denke jeden Tag an meinen Vater, die Zeit mit ihm war wunderbar. Aber ich war zu ungeduldig. Er hätte gerne mehr mit mir gesprochen, so wie wir das jetzt während dieses Interviews tun. Stattdessen liess ich mich von Pendenzen treiben. Ich verlor viele Stunden, die ich mit ihm hätte verbringen sollen. Das war ein Fehler.

JR Ich versuche, diesen Fehler nicht zu wiederholen. Vom Typ her bin ich anders, etwas weniger versessen aufs Geschäft als du. Ich führe weniger militärisch und umgebe mich mit Personen, die besser sind als ich.

Was macht die Unternehmerfamilie, den Bindella-Clan, aus?

SEN Eine anspruchsvolle Frage. Sicher die starke Leidenschaft für das Lateinische, dann die Gastherzlichkeit. Ein Bindella sitzt gerne am Tisch oder versammelt sich um den Kochherd.

JR Ein Bindella hat Italien gern, und er leistet überdurchschnittlich viel. Etwas aufbauen – das kostet Kraft. Ich habe eine starke Frau und zwei faszinierende Kinder. Sie halten mir den Rücken frei, sodass ich mich im Geschäft engagieren kann. Das ist nicht selbstverständlich. Wenn wir das Geschäft in die fünfte Generation führen wollen, braucht es Bindella-Kinder, die das wollen und können.

Sie sind beide in wohlhabende Familien hineingeboren. Was bedeutet Ihnen Geld?

SEN Geld ist eine Ressource, um unternehmerisch arbeiten zu können – und zwar mit einem sozialen Verantwortungsbewusstsein. Rudi geht gerecht mit den Mitarbeitenden um. Das schätze ich sehr an dir.

JR Von dir habe ich gelernt, sparsam zu sein. Bei Kunst und alten Autos bist du leidenschaftlich, aber das ist nicht verschwenderisch, sondern werterhaltend. Du hast mich gelehrt, bescheiden zu sein.

SEN Du hast das mit eigenen Facetten verinnerlicht. Ich will auf keinen Fall, dass du zu meinem Ebenbild wirst. Wichtiger als Geld ist Menschlichkeit. Mich überzeugt, wie respektvoll du mit Menschen umgehst, mit Gästen, mit Geschäftspartnern, mit unseren Teams.

Die Bindellas haben Geld. Altes Geld, für das die Familie generationenlang gearbeitet hat. Aber Sie protzen nicht damit.

SEN Mein Vater hat nie geblufft, er hat uns zur Bescheidenheit ermahnt, und ich habe versucht, das weiterzugeben. Wer wie ich und mein Sohn in goldene Wiegen plumpst, ist vielleicht zu wenig dankbar für die Möglichkeiten, die man dadurch erhält: Chancen und Vorteile, die andere nicht haben.

Ein Restaurant zu führen, kann zum Fass ohne Boden werden. Wie schaffen Sie es, gewinnbringend zu wirtschaften?

SEN Jede Branche gleicht einem Fass ohne Boden. Es hat zu viele Coiffeure, zu viele Journalisten, zu viele Restaurants, zu viele Weinhändler. Überleben kann nur, wer gut ist. Wir denken jeden Tag darüber nach, wie wir noch besser sein können. Dazu müssen aber Kosten und Umsatz im Lot sein.

JR Es braucht drei Jahre, bis ein neuer Betrieb rentiert.

SEN Ein Mietvertrag ist schnell abgeschlossen, aber bis ein Team steht und zum Fliegen kommt, das dauert.

Sie beginnen Ihren Arbeitstag morgens um fünf Uhr und trinken den ersten Espresso mit dem Hauswart. Das ist kein Dolcefarniente, sondern zwinglianisch-zürcherisch.

