Fotografin Annie Leibovitz am Mittwoch, 25. Januar 2017, in Zürich. Leibovitz bat den Fotografien, sie vor diesem roten Hintergrund abzulichten.

“Ich bin nicht die Beste, ich bin die Bekannteste”

Niemand hat mehr berühmte Menschen -fotografiert als Annie Leibovitz. Nun zeigt die US-Fotografin in Zürich ihre Frauenporträts – in aller Bescheidenheit.

Peter Hossli (Text) Pascal Mora (Fotos) 29.01.2017 SonntagsBlick

Fotografin Annie Leibovitz am Mittwoch, 25. Januar 2017, in Zürich. Leibovitz bat den Fotografien, sie vor diesem roten Hintergrund abzulichten.

Annie Leibovitz (67) sitzt auf dem Barhocker. Verspannt, nicht lässig. Eine Lampe blitzt ihr ins Gesicht. Der Fotograf drückt ab. Klick. Klick.  «Jetzt zeig ich dir mal was», unterbricht Leibovitz und führt ihn in eine Ecke, setzt sich in den Sessel vor eine rote Wand: «Fotografiere hier! Bin ich entspannt, siehst du, wer ich wirklich bin.»

Die berühmteste Fotografin der Welt gibt dem Zürcher Fotografen Tipps. Nicht arrogant, eher mütterlich. «Gut wird ein Porträt nur, wenn sich der Porträtierte wohlfühlt.» Am Vortag warnt die Presseagentin noch: «Annie mag es nicht, vor der Kamera zu stehen.»

Vor diesem Hintergrund hat Fotograf Pascal Mora Annie Leibovitz zuerst fotografiert.

Frau Leibovitz …
Annie Leibovitz: Hi, ich bin ­Annie.

Annie, man warnte mich, Sie liessen sich nur ungern ­fotografieren.
Wer mag das schon? Vor der Kamera stehen nur Models gerne.

Schauspieler verstecken sich in ihren Rollen. Und Sie ver­stecken sich hinter der Kamera?
Vermutlich glaubt es keiner, aber ich bin ziemlich asozial. Ich ­arbeite, und ich verbringe Zeit mit meiner Familie. Wie man mit Menschen redet, habe ich nie richtig gelernt. Das ist meine Achillesferse.

Als Fotografin bringen Sie Menschen immer wieder in heikle Situationen …
Das sehe ich nicht so. Nennen Sie mir eine einzige.

Sie legten beispielsweise Whoopi Goldberg nackt in eine Wanne voller Milch.
Das Bild entstand 1984. Whoopi ist eine Komikerin. Mit humorvollen Menschen, mit Schauspielern, kann ich am besten herumalbern.

Sie fotografieren Schauspielerinnen schon mal ohne Kleider, ohne dass diese nackt wirken.
Es ist stets eine Zusammen­arbeit zwischen mir und den Porträtierten. Früh habe ich ­gemerkt: Ein Porträt muss nicht immer einen Menschen zeigen, der aufrecht steht und in die ­Kamera blickt.

Stattdessen stellen Sie riesige Windmaschinen auf oder ­bringen einen Zoo zu einem Shooting mit.
Aber wenn Sie die Frauen anschauen, die ich in Zürich zeige – alles recht direkte Porträts.

Dann sind Sie zahmer ­geworden?
Mittlerweile bin ich eine ältere Person, 67-jährig. Seit nunmehr 45 Jahren fotografiere ich. Ich weiss, dass ich das Handwerk beherrsche. Dass es verschiedene Arten gibt, ein Bild zu machen. Zudem erfasst jedes Bild nur einen Moment. Es erzählt nie das ganze Leben.

Wie hat sich Ihr Werk über die Jahre verändert?
Heute bin ich mir bewusster, wie gross meine Verantwortung ist. Zumal jedes meiner Fotos für immer eine Gültigkeit haben soll. Heute weiss ich, was ich tue. Es funktioniert zwar nicht immer, aber ich gebe stets mein Bestes.

Annie Leibovitz am 25. Januar in Zürich.

Als Sie anfingen, galt die -Reportage und nicht das -Porträt als echte Fotografie.
Meine Vorbilder sind (Anm. d. Red: der Franzose) Henri Cartier-Bresson und (der Schweizer) Robert Frank, beides -grossartige Strassenfotografen. Sehr jung kam ich zum US-Magazin «Rolling Stone». Plötzlich hatte ich eine Stunde allein mit (Grateful-Dead-Bandleader) Jerry Garcia. Da war ich -gezwungen, kreativ zu sein, musste überlegen, ob er steht oder sitzt.

