Bundesrätin Karin Keller-Sutter im Bernerhof, dem Sitz des EFD in Bern.

Die Mächtige

Als sie die Verhandlungen über die Fusion von UBS und Credit Suisse führte, verhinderte sie wohl eine globale Finanzkrise – was den Einfluss von Karin Keller-Sutter weiter erhöhte. Die Ostschweizer Bundesrätin mag die Macht und sagt, warum sie beim Boxen kontert, wenn sie in die Defensive gerät.

Peter Hossli (Text) Anne Morgenstern (Fotos) 16.11.2023

Bundesrätin Karin Keller-Sutter im Bernerhof, dem Sitz des EFD in Bern.

Karin Keller-Sutter, Jahrgang 1963, wuchs in Wil SG als Tochter eines Metzgers auf. Ihre Eltern führten ein Restaurant. Sie besuchte die Dolmetscherschule, studierte Politikwissenschaften in Kanada und Pädagogik in Fribourg, wurde Regierungsrätin in St. Gallen und 2018 als FDP-Ständerätin in den Bundesrat gewählt. Sie ist verheiratet.

Wen mochten Sie damals mehr – Muhammad Ali oder Joe Frazier?
Karin Keller-Sutter: Ali.

Tanzen Sie demnach wie ein Schmetterling und stechen wie eine Biene, wenn Sie einmal pro Woche boxen?
Schön wärs. Für mich ist Ali bis heute der perfekte Boxer.

Was machte ihn denn so speziell?
Mein Trainer sagt immer: Deckung, Deckung, Deckung. Ali hatte bei seinen frühen Kämpfen kaum Deckung. Seine Fäuste waren jeweils unterhalb des Gesichts. Das ging bei ihm, weil er so schnell war und tänzelte. Eben: «Float like a butterfly, sting like a bee.»

Später gelang ihm das nicht mehr.
Als er älter wurde, hat er sich defensiver verhalten. Er hing in den Seilen und hat mit starker Deckung versucht, den Gegner zu ermüden.

Boxen Sie eher defensiv, oder sind Sie eine angriffige Boxerin?
Beim Boxen ist es wie im Leben: Es braucht beides. Es ist unmöglich, immer offensiv zu boxen, da wird man schnell müde. Es ist unmöglich, nur defensiv zu sein. Aber es gibt noch den Konter aus der Defensive. Da muss man wissen, wann man nach vorne geht.

Sie haben keine Angst davor, eine Faust im Gesicht zu spüren?
Was ich mache, nennt sich «Gentlemen’s Boxen». Da gibt es keine harten Schläge auf Personen. Mein Sparringspartner ist mein Trainer. Wir arbeiten mit Pratzen und Handschuhen. Ich darf schlagen, er hält sich aber zurück.

Warum boxen Sie?
Psychisch robust zu sein, ist das eine. Als Bundesrätin muss man dafür sorgen, auch körperlich einigermassen fit zu bleiben. Zu Hause in Wil ging ich mit dem Hund frühmorgens in den Wald. Das geht in Bern nicht, da bewege ich mich fast nur auf der Bundesmeile. Boxen fasziniert mich schon lange. Nach der Pandemie habe ich damit begonnen.

Standen Sie als Kind jeweils auf, um nachts am TV die Fights zu schauen?
Ich habe drei ältere Brüder, mit ihnen habe ich die Kämpfe geschaut. Mein jüngster Bruder ist neun Jahre älter als ich. Wir teilten das Zimmer, er hatte Poster von Sportlern aufgehängt. Und eines gefiel mir besonders gut: das mit Muhammad Ali.

Am 7. Oktober fielen Terroristen der Hamas in Israel ein und richteten ein Massaker unter Zivilisten an. Wie haben Sie davon erfahren?
Aus den Medien, wie bei der Ukraine. Angesichts der schrecklichen Details war mir schnell klar, welche Dimension das haben würde.

