Die Firma im Turm
Am 11. September 2001 krachte ein entführtes Flugzeug genau in die Büros der Firma Marsh McLennan. Alle, die da waren, starben. Wie erholt sich ein Unternehmen davon? Wie erging es den Angehörigen der Opfer?
Der Wecker blieb stumm, Margaret Orloske hatte verschlafen. «Arbeite zu Hause», riet ihr Mann Duane. Doch Margaret wollte in die Stadt, zu einem wichtigen Termin. Um 5 Uhr 30 machte sie sich auf den Weg nach Manhattan. «Vergiss nicht, dich von den vielen Verrückten fernzuhalten», sagte ihr Mann, der New York nicht mochte. Sie aber liebte die laute Stadt mit all ihren Verrückten. «Klar, mache ich.»
Was Margaret Orloske nachher tat, weiss niemand. Alle, die sie am 11. September 2001 im Büro gesehen hatten, starben mit ihr. Sie war Vizepräsidentin bei Marsh McLennan. Der weltgrösste Versicherungsmakler belegte im Nordturm des World Trade Center die Etagen 93 bis 100. Auf den acht Stockwerken hielten sich an diesem wolkenlosen Dienstagmorgen 295 Angestellte und 63 externe Berater auf.
Sie gerieten in eine tödliche Falle. Islamistische Terroristen flogen eine Boeing 767 in den Wolkenkratzer. Beim Einschlag traf die Maschine die Etagen 93 bis 99, genau dort, wo das Personal von Marsh gearbeitet hatte.
Vor zwanzig Jahren wurden bei den Terroranschlägen in den USA 2977 Menschen ermordet. Seither trägt das Ereignis eine universelle Etikette: 9/11. Marsh McLennan verlor an diesem Tag das, was ihn wertvoll machte: die Menschen, die seine Kunden bedienten. Von vier von ihnen handelt diese Geschichte. Aber nicht nur davon, sondern auch von der Firma selbst, die zwanzig Jahre später robuster dasteht als je zuvor – im Gegensatz zu den Angehörigen der Opfer, die noch heute unter den traumatischen Folgen des Terrors leiden.
Und sie handelt vom damalige Konzernchef Jeffrey Greenberg, 70, der Menschen trösten und gleichzeitig dafür sorgen musste, dass die Geschäfte weiterliefen. Nach diesem Spagat «konnte mich nie mehr etwas überraschen», sagt er heute.
Der Tag fing für die Täter und ihre Opfer früh an. Um 6 Uhr bestieg der Terrorist Mohammed Atta eine Linienmaschine in Portland, in Maine. Um 6 Uhr 45 landete er in Boston. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Margaret in einem Vorortszug, der sie an die Grand Central Station nach Manhattan brachte. Sie nahm die Subway zum World Trade Center, wo sie seit 1999 gearbeitet hatte. Ein Expresslift brachte sie in den 96. Stock.
Susan Clyne verliess ihr Haus auf Long Island um 5 Uhr, sie küsste ihre vier noch schlafenden Kinder auf den Kopf. Gegen 7 Uhr 15 erreichte sie das World Trade Center und rief ihren Mann an. Die beiden sagten einander, wie sehr sie sich liebten. Es war ihr Ritual.
Kurz darauf, um 7 Uhr 59, hob in Boston der American-Airlines-Flug 11 nach Los Angeles ab. An Bord befanden sich 92 Personen, darunter 5 Terroristen. Als der Jet die Reiseflughöhe erreichte, besprühten Entführer die Passagiere der 1. Klasse und die Crew mit Pfefferspray. Sie erlangten die Kontrolle über das Cockpit. Mohammed Atta setzte sich ans Ruder und änderte den Kurs Richtung New York.