Weshalb blieben Sie beim Porträt?
Weil ich darin freier bin, mehr Möglichkeiten habe. Es geht um zwei Menschen. Du und ich. Es ist intim, wie dieses -Interview. Meine Porträts sind -irgendwie journalistisch, aber sie müssen nicht ganz journalistisch sein. Das lässt mehr zu.

Sie fotografieren lieber Frauen als Männer. Warum?
Da liegen Sie falsch. Mir geht es einzig um die Person. Aber -Gloria Steinem (die wichtigste lebende Feministin) sagt, es gebe viele Fotos, die Männer als volle Menschen zeigen. Aber nur -wenige, die Frauen ganzheitlich abbilden. Es gibt zu viele Klischees, was eine Frau sein soll.

Ihr Langzeitprojekt «Women» soll das brechen?
Als Susan Sontag …

Ihre Lebenspartnerin
… dieses Projekt vorschlug, dachte ich: Es ist keine gute Idee, weil viel zu gross. Als ich später aber die ersten Fotos sah, war ich verblüfft, wie -vielfältig wir Frauen sind.

Susan Sontag starb 2004. Wie hat sich das «Women»-Projekt ohne sie verändert?
Ich vermisse Susan, sogar sehr. Ich mag smarte Menschen, -selber bin ich es leider nicht. Wenn sie etwas gut fand, war es wirklich gut. Sie verstand die Pop-kultur. Ich wünschte, Susan wäre noch am Leben und könnte das Projekt sehen und das Richtige dazu sagen.

Was gab sie Ihnen sonst noch?
Ihre Intelligenz war umwerfend. Es war toll, sie um mich zu wissen. Sie half mir, Worte zu finden. Sie hat mich mehr inspiriert als ich sie. Sie war fordernd. Leider habe mich wohl nicht so weit entwickelt und nicht das erreicht, was sie für mich erhofft hatte.

Neu schreibt Gloria Steinem Ihre Texte. Wie wichtig ist sie?
Ist sie bei einer Show dabei, stütze ich mich auf sie. Ohne Gloria werde ich nervös. Zumal Worte nicht meine Stärke sind.

Die Ausstellung «Women» in New York.

In der Ausstellung in Zürich hängt ein Foto von Hillary Clinton. Sie haben sie mehrmals fotografiert. Warum?
Sie steht in der Öffentlichkeit. Das reicht. Ich lernte sie als First Lady kennen. Anfänglich war ich skeptisch. Dann reiste ich mit ihr nach Afrika und war tief beeindruckt. Mir war klar: Sie wird für das Weisse Haus kandidieren. Wobei sie keine gute -Politikerin ist, aber eine tolle Präsidentin gewesen wäre.

Sie haben 2016 Clinton im Wahlkampf nahe begleitet.
Ja, vor allem an dessen Ende.

Wann war Ihnen bewusst, dass sie verlieren würde?
Nie. Ich wusste zwar, es wird knapp. Aber zuletzt war ich sehr überrascht.

Es war vorgesehen, die Wahlkampfbilder nur nach einem Sieg Clintons zu zeigen. Werden wir sie jemals sehen?
Das weiss ich noch nicht. Ihre Niederlage war für mich schmerzhaft. Meine drei Töchter waren nach Trumps Sieg -erschüttert, hatten Angst. Die älteste fragte mich: Mami, müssen wir denn jetzt nach Kanada ziehen?

Und Sie, haben Sie Angst?
Nein, ich nehme einen Tag nach dem anderen.

Warum ist Amerika nicht bereit für eine Präsidentin?
Darum ging es nicht. Amerika wollte eine Veränderung. Donald Trump hat wirksam Wahlkampf betrieben. Mich sorgt etwas anderes als die Frauenfrage: dass Trump derart liederlich mit der Wahrheit umspringt. Mir verschlägt es die Sprache, wenn ich sehe, wie viele Lügen ausgesprochen und einfach hingenommen werden. Wir spülen gerade die Wahrheit die Toilette runter.

Das lässt sich nicht stoppen?
Am ehesten entlarven die Komiker im Spätabend-Fernsehen die Lügen der Politiker.