Der Angriff fand an einem Samstag statt. Hat der Bundesrat sofort eine Sondersitzung einberufen?
Bei der Ukraine gab es eine Sondersitzung, bei Israel nicht. Der Gesamtbundesrat sprach erst an der ordentlichen Sitzung am Mittwoch darüber. Der Angriff auf die Ukraine ist mir physisch nahegegangen und hat mich betroffen gemacht. Bei Israel war es wieder gleich. Die Niedertracht der Hamas ist kaum zu überbieten.

Bei Terrorismus geht es aus Schweizer Sicht rasch um Finanzströme.
An der Bundesratssitzung gab es zwei wichtige Anliegen. Wir müssen sofort sagen: Hamas ist eine terroristische Organisation. Und wir müssen die Hilfsgelder der Schweiz untersuchen. Nicht nur, wer wie viel erhält. Sondern, was damit passiert. Die Vorstellung, dass die Schweiz mit Hilfsgeldern eine terroristische Organisation unterstützen könnte, ist unerträglich.

Wie funktioniert der Bundesrat, wenn es einen solchen Notfall gibt?
Das federführende Departement und der amtierende Bundespräsident bestimmen den Ablauf.

Bei Israel ist das EDA federführend. Bei der Credit Suisse waren Sie es.
Da habe ich den Bundesrat von Anfang an miteinbezogen und mit Informationen bedient. Es war mir wichtig, ihn immer mitzunehmen. Die Materie war ja sehr komplex, da kann man nicht einfach am 19. März kommen und sagen: «Ja, übrigens, Bern, wir haben ein Problem.»

Sie selbst blühen in Notfällen auf?
Ich würde auf Notfälle gerne verzichten.

Aber Sie lösen gerne Probleme?
Ich habe keine Angst vor solchen Situationen. Sie lähmen mich nicht. Und sie gehören zur Arbeit einer Bundesrätin. Man ist ja nicht nur da, um die Olma und den Autosalon zu eröffnen. Ich führe gerne.

Sie gelten als detailversessen.
Was falsch ist. In der Krise muss man entscheiden und dabei in Kauf nehmen, dass nicht alles perfekt ist. Anpassen kann man später immer noch. Am schlimmsten sind Leute, die aus Angst, etwas falsch zu machen, nicht entscheiden wollen.

Sie traten Ihr Amt als Finanzministerin am 9. Januar 2023 an. War da klar – die CS wird zum echten Notfall?
Es gab bei der Credit Suisse bereits im Herbst 2022 grosse Geldabflüsse. Die Bank stand nicht mehr gut da, das wussten wir im Bundesrat. Eine Intervention des Bundes wurde damals nicht in Betracht gezogen, weil es hiess, die Situation habe sich beruhigt.

Das war mehr als Wunschdenken …
Die Lage bei den Kapitalabflüssen war da etwas stabiler. Aber die Negativschlagzeilen blieben. Am 1. Februar, bei meiner dritten Sitzung als Vorsteherin des Finanzdepartements, schilderte ich dem Bundesrat, an welchen Szenarien die Behörden arbeiten. Das klang damals ziemlich abstrakt, da die Situation eher ruhig war.

Das änderte sich schlagartig, als die Finanzabflüsse wieder zunahmen und der Aktienkurs der CS absackte.
Die Nationalbank, die Finma und mein Departement trafen sich am Mittwoch, den 15. März. Am Donnerstag und am Samstag habe ich ausserordentliche Sitzungen des Bundesrats einberufen. Am Freitag fand eine ordentliche Sitzung statt. Wir tagten also jeden Tag.

Ihrem Vorgänger Ueli Maurer wird Laisser-faire vorgeworfen. Gäbe es die Credit Suisse noch, wenn Sie bereits im Oktober 2022 Finanzministerin gewesen wären?
Die Verantwortung für den Niedergang der Credit Suisse tragen die Entscheidungsträger bei der Credit Suisse: der Verwaltungsrat, die Geschäftsleitung und das Aktionariat.

Mit welcher Haltung kam Credit-Suisse-Präsident Axel Lehmann zu Ihnen? «Hilf mir, unterzugehen!» Oder: «Hilf mir, zu überleben!»
Ich traf ihn erstmals in meiner ersten Woche als Finanzministerin – eher zufällig, als die wichtigen Akteure der Finanzbranche zusammenkamen. Er vermittelte mir den Eindruck, die CS habe alles im Griff und sie brauche keine Staatshilfe.