An jenem Dienstag konnte Mark Charette seine 8-jährige Tochter nicht wie üblich zur Schule begleiten. Der Manager wollte eine Sitzung früh beginnen, damit alle rechtzeitig zu ihren Familien zurückkonnten. Als er aus dem Haus eilte, quengelte sein 1-jähriger Sohn. «Soll ich Jonathan rasch wickeln?», fragte der Vater. «Nein, das mache ich, geh, sonst verpasst du den Zug», sagte seine Frau.
Ausnahmsweise erteilte Dominique Pandolfo im 99. Stock des Nordturms einen Computerkurs. Ihre Mutter wollte wissen, wie sie von ihrer neuen Wohnung in Hoboken, New Jersey, zum World Trade Center gelange, und rief sie deshalb am Vorabend noch an. «Ein Fahrer bringt mich hin», beruhigte Pandolfo sie, «ich bin bestimmt rechtzeitig da.» Um 8 Uhr 20 stieg sie am Fuss des Hochhauses aus einer Limousine. Ihre Mutter vermutet, dass sie noch eines der Geschäfte im Untergeschoss besucht hatte. «Sie kaufte gerne ein.»
Um 8 Uhr 46 und 40 Sekunden steuerte der Terrorist Atta den entführten Jet in den Nordturm. Alle Personen an Bord waren sofort tot, ebenso eine unbekannte Anzahl im Gebäude.
Jeffrey Greenberg war 1999 mit 47 Jahren der jüngste Konzernchef von Marsh geworden. Am 11. September traf er um halb neun in seinem Büro am Konzernhauptsitz ein, einem Wolkenkratzer an der Avenue of the Americas, zwischen der 45. und der 46. Strasse. Sein Raum war nordwärts ausgerichtet, er bekam vom Anschlag vorerst nichts mit. Doch nach wenigen Minuten eilte ein Kollege ins Büro «Kommen Sie zu mir, beim World Trade Center ist etwas los!» Während der Chef am südlichen Fenster stand und das rauchende Hochhaus sah, stieg ein Feuerball am Südturm in die Höhe. Eine weitere Boeing 767 hatte um 9 Uhr 03 den zweiten Turm auf den Etagen 77 bis 85 getroffen. Greenberg war besorgt. Denn Marsh beschäftigte Menschen in beiden Wolkenkratzern. «Wie gross der Verlust an Leben sein würde, war unklar.» Man ahnte, dass die Finanzbranche leiden und viele Menschen verlieren würde. Er stellte ein Team zusammen, das Informationen beschaffen sollte.
Nach dem Einschlag zog Rauch durch die getroffenen Etagen. Feuer loderten. Die Treppenhäuser oberhalb der 92. Etage wurden unpassierbar, die Hitze war unerträglich, Hilfe war keine in Sicht. Mitarbeiter von Marsh zertrümmerten mit Computern die Fenster und sprangen in die Tiefe. Von der 91. Etage hingegen stiegen bis auf eine Person alle unverletzt die Treppen hinab. Um 10 Uhr 25 stürzte der Nordturm ein, was, von der Strasse aus betrachtet, wie ein Vulkanausbruch aussah.
Greenberg hatte sich einen Fernseher ins Büro stellen lassen. Er schloss die Cafeteria und richtete dort ein Notfallzentrum ein. Gehört hatte er, dass jemand vom 93. Stock angerufen hatte und sagte, er könne nicht mehr weg. Dann brach das Telefonnetz in New York zusammen. Ein fog of war habe ihn umgeben, so Greenberg – nebulöse Fakten wie in einem Krieg, kaum gesicherte Informationen.
Insgesamt hatte Marsh 1908 Angestellte und Besucher in den beiden Türmen. Im Südturm belegte der Konzern die Etagen 47 bis 55, also unterhalb der Einschlagstelle. Die Behörden hatten eine bereits begonnene Evakuierung aus dem Südturm gestoppt, wegen der Gefahr fallender Gebäudeteile aus dem Nordturm. Der Vorgesetzte der Marsh-Angestellten widersetzte sich und begleitete seine Leute über das Treppenhaus bis nach unten.