SEN Das tun wir mit zwei kleinen f: freudig und freiwillig. Niemand steckt uns einen Speer in den Rücken. Ich habe mir immer gewünscht, dass Rudi genauso leidenschaftlich wird. Man kann die Kinder nicht zwingen, sonst geschieht das Gegenteil. Du kamst aus eigener Initiative und bist heute oft der Erste.

JR Ich arbeite sehr gerne, sorge aber dafür, dass ich viel Zeit mit den Kindern habe. Ich bin am Wochenende und an manchen Abenden zu Hause. Das hast du nicht so sakrosankt gehalten. Und ich verbringe einen Grossteil der Schulferien mit der Familie, das tut gut, schweisst zusammen, da entstehen Erinnerungen. Doch so gerne ich mit der Familie zusammen bin – in den Ferien fehlt mir das Geschäft.

Senior, Sie essen jeden Mittag und jeden Abend in einem Ihrer Restaurants. Warum schlägt Ihnen das nicht auf den Bauch?

SEN Das mache ich schon lange, deshalb ist es gut eingespielt, die Verbrennung stimmt. Die Nähe zum Personal ist mir wichtig. Man kann ein Unternehmen nicht vom Golfplatz führen. Wenn ich wissen will, wie die Restaurants laufen, muss ich hingehen und dort essen. Ich komme nicht als Polizist, sondern als Freund. Es ist ein schönes Gefühl, in einem Betrieb willkommen zu sein.

Sie melden sich vor jedem Restaurantbesuch an.

SEN Da haben Sie gut recherchiert.

Von einem Journalisten dürfen Sie das erwarten. Wenn ich bei Ihnen einkehre, erwarte ich ja auch, dass die Pasta al dente gekocht ist. Könnten Sie mit Überraschungsbesuchen nicht besser prüfen, ob die Teams funktionieren?

SEN Das halte ich für ein Märchen. Das Personal arbeitet immer gut. Es verrichtet anspruchsvolle Arbeit und darf Fehler machen. Natürlich geben sie sich mehr Mühe, wenn ich dort bin, ist ja klar. Aber sie würden für mich keinen Affentanz aufführen.

Viele Beizer sind Alkoholiker. Wie haben Sie das verhindert?

SEN Es ist eine Frage der Selbstdisziplin. Ich bin streng dazu erzogen worden, dass man massvoll trinkt. Zu einem feinen Teller Teigwaren trinke ich einen Schluck Rotwein, aber langsam und wenig.

Sie beide haben Wirtschaft studiert. Wer von Ihnen kann kochen?

JR Wir können es beide. Ich habe nach der Matura und während des Studiums mit meiner Mutter jeden Sonntag ein Gericht gekocht, diese Gerichte kann ich heute noch im Schlaf. Ich bedauere es aber, nie eine Kochlehre gemacht zu haben. Das ist eine Lebensschule. Wer eine Kochlehre hat, kann etwas.

SEN Ich koche gerne, habe aber selten Gelegenheit dazu. Stehe ich in der Küche, gibt es einfache Gerichte, Teigwaren oder Salate. An den Salat kommt bei mir nur Olivenöl, ein bisschen Balsamico, Salz und Pfeffer – manchmal auch nur Olivenöl. Gutes Olivenöl, und die Speise ist gewürzt!

 

RUDI BINDELLA SEN., Jahrgang 1948, kam in Zürich zur Welt. In St. Gallen promovierte er als Ökonom. 1975 trat er in das 1909 vom Grossvater gegründete Geschäft ein. Fortan setzte er auf Italien. Er spielt Schlagzeug in der Band Les Moby Dicks, hat fünf Kinder, lebt in Zürich und in der Toskana.

RUDI BINDELLA JR., Jahrgang 1977, führt seit diesem Jahr als alleiniger Chef das Unternehmen Bindella. Bevor er 2010 in der vierten Generation ins Geschäft eintrat, studierte er in Zürich Wirtschaft und arbeitete für Lebensmittelfirmen wie Coca-Cola, Kraft oder Masi. Er hat zwei Kinder und lebt in Zürich.