Was folgte, war die «komplexeste Bankenfusion der Geschichte», wie die «Financial Times» schreibt. Sie selbst sind keine Finanzexpertin.
Das habe ich ja nicht allein gemacht. Führen heisst nicht, alles bis ins Detail zu kennen. Dafür haben wir auch Spezialisten. Einbringen konnte ich mein Dreieck aus Instinkt, Erfahrung und Analyse. Man muss Konfliktlinien erkennen und Probleme sehen, Menschen zusammenführen und etwas durchziehen. Am Schluss fällt man ohne Angst die Entscheide.

Sie telefonierten mit Ihrer US-Amtskollegin Janet Yellen. Wie haben Sie sich auf dieses Gespräch vorbereitet?
Nicht gross, dafür fehlte die Zeit. Wir redeten erstmals am Donnerstag.

Vier Tage, bevor die Fusion stand.
Es gab zwei Optionen: Fusion oder Abwicklung. Bis Sonntagabend brauchte es eine Lösung. Zuerst mussten wir die Bank aber ins Wochenende retten, was alles andere als selbstverständlich war.

Was sagten Sie zu Janet Yellen?
Sie wusste, dass es kritisch war. Ich sagte ihr, wir würden mit der UBS über eine Übernahme der CS reden. Ich machte ihr deutlich, dass wir für eine Fusion schnell grünes Licht bräuchten – oder eine Abwicklung vorbereiten würden.

Abwickeln heisst pleitegehen. Wie hat Yellen darauf reagiert?
Sie war dankbar für die Informationen. Und sie bat mich, sie auf dem Laufenden zu halten. Später habe ich regelmässig kurz mit ihr telefoniert. Manchmal einzig, um zu sagen: «Not there yet, sorry, no news» – tut mir leid, wir sind noch nicht so weit.

Yellen gilt als humorvoll. Waren die Telefongespräche mit ihr auch mal witzig – oder «strictly business»?
Auch ich mache gerne mal einen Spruch, aber dafür hatten wir schlicht keine Zeit. Und sie war tief besorgt.

Hat Washington Druck ausgeübt?
Es gab keinen Druck der USA. Die Amerikaner hatten Angst vor einem Flächenbrand. Die Abwicklung der Credit Suisse hätte eine weltweite Finanzkrise auslösen können.

Beim Streit um die nachrichtenlosen Vermögen, beim Steuerstreit und als es ums Bankgeheimnis ging, verhielt sich die Schweiz gegenüber den USA stets unterwürfig. Das war bestimmt auch wieder so.
Nein, überhaupt nicht. Ich bin kein unterwürfiger Typ! Die USA sind zwar viel grösser, aber auch wir sind ein souveräner Staat. Ich vertrete die Schweiz selbstbewusst, und die USA hatten ein Interesse daran, dass wir das gut über die Runden bringen. Die Credit Suisse war dort stark exponiert. Ihr Kollaps hätte zu Riesenverlusten geführt – im amerikanischen Finanzmarkt, bei privaten Pensionskassen und in der Wirtschaft.

Aufseiten der UBS führte deren Präsident Colm Kelleher die Verhandlung. Was für ein Typ ist er?
Sehr bodenständig, geerdet, sehr direkt. Da sind wir uns ähnlich.

Kelleher ist ein mit allen Wassern gewaschener Wall-Street-Banker, der 2008 Morgan Stanley rettete. Wie begegnen Sie solchen Alphatieren?
Ich mag starke Persönlichkeiten. Ich umgebe mich mit starken Leuten, die auch mal dagegenhalten. Das war schon immer mein Ansatz. Ist es möglich, starke Personen zu holen, mache ich das. Das fordert mich intellektuell, und es dient der Sache.

Sie streiten also gerne?
Ich rede nicht von Streit. Um bei wichtigen Fragen gute Lösungen zu finden, muss man sich aber auseinandersetzen wollen. Am besten geht das mit starken Menschen.