Am Dienstagabend rechnete Greenberg mit 700 Toten. Er liess Listen erstellen, aufgeteilt in Personen, die herauskamen, und solche, die es nicht schafften. Am Mittwoch zählte der Konzern 1300 Personen als sicher, am Freitag waren es 1400. Über jeden Überlebenden freute sich die Belegschaft von Marsh. Doch in der Cafeteria hingen immer mehr Fotos von Vermissten. Die Bilderwand wurde zu einem Mahnmal. Bis Klarheit herrschte, verstrich über eine Woche. Viele, die aus dem Südturm fliehen konnten oder gar nicht erst zur Arbeit erschienen waren, verschanzten sich tagelang zu Hause, ohne sich zu melden.
Marie Clyne mit dem Bild ihrer am 11. September 2001 verstorbenen Mutter Susan Clyne. Sie lebt heute in Colorado.
Der Rektor der Primarschule bestellte Marie Clyne noch am Vormittag ins Büro, wo ihr Vater und ihr Zwillingsbruder warteten. Ein Flugzeug sei in das Gebäude der Mutter geflogen, erfuhr das 11-jährige Mädchen. Der Vater verbot ihr, Fernsehen zu schauen. Er wollte seine Kinder selbst informieren – und hatte anfänglich gute Nachrichten. Marsh sandte ihm eine Liste, auf der Susan Clyne als «überlebend» geführt war. Die Kinder erzählten in der Nachbarschaft davon. Stunden später traf eine überarbeitete Liste ein, auf welcher der Name Clyne fehlte. Jemand hatte geglaubt, sie ausserhalb des World Trade Center gesehen zu haben. Das war ein Irrtum.
Fortan versuchte der Vater, die Mutter zu ersetzen, wusch Maries Haar und föhnte es stundenlang. «Er half mir zu überleben», sagt sie. «Aber die weibliche Bezugsperson fehlte mir.» Sie fühlte sich lange nicht mehr sicher und entwickelte Ängste, die erst nach jahrelanger Therapie abklangen. Sie lernte, dass solche Furcht nach einem Trauma normal ist.
Marie hat die Erinnerungen einer 11-Jährigen an ihre Mutter. «Sie hat viel gearbeitet, sie gab uns Liebe.» Meistens kam sie erst nach 21 Uhr nach Hause und konnte nur noch gute Nacht sagen. Manchmal nahm die Mutter ihre Kinder mit zur Arbeit. Bei Marsh war sie ein Star, eine Juristin, verantwortlich für die Computerprogramme. Im 96. Stock richtete Susan ein Büro ein, wo die Kleinen «Geschäftsleben» spielen durften. Aufregend sei es gewesen, nach Manhattan zu reisen, der Mutter zu folgen, die durch das Gewusel der Stadt führte. «Und zuletzt mit dem schnellen Lift in den Himmel zu gleiten. Ich habe schöne Erinnerungen an das Gebäude und an die Aussicht.»
In einem Hotel in Manhattan mietete Marsh in den Tagen nach dem Angriff sieben Stockwerke, heuerte Psychologinnen an, Traumaspezialisten und Seelsorger aller Religionen, richtete Telefonnummern ein, wo Angehörige möglichst rasch Fakten erhalten sollten. Es war Greenberg wichtig, dass sein Personal das Zentrum führte und die Familien betreute. Die Kinder der Vermissten erhielten Teddybären.
Spielsachen abzugeben, war eines von vielen Dingen, denen Greenberg nachging. «In Krisen hat man nicht den Luxus, nur etwas zu tun», sagt er. «Es gab mehr als eine Priorität.» Gleichzeitig verfolgte er viele Ziele: die Mitarbeiter zu unterstützen und Angehörige der Opfer zu trösten; Kunden zu betreuen; mit Aktionären und den Medien zu reden; Daten zu sichern, die im World Trade Center zerschellt waren; Liquidität bereitzustellen.