Sie haben Donald Trump 1988 fotografiert. Dachten Sie -damals, er würde eines Tages Präsident?
Überhaupt nicht. Das dachte -damals nicht einmal er selber. Trump war am Wahltag genauso schockiert wie alle anderen. Er musste sich tagelang von seinem Sieg erholen.

Sie haben die US-Präsidenten Nixon, Carter, Reagan, Clinton, Bush und Obama fotografiert. Wann folgt Trump?
Diese Frage beantworte ich nicht.

Ohne Leibovitz-Porträt im Weissen Haus ist er kein echter US-Präsident.
Arnold Newman hat den Nazi-Waffenschmied Alfred Krupp -fotografiert. Von ihm habe ich gelernt, dass es unsere Aufgabe ist, Geschichte festzuhalten.
Es ist mein Job zu zeigen, was ich sehe.

Dann werden Sie Trump -fotografieren?
Die Frage beschäftigt mich sehr. Und ich überlege mir, wie ich es tun würde. Anfänglich dachte ich: Nein, das mache ich nie. Aber nun neige ich dazu, es zu tun. Zwar fotografiere ich lieber Menschen, die ich mag – das kann ich besser. Geht es aber um Geschichte, lass ich dieses Prinzip fallen.

Annie Leibovitz mit Reporter Peter Hossli.

Ihre Produktionen sind oft spektakulär und aufwendig. Trotzdem finden Sie Intimität. Wie geht das zusammen?
Auf dem Set sehe und spüre ich die Produktion nie. Ich kämpfe einfach für mein Bild. Schauspieler mögen übrigens grosse Produktionen, sie können sich darin verstecken.

Welches ist Ihr intimstes Bild?
Das habe ich eben erst gemacht, darüber reden will ich noch nicht. Eigentlich ist jedes Porträt intim. Die porträtierte Person reisst sich zusammen, präsentiert sich, um gut auszusehen. Oder aber sie lässt sich total gehen. Bei beiden entsteht etwas Intimes.

Welches ist das intimste Foto der Ausstellung?
Vermutlich das Porträt von Jane Goodall.

Die 82-jährige Affenforscherin aus Grossbritannien.
Richtig, wir hatten lediglich acht Minuten Zeit. Sie sagte, sie hasse es, fotografiert zu werden. Also entschloss sie sich, mich und die Kamera als Orang-Utans zu sehen. Sie streckte uns die Zunge raus, da drückte ich ab. Es ist ein sehr intimes Foto geworden. Es zeigt ein Gesicht, das nur eine Kamera sieht.

Fotografie ist für Sie mehr als ein Beruf. Sie definiert, wer Sie sind.
Meine Kinder haben das ver-ändert. Ich liebe zwar meine Arbeit noch immer sehr, aber meine Familie ist wichtiger als alles andere.

Was haben Sie zuletzt mit dem iPhone fotografiert?
Meine Kinder am Women’s March in New York. Das Mobile ist immer dabei, und ich fotografiere viel damit. Die grosse Kamera lasse ich zusehends zu Hause.

Auf der Fotografie-Plattform Instagram publizieren Sie aber Ihre klassischen Bilder. Weshalb?
Das Konto betreut mein Studio. Da ich regelmässig Aufträge von zwei Magazinen erhalte, brauche ich Instagram nicht.

Soziale Medien verdrängen -Magazine zunehmend. Wäre Ihre Karriere heute überhaupt noch möglich?
Mir geht es gut. Für heutige -junge Fotografen wird es ganz anders sein. Bücher bleiben. Fotografie geht aber online  und in Galerien. Insgesamt gibt es jedoch mehr Orte für die Fotografie.

Die Grossbank UBS hat -«Women» ermöglicht. Deren Kommunika-tionschef sagt, die Bank arbeite mit Ihnen, weil Sie die beste Fotografin der Welt seien.
Ich bin nicht die beste, ich bin die bekannteste.

Wer ist der oder die beste?
Die guten Fotojournalisten. -Jeden Tag bewundere ich die Titelseiten der «Washington Post» und der «New York Times». Toll, was Fotoreporter jeden Tag auf der Strasse aufnehmen.

UBS-Personalchefin Sabine Keller-Busse und Fotografin Annie Leibovitz im EWZ Unterwerk Selnau in Zürich.