Was als unschweizerisch gilt. Viele umgeben sich hier mit Schwächeren, um ihre Schwächen zu kaschieren.
Das ist leider so, aber ich mache das nicht. Als Regierungsrätin in St. Gallen habe ich Thomas Hansjakob als Ersten Staatsanwalt vorgeschlagen. Das trug mir Kritik ein, da er bei der SP war. Ich sagte: «Er ist aber der Beste!» Mit guten Leuten auch von anderen Parteien habe ich mich stets verstanden. Mit ihnen kann ich etwas gestalten.

Colm Kelleher gilt als stark. In der ersten Runde bot er eine Milliarde Franken für die Credit Suisse. Mussten Sie da nicht leer schlucken?
Da möchte ich etwas klarstellen: Der Bundesrat war nicht in die Preisverhandlungen involviert. Ich habe nie über den Kaufpreis gesprochen. Es gab Verhandlungsteams zwischen CS und UBS, und es gab Kontakte zu den Behörden. Wir wollten einen Deal. Der bestand aus einem Paket: Kaufpreis plus Garantie des Bundes. Über den Preis verhandelten die beiden Verwaltungsräte der Banken.

Die UBS erhöhte dann auf drei Milliarden. Für Kelleher ein Schnäppchen – für die CS-Aktionäre ein Hohn!
Gut, am Freitag hiess es noch, die CS sei sieben Milliarden Franken wert. Am Montag wäre sie bei null gewesen. Die Verhandlungsposition der UBS war also nicht so schlecht. Zuletzt hat die CS für ihre Aktionäre drei Milliarden herausgeholt. Das ist mehr als null.

Am 11. August verkündete die UBS, sie benötige die Verlustgarantie des Bundes über neun Milliarden Franken nicht mehr. Das Liquiditätshilfe-Darlehen der SNB über 100 Milliarden fiel weg. Dann ist jetzt alles gut?
Geht eine Bank unter, kann man nur von Schadensbegrenzung reden. Ich wünschte, das alles wäre nicht passiert. Mein Ziel war es, die Garantie schnell wieder aufzulösen. Noch bevor wir mit der UBS über den Vertrag verhandelten, habe ich über die Auflösung der Garantie gesprochen. Ich sagte Colm Kelleher, die müsse im Sommer weg sein.

Das ist Ihnen gelungen. Aber die Marke Credit Suisse wird verschwinden, Tausende Stellen gehen verloren, und die CS-Aktionäre sind weitgehend enteignet. Ganz und gar positiv ist das ja nicht.
Selbstverständlich nicht. Aber man muss klar sagen: Der Untergang der Credit Suisse war unabwendbar. In einem solchen Szenario muss es den Behörden darum gehen, Schaden vom Land abzuwenden. Es handelte sich nicht darum, die CS zu retten, sondern den Schaden zu begrenzen.

Sie sagten, Sie hätten während dieser Krise einfach funktioniert. Sie mögen solche extremen Situation?
Ich weiss, dass ich funktionieren, gelassen und ruhig bleiben kann. Was aber nicht heisst, dass ich mich nie aufrege. Es wäre schlimm, nie emotional zu werden.

Wie gehen Sie mit dem Druck um?
Ich bin ruhig und konzentriert. Und ich arbeite einfach, bis ich am Ziel bin. Hinzu kommt eine gewisse Demut. Man kann nicht alles beeinflussen, das muss man sich eingestehen. Aber man muss alles für das Ziel tun – und an alles denken, was notwendig ist, um es zu erreichen.

Woher nehmen Sie die Kraft, die es dazu braucht?
Ich habe zum Beispiel gelernt zu schlafen. Ich gehe ins Bett und sage mir, jetzt schlafe ich – und dann schlafe ich tatsächlich. Zumal ich einen schlechten Tag vor dem Einschlafen nicht ungeschehen machen kann. Aber die Leute brauchen mich am nächsten Tag wieder – und zwar so gut ausgeruht wie möglich.