All das geschah unter Stress. Flog ein Flugzeug über Manhattan, zuckten die Manager in den Wolkenkratzern zusammen. Auf Bombendrohungen folgten Evakuierungen. Gerüchte zirkulierten, es stünden Giftattacken bevor. «Niemand konnte wissen, ob der Terror vorbei war, wir hatten Angst», sagt Greenberg.
Der sonst ruhige Mann redete damals viel. Am Hauptsitz von Marsh entdeckte er eine Lautsprecheranlage, die das ganze Gebäude beschallen konnte. Bereits am Dienstagnachmittag trat er erstmals ans Mikrofon: «Wie Sie wissen, wurden beide Türme des World Trade Center von Flugzeugen getroffen. Wir haben Mitarbeiter in beiden Häusern.» Die Kollegen aus dem Südturm seien evakuiert worden, Manhattan sei vom Verkehr abgeschnitten. «Sobald ich mehr weiss, lass ich es Sie wissen.» Was er oft tat. «Für einen Chef gibt es nichts Schwierigeres, als seine Mitarbeiter zu verlieren.» Aber seine Bedürfnisse seien nebensächlich. «Das Wichtigste ist, die Menschen zu trösten, dabei kann es hilfreich sein, die Stimme eines anderen zu hören.»
Die Menschen, die an 9/11 starben, hatten am Abend vor dem Angriff ein heftiges Gewitter erlebt, das die schwüle Luft aus New York vertrieb. Mütter, Väter, Brüder, Schwestern und Kinder verabschiedeten sich für den Tag. «Sie zogen nicht in den Krieg, sie gingen einfach zur Arbeit nach Manhattan», sagt Greenberg. Fotografieren lässt er sich für den Artikel nicht. Er will nicht im Vordergrund stehen. «Passiert etwas wie 9/11, vergisst du alles, was du bisher getan hast», erklärt er. Er musste den Menschen und dem Konzern helfen. Angehörige sollten wissen, wo sie ihre DNA-Proben abgeben konnten, um Leichenteile der Verstorbenen zu identifizieren. Und die Kunden sollten Gewissheit haben, dass ihre Policen gültig blieben. Damit ihm dieser Spagat gelingen konnte, liess er sich von zwei ehemaligen Marsh-Verwaltungsratspräsidenten beraten.
Die Doppelrolle zeigte sich am 28. September, als Marsh die Angehörigen zu einem Gedenkgottesdienst in die St. Patrick’s Cathedral von New York einlud. Der damalige Bürgermeister Rudolph Giuliani und Greenberg kondolierten. «Meine Gefühle auszudrücken und die Fassung zu bewahren, war die schwierigste Aufgabe, die ich je hatte», sagt er. Am selben Tag gründete er eine neue Abteilung. Denn die Nachfrage nach Versicherungen war nach den Terroranschlägen stark angestiegen, die Tarife waren in die Höhe geschnellt. «Wir mussten unser Geschäft weiterführen, die Kunden hatten Bedürfnisse. Wir mussten schnell zur Tagesordnung übergehen. Ich konnte es mir nicht leisten, das Geschäft beiseitezulegen.»
Barbara Pandolfo und Jamil Azam in New Jersey mit einem Bild von Dominique Pandolfo, die am 11. September 2001 starb.
Acht Tage vor den Anschlägen waren Dominique Pandolfo und Jamil Azam in ihre erste gemeinsame Wohnung gezogen. Vom Küchenfenster in New Jersey sahen sie die Zwillingstürme in New York. «Es war der nächste Schritt in der Beziehung», so Jamil. Das Bett stellten sie auf, die Schachteln liessen sie ungeöffnet stehen.
Dominique wollte Karriere machen. Sie war in New Jersey als Einzelkind aufgewachsen, verlor den Vater früh. Sie war zuerst Lehrerin, unterrichtete gern, mochte die Schule aber nicht und wechselte in die Finanzbranche.
Jamil reiste am 10. September geschäftlich nach Chicago. Die Attacke verfolgte er in einem Hotelzimmer. Er erreichte niemanden, zurückfliegen konnte er nicht, da der Flugverkehr stillstand. Am Abend des 12. Septembers charterte seine Firma einen Reisebus. Die 16 Stunden dauernde Fahrt nach New Jersey sei «die schlimmste Erfahrung meines Lebens» gewesen, sagt Jamil. Er war der Einzige, der jemanden vermisste, fühlte sich einsam und verängstigt, während im Bus 39 Männer sassen, die pokerten, tranken und johlten.
In New York eilte er von Spital zu Spital und hängte Flugblätter mit Dominiques Gesicht auf. Gehofft hatte er, sie wäre beim Einschlag des Jets im Parterre gewesen. Zwischendurch holte er das Bett und die Schachteln aus der Wohnung ab; er konnte keine Nacht mehr dort verbringen. Nach einer Woche teilte Marsh mit: Seine Freundin war im 99. Stock gewesen.
Dominiques Mutter Barbara Pandolfo arbeitete am 11. September in einem Spital in New Jersey. Sie hatte im Radio von den Anschlägen vernommen. «Meine Freundin sagte mir: ‹Dominique ist fit, die schafft es raus.› Aber ich wusste, es war vorbei.» Ihre Tochter hatte sich nicht gemeldet. Anruflisten zeigten, dass Dominique um 9 Uhr 12 versuchte zu telefonieren. Wen sie anrief, ist nicht bekannt.
Bis heute weigert sich Jamil, die Abkürzung «9/11» auszusprechen. Der Todestag seiner Freundin ist für ihn keine Etikette. «Die Frau, die ich heiraten wollte, war mir entrissen worden, sofort wurde daraus ein unpersönliches Ereignis, das alle für sich beanspruchten.»
Empfindet Barbara heute Wut? «Ich beschuldige niemanden, ich bin einfach sehr traurig. Die Besten und Klügsten sind uns genommen worden.» Sie fühle sich um Liebe betrogen. «Dominique und Jamil wollten Kinder, diese Enkel konnte ich nie umarmen.»
Es sei durch 9/11 aber auch Gutes entstanden wie ihre Verbundenheit zu Jamil. «Ich begann erst nach den Anschlägen zu realisieren, warum meine Tochter ihn so sehr liebte.» Die beiden sehen sich heute regelmässig und telefonieren mehrmals wöchentlich. Jamil heiratete 2008, für seine Tochter ist Barbara wie eine Grossmutter. Jeweils am 11. September trifft sich ein Kreis von Freunden, um Dominiques zu gedenken.
Die Unterschriften der Verstorbenen, die bei Marsh McLennan gearbeitet haben.
Am 11. September 2001 wickelte Marsh nahezu gleich viele Schadensfälle ab wie an jedem anderen Tag. Die Abteilung, die aus dem Südturm fliehen musste, bezog in der Innenstadt neue Büros und war am Montag, 17. September, wieder voll einsatzfähig. «Für unsere Mitarbeiter, aber auch für unsere Kunden und Aktionäre war es wichtig zu wissen, dass wir vorankommen», sagt Greenberg, der heute eine Private-Equity-Firma führt. Um zu zeigen, dass New York noch steht, verlegte er eine Verwaltungsratssitzung von Deutschland nach Manhattan. Er investierte in Sicherheit, liess ein unabhängiges Stromnetz anlegen, lagerte die Server aus, und er wappnete Marsh gegen Cyberangriffe. Sein Gespür für das Geschäft zahlte sich aus. Bis Ende 2001 stieg der Aktienkurs um 20 Prozent. Dank erhöhter Nachfrage nach Absicherung blieb der Konzern hochprofitabel. Und trotzdem trat Greenberg 2004 zurück – wegen eines Finanzskandals. Um eine Anklage wegen Preisabsprachen abzuwenden, zahlte Marsh eine Busse von 850 Millionen Dollar. «Dieser Skandal setzte uns mehr zu als 9/11», sagt heute ein damaliger Top-Manager von Marsh.