Sie haben dafür gesorgt, dass die Nationalbank der UBS Hunderte Milliarden Franken freigeben konnte. Da fühlten Sie sich mächtig?
Nein, nicht mächtig. Das war für mich ein notwendiges Übel. Seit der Pandemie sind wir uns solche Zahlen leider gewohnt. Was mich eher beelendet: Manchmal streiten wir im Bundesrat über 150 000 Franken oder über eine einzige Stelle. Seit Covid geht es um Milliarden. Bei der CS haben wir nicht eine Bank gerettet, sondern das System stabilisiert.

Sie waren Gemeinderätin, Kantonsrätin, Regierungsrätin, Ständerätin. Jetzt sind Sie Bundesrätin. Wo war Ihre Macht am grössten?
Ich würde nicht von Macht sprechen, sondern von Gestaltungsspielraum …

… weil Macht in der Schweiz als verpönt gilt?
Nicht bei mir: Es gehört dazu, dass man als Politikerin Themen auf die Agenda bringen will. Wenn jemand sagt, ich möchte Bundesrätin werden, aber ich will keine Macht, dann ist das schon etwas speziell.

Was setzt Macht voraus?
Es braucht den Willen, sich durchzusetzen. Sie müssen für etwas kämpfen wollen, von dem Sie überzeugt sind. Und Sie brauchen die Bereitschaft zu verlieren.

Niederlagen gehen Ihnen nicht nahe?
Es braucht Nähe und Distanz. Man muss sich mit etwas identifizieren, dafür kämpfen, aber nicht überidentifizieren. Man darf die Sache nicht mit sich verknüpfen. Sonst nimmt man Angriffe und Kritik persönlich, die sich gegen die Sache richten. Hat man keine Distanz zu sich selber, verbraucht man zu viel Energie. Bei einer Niederlage muss man gelassen und sachlich sagen: «Gut, ihr seht das anders, ich habe gekämpft und getan, was ich konnte.»

Seit Alain Bersets Rücktritt scheint klar zu sein: Karin Keller-Sutter ist die Mächtigste im Bundesrat.
Das sind Zuschreibungen. Aber ich bin nicht nur im Bundesrat, weil ich Freude habe, am Mittwoch meine Kolleginnen und Kollegen zu sehen. Natürlich freue ich mich auf sie. Aber ich möchte in der Zeit als Bundesrätin etwas bewegen. Man erwartet von mir, dass ich Einfluss nehme und mich einbringe. Wer eine politische Funktion hat, will gestalten, also erkennen, wenn sich etwas verändern soll, und diese Veränderung auch einleiten.

Der Politologe Adrian Vatter sagt, Sie hätten ein «ausgeprägtes Machtbewusstsein». Dass Sie Allianzen schmieden und Kompromisse eingehen, mache Sie zur Regentin.
Da hat er wohl recht. Ich bin im Bundesrat bekannt dafür, dass ich klare Positionen vertrete und ein Dossier schon mal in eine Richtung lenken möchte. Aber ich bringe auch viele Kompromisse ein. Der Bundesrat ist ein Kollegium. Mich stört, wenn es heisst, es gebe den rechten und den linken Block. Wäre es so, könnten die FDP- und SVP-Bundesräte ja durchregieren. Aber das sieht unser System nicht vor. Wir sind darauf bedacht, dass nicht immer die Gleichen verlieren und die Gleichen gewinnen. Es braucht den Ausgleich.

JFK, EWS, KKS – John F. Kennedy, Eveline Widmer-Schlumpf, Karin Keller-Sutter. Abkürzungen mit drei Buchstaben strahlen Macht aus.
Mir war lange nicht bewusst, dass mich viele einfach KKS nennen. Das sah ich erst in einem Artikel in der «Südostschweiz», als ich noch Regierungsrätin war. Ich finde, eine solche Abkürzung ist durchaus praktisch.