Einen Monat bevor Greenberg im Oktober 2004 abtrat, hatte Barbara von Marsh letztmals eine Karte zum Jahrestag von 9/11 erhalten. Zuvor gab es jeweils einen Früchtekorb. «Als Greenberg ging, flachte das Interesse an uns ab», sagt sie. Der heutige Konzernchef will sich nicht mehr äussern. «Der 11. September war der schwärzeste Tag in der Geschichte von Marsh McLennan, und die Kollegen und Freunde, die unser Unternehmen an diesem Tag verloren hat, werden uns für immer fehlen», schreibt CEO Dan Glaser auf eine Anfrage für ein Gespräch. «Wir begegnen diesem Tag jedes Jahr mit schwerem Herzen. Da dies ein sehr besinnlicher Anlass ist, geben wir keine Interviews zu diesem Ereignis.»
Greenberg sieht 9/11 als «wichtigen Moment in der langen Geschichte des Unternehmens». Dass sich Marsh McLennan so schnell erholen konnte, sage viel aus über die Kultur des heute 149-jährigen Konzerns. Über die Loyalität der Menschen, die dort arbeiten. Die Aktie steht im Allzeithoch, der Börsenwert hat sich seit 9/11 fast vervierfacht. Marsh beschäftigt heute 76000 Menschen, 20000 mehr als vor 20 Jahren. Im Geschäftsbericht bleiben die Terroranschläge seit Jahren unerwähnt.
Cheryl Desmarais (rechts) mit ihrer Tochter Lauren. Die beiden halten ein Bild von Mark Charette, der am 11. September 2001 im World Trade Center.
Das Büro von Mark Charette befand sich in New Jersey. Am 11. September traf er Kollegen in New York. Seine Frau Cheryl Desmarais wusste nicht, ob das Treffen im World Trade Center oder in Midtown stattfand. Als sie von den Anschlägen erfuhr, rief sie Marks Nummer an und hörte seine aufgezeichnete Stimme: «Hallo, hier spricht Mark Charette, es ist der 11. September, und ich werde den ganzen Tag im World Trade Center in Sitzungen sein.»
Cheryl erkundigte sich in jedem New Yorker Spital, ob jemand einen blonden 38-jährigen Mann eingeliefert habe. «Mark war wohl sofort tot», sagt sie. «Er hätte mich sonst angerufen.» Am Mittwoch teilte Marsh ihr mit, niemand oberhalb des Einschlags im Nordturm habe überlebt. Mark war wohl im 100. Stock.
Das Paar hatte sich an der University of Pennsylvania kennengelernt. Da das Militär sein Studium bezahlt hatte, diente Mark nach dem Abschluss fünf Jahre auf nukleargetriebenen U-Booten. Bis zu drei Monate am Stück war er auf hoher See. Wo, das wusste seine Frau nie. Selbst in Friedenszeiten sind die Einsätze der U-Boote geheim. Mark verliess die Marine, damit er mit seinen Kindern sein konnte. Bei Marsh versicherte er anfänglich Kernkraftwerke, stieg rasch auf und wechselte ins lukrativere Geschäft mit Rückversicherungen. Kunden traf er auf dem Golfplatz. «Ging er arbeiten, riefen wir hinterher, ‹Daddy, gehst du wieder golfen?›», sagt seine heute 28-jährige Tochter Lauren. Es gibt Hunderte von Fotos, die ihn mit seinen Kindern zeigen. Cheryl nennt ihn «einen grossartigen Vater». Sie hat es in den letzten zwanzig Jahren nicht geschafft, sich neu zu binden. «Mark war für mich ein perfekter Mensch, mein Seelenverwandter, auf ihn zu folgen, wäre für jeden schwierig.»
Duane Orloske in seinem Haus in Connecticut. Er hält ein Foto seiner verstorbenen Frau Margaret Quinn Orloske.
Margaret Orloske war 50, als sie starb, eine der wenigen Frauen, die es in der Finanzbranche bis weit nach oben geschafft hatten. Rief ihr ein Kollege «honey» oder «sweetheart» nach, fuhr sie ihm über den Mund. Sie lernte ihren Mann Duane an der Highschool kennen. Die beiden heirateten mit 24, bekamen einen Sohn mit 31. Bei Marsh fing sie als Bibliothekarin an und stieg zur einflussreichen Analystin auf. Aufgrund ihrer Dossiers fällte der Konzern strategische Entscheide. «Sie war neugierig und liebte amerikanische Geschichte», erzählt er. Margaret mochte das Haus aus dem 18. Jahrhundert, in dem ihre Familie wohnte, und den Job in den Wolken. Es machte ihr nichts aus, täglich zweieinhalb Stunden von Connecticut zum World Trade Center zu fahren.
Duane unterrichtete am 11. September an der Universität. Vor dem Fernseher zählte er die Stockwerke bis zum Einschlag. Als ihm klar wurde, dass Margaret getroffen worden war, sank er in die Knie. Am Nachmittag teilte ihm ihr Vorgesetzter mit, was er bereits wusste. Er ging nach Hause, da «es verrückt und aussichtslos gewesen wäre, meine Frau in New York zu suchen». Er wollte für seinen Sohn Steven da sein. Monatelang verliessen die beiden ihr Haus nicht. Die Nachbarn kauften für sie ein. Steven lernte, Gitarre zu spielen.
Der Sohn schaffte es nie, die Trümmer am Ground Zero an der Südspitze Manhattans zu besuchen. Der Vater begegnete dort einer Familie, deren Tochter in jenem Flugzeug starb, das den Nordturm getroffen hatte. Ihre Familie stellte ihm beklemmende Fragen: «Hätten sich die Menschen im Flugzeug den Terroristen widersetzen müssen? Ist unsere Tochter schuld am Tod Ihrer Frau?» Duane verneinte, was für die Familie tröstlich war.
Jahre später, um 2005, klopften zwei Polizisten an der Türe von Duane. Man habe ein Stück von Margarets Brustbein gefunden, teilten sie ihm mit. Er liess es kremieren. Heute steht die Schachtel mit der Asche in einem Haus am See, das er mit seiner Frau teilt. Vor zehn Jahren hat er Kay geheiratet. Nach 9/11 entstand eine Freundschaft, dann eine Liebe. «Nach Margarets Tod hatte ich die Wahl: Entweder ich leide als einsamer Witwer, als Überlebender eines Opfers von 9/11. Oder ich führe ein volles Leben», sagt er. «Ich tat, was Margaret bestimmt von mir erwartet hätte.»
Die 9/11-Gedenkstätte von Marsh McLennan in New York
Nach dem Tod ihres Mannes setzte sich Cheryl Desmarais mit ihren drei Kindern aufs Bett, hielt sie fest und sagte ihnen: «Daddy ist tot. Er kommt nie mehr heim.» Stundenlang erzählten sie sich Geschichten über Mark. Am selben Abend sagte ihr ein enger Freund, sie müsse sich keine Sorgen machen, «du bist abgesichert». War sie das? Abgesichert? Die Hausfrau hatte seit Jahren kein Geld verdient.
Bei 9/11 geht es um viel Geld. Im Gegensatz zu Marsh ist dieser Prozess bei den Angehörigen 20 Jahre später noch nicht abgeschlossen. Greenberg beauftragte eine externe Kanzlei, um das Finanzielle zu regeln. Bis Ende 2001 zahlte Marsh die Gehälter weiter. Fuhr jemand einen Dienstwagen, erhielten die Angehörigen eine Pauschale. Die Krankenkasse blieb für die Familien jahrelang kostenlos. Da Flugzeuge das Personal töteten, kam zu den persönlichen Lebensversicherungen noch die Reiseversicherung dazu, die Marsh abgeschlossen hatte. Der Konzern alimentierte einen Fonds für Soforthilfe mit 20 Millionen Dollar, das Personal spendete vier weitere Millionen. Das amerikanische Rote Kreuz verteilte 55 Millionen, die in den ganzen USA für die Angehörigen gesammelt worden waren.