Es heisst, KKS und Thierry Burkart, der Präsident Ihrer Partei, übten in Bern zusammen viel Macht aus – und machten zuweilen Bundesrätinnen.
Die Nähe zu Thierry Burkart bestreite ich nicht. Ich kenne ihn schon länger aus der Fraktion, und wir verstehen uns sehr gut. Politisch ticken wir ähnlich. Aber es ist übertrieben zu sagen, dass Bundesräte andere Bundesrätinnen machen. Bei den Hearings in den Fraktionen sind die Bundesräte nicht dabei. Das habe ich schon damals anders erlebt …

… als Sie und Johann Schneider-Ammann 2010 die Nachfolge von Hans-Rudolf Merz antreten wollten
Da stellte ich mich der SP-Fraktion vor. Und in der ersten Reihe sass die damalige Bundesrätin Micheline Calmy-Rey. Das war ehrlich gesagt gewöhnungsbedürftig. Das fand ich institutionell nicht richtig.

Es interessiert Sie, wer die Nachfolge von Alain Berset antritt?
Zu einzelnen Kandidaten äussere ich mich nicht. Wir reden beim Mittagessen manchmal darüber, wer die besten Chancen habe. Aber dass ich Einfluss nehme? Das wird überschätzt.

Es heisst, Sie und Burkart hätten Elisabeth Baume-Schneider zur Bundesrätin gemacht.
Bei einer Bundesratswahl ist es eine Frage der Konstellation. Vielleicht haben die Bauern hier eine gewisse Rolle gespielt.

In der Nacht vor den Bundesratswahlen im Dezember 2010 habe ich Sie im Hotel Bellevue in Bern gesehen. Sie wirkten niedergeschlagen. Man sah: Sie werden nicht Bundesrätin.
Das war wie nach einer Prüfung. Da war ich einfach froh, nach Hause gehen zu können. Zumal meine eigene Partei damals nicht fair gespielt hatte.

Die FDP führte Sie damals richtig vor. Wie gelang es Ihnen, es acht Jahre später nochmals zu versuchen?
Ich hatte mich entschieden, nie mehr für den Bundesrat zu kandidieren. Als Regierungsrätin war ich zwölf Jahre in einer Exekutive, mir ging es im Ständerat gut, dazu kamen Mandate, die mir gefielen. Mehr wollte ich nicht.

Kaum war Schneider-Ammann 2018 zurückgetreten, sprachen alle über Sie als Nachfolgerin.
Da sagte ich sofort, ich reisse mich nicht um das Amt, ich will mich nicht erneut vorführen lassen. Linke wie Rechte sagten zu mir: «Jetzt musst du kandidieren.» Ich sagte, ich sei kein Tanzbär, der zweimal die Runde in der Arena macht.

Was liess Sie Ihre Meinung ändern?
Kollegen aus allen Fraktionen und viele Frauen unterstützten mich. Und ich spürte einen grossen Rückhalt in der FDP. Ein SP-Ständerat sagte zu mir: «Du musst unbedingt wieder kandieren, damit ich den Fehler korrigieren kann, dich damals nicht gewählt zu haben.» Ich antwortete: «Dass du gut schlafen kannst, ist kein Grund für eine Kandidatur.»

Eine Kandidatur für den Bundesrat ist ein privater Entscheid. Wie stand Ihr Mann zu Ihrem zweiten Versuch?
Er sagte immer: «Wenn du erneut kandidierst, musst du dich zwischen mir und dem Bundesrat entscheiden.»

Er ist immer noch Ihr Mann.
2018 sagte er: «Du musst es machen.» Und ich antwortete: «Jetzt bin ich im falschen Film, du hast das Gegenteil gesagt.» Er meinte, ich sei der Typ, der das gerne macht, ich habe nichts zu verlieren. Selbst wenn ich ein zweites Mal nicht gewählt würde.

Steigen Sie mittlerweile in den Boxkeller, um eine Niederlage wegzuhauen?
Nein, dort kann ich völlig abschalten. Da trainiere ich eine halbe Stunde eine einzige Schlagkombination. In der zweiten halben Stunde wechsle ich den Schlag von rechts nach links. Boxe ich, denke ich an nichts anderes.

Fotografin Anne Morgenstein und Bundesrätin Karin Keller-Sutter. Bild: Peter Hossli