«Finanziell geht es uns gut», sagt Cheryl, die nie mehr einen Job angenommen hat. «Mir war es peinlich, wie viel Geld ich erhielt», sagt Duane. Dabei brauchte er es, denn seine Frau verdiente viel mehr als er. Schon bald begannen Anwälte ihn zu umschwirren. Die Airlines hatten zugelassen, dass 19 Terroristen mit Messern und Pfeffersprays durch die Sicherheitskontrollen gelangten. Ein idealer Fall für eine Sammelklage, die die Airlines-Branche ruiniert hätte. Um dies zu verhindern, schuf der Kongress einen Fonds mit sieben Milliarden Dollar für die Opfer von 9/11.
Der Jurist Kenneth Feinberg verteilte das Geld, indem er für jedes Opfer einen Wert berechnete. Dazu nahm er das Alter, die Anzahl der Kinder, das aktuelle Salär sowie das wahrscheinlich künftige Salär. Einer Bankerin wies er eine höhere Zahl zu als dem Putzmann, der abends die Büros von Marsh wieder herrichtete. Um Geld aus dem Fonds zu erhalten, verzichteten die Angehörigen auf weitere Klagen.
Barbara erhielt Geld, weil ihre Tochter sie finanziell unterstützt hätte. «Das hat mir ein angenehmes Leben ermöglicht, aber Dominique nicht ersetzt.» Sie reicht einen Teil weiter und vergibt in ihrem Namen jedes Jahr ein Stipendium. 5000 Dollar erhält eine Highschool-Abgängerin aus armen Verhältnissen.
Konnten 19 Entführer und Terrorfürst Usama bin Ladin das Attentat allein organisieren? Duane sagt Nein und verdächtigt Saudiarabien als Strippenzieher, da 15 der 19 Terroristen Saudi waren. Deshalb schloss er sich den Sammelklagen an gegen Saudiarabien, Sudan, Somalia und Iran, Länder, die Terroristen beherbergen. Bei einem Vergleich erhielten die Kläger 2018 je 90000 Dollar von Iran.
Es ist ein heisser Mittag in Manhattan, Ende August. Im Garten des Hauptsitzes von Marsh McLennan essen Menschen ihren Lunch. Wenige beachten die Gedenkstätte für die Angehörigen in der Ecke. «Unsere verlorenen Kollegen sind vor allem Ihre geliebten Kinder und Eltern, Ehemänner und Ehefrauen, Schwestern und Brüder, Ihre geschätzten Verwandten und Freunde», lautet die Inschrift über einer milchig grünen Glaswand. Eingraviert sind die Namen aller Verstorbenen, dazu ihre Signaturen. «Die Unterschrift sorgt für eine persönlichere Erinnerung», sagt Greenberg. Er gab das Memorial in Auftrag.
Marie Clyne gedenkt ihrer Mutter, indem sie an 9/11 Ballone mit Botschaft an sie in den Himmel lässt. Der damalige Chef von Margaret nannte sein Kind Margaret. Eine Arbeitskollegin von Dominique taufte ihre Tochter Emma Dominique.
Barbara beendet das Gespräch mit einer Frage an den Reporter. «Wie alt sind Ihre Töchter?» – «Es sind Teenager.» – «Küssen Sie sie jeden Abend auf die Stirn, und sagen Sie ihnen, wie sehr Sie sie lieben.» Sie kann das seit 20 Jahren ihrer Tochter nicht mehr sagen.
Dominique Pandolfo und Jamil Azam.