Eichen schützen: Unternehmer Martin Huber auf einer Panzersperre beim Wald von Winnyzja in der Ukraine.

Der gute Mann aus Herisau

Weil er das harte Holz der Eichen für edle Fensterrahmen brauchte, ging Martin Huber 2005 in die Ukraine und baute ein blühendes Geschäft auf. Jetzt ist Krieg – und der Unter- nehmer hilft dem geschundenen Land mit Häusern aus Holz.

Peter Hossli (Text) Pascal Mora (Fotos) 12.08.2022

Eichen schützen: Unternehmer Martin Huber auf einer Panzersperre beim Wald von Winnyzja in der Ukraine.

Der Weg zu den Eichen führt über Panzersperren. Ohne zu zögern, steigt Martin Huber über die gestapelten Betonklötze. Ukrainische Soldaten haben sie hingelegt, damit die Russen hier nicht durchmarschieren. Und um einen Schatz zu schützen: Gleich hinter der Sperre leuchtet sattgrün ein Laubwald in der sommerlichen Morgensonne. Huber gerät ins Schwärmen. «Schaut, wie schön diese Bäume sind», sagt der 66-jährige Unternehmer aus Herisau AR. «Nirgends auf der Welt gibt es bessere Eichen als hier in der Ukraine.»

3000 Kubikmeter des harten Holzes lässt er jedes Jahr in die Schweiz karren. Wegen der Eichen kam er vor 17 Jahren in das Land, das jetzt mit Russland im Krieg ist. Unweit der Stadt Winnyzja gründete der Schweizer Unternehmer 2005 eine ukrainische Tochterfirma.

Sein Bedarf an Eichen ist gross. Bereits in der fünften Generation stellt die Huber Fenster AG in Herisau hochwertige Fensterkanthölzer her. Verbaut werden sie an der Zürcher Goldküste, in Villen im Engadin, im Tessin. Dazu in öffentlichen Gebäuden wie dem Hauptbahnhof von Zürich.

Fensterrahmen aus ukrainischer Eiche beim Hauptbahnhof Zürich. Martin Huber begutachtet die Arbeit auf der Baustelle.

Gemeinsam haben die Gebäude: Ihre Fensterrahmen sind aus Eichen gefertigt, die in der Ukraine während 150 bis 180 Jahren heranwuchsen. Bevor die Hölzer in der Schweiz veredelt werden, werden sie in Hubers ukrainischer Fabrik zu Halbfabrikaten geformt. «Es wäre ökologischer Unsinn, nasse Stämme in die Schweiz zu fahren», beschreibt Huber seinen Ansatz. «Mit unserer Fabrik bleibt mehr Wertschöpfung in der Ukraine.»

Fast zärtlich berührt er einen Stamm, der 20 Meter in die Höhe ragt. «Nahezu perfekt» sei dieser Ort für Eichen. Die Böden sind flach, weshalb die Bäume gerade wachsen. Genau richtig ist der Anteil an fruchtbarer ukrainischer Schwarzerde, damit die Bäume genügend Wasser und Nährstoff erhalten, aber nicht zu schnell wachsen. Förster schneiden schwächere Bäume raus. Es entsteht ein Wald mit viel Licht und Platz für alle.

Martin Huber im Stadtwald von Winnyzja.

In die Ukraine kam Huber über Russland. Nach dem Zerfall der Sowjetunion kontaktierte ihn ein russischer Holzfabrikant. Der Appenzeller gründete in Moskau ein Joint Venture, stattete staatliche Gebäude mit Fensterrahmen aus. Es folgten Villen westlicher Geschäftsleute und Bürokomplexe. Huber empfand Russland als hart, die Rechtssicherheit als labil. Nach zwölf Jahren wurde es ihm zu viel. Er verbrachte mehr Zeit in Moskau als in Herisau, seine Familie sah er kaum noch. «Ein Glücksfall» sei der Rückzug aus Russland gewesen, weiss er heute.

Die Zeit in Moskau hat ihm aber gezeigt: Er kann grosse Projekte stemmen. Sein damals 25-jähriger Vorarbeiter Sergei Medvechuck riet ihm, in die Ukraine zu gehen. «Was hat es dort?», fragte Huber. «Eichen, viele Eichen», sagte der Ukrainer, dessen Mutter ist Russin, der Vater stammt aus der Region von Winnyzja.

Eichenholz kam damals in Mode, und in Europa war gute Qualität rar. Mit 5000 Euro gründete Huber eine ukrainische Firma, er beteiligte Medvechuck zu 20 Prozent und setzte ihn als Direktor ein. Bis heute vertrauen die beiden einander blind.

«Diese Bäume gehören den nächsten Generationen. Niemand wird sich daran erinnern, dass wir sie gepflanzt haben», sagt Förster Viktor Popelniuk

MIT 60 JAHREN GESCHLECHTSREIF

Der Wald von Winnyzja beginnt am Stadtrand. Auf dem Parkplatz der Försterei wartet der städtische Weidmann Viktor Popelniuk, 65. Huber umarmt ihn, reicht ihm eine Flasche Weisswein und ein Stück Urnäscher Hornkuhkäse aus dem Appenzellischen. Der Förster bedankt sich mit einem Lächeln. «Die Schweiz kann sich glücklich schätzen, Menschen wie Martin zu haben», sagt er. Der Förster mag, dass Huber den Wald mag und sich mit Bäumen auskennt.

Rund 75 Prozent des Waldes von Winnyzja sind Eichen. Jedes Jahr fällen die 250 Förster 250 der 47 000 Hektaren Wald. Die gleiche Fläche forsten sie auf. Sie sammeln Eicheln, sortieren schlechte aus und wärmen die guten bei 40 Grad, sodass die Pilze absterben. Bei knapp über null Grad lagern die Keime drei Jahre in Fässern. Ein halbes Jahr gedeihen sie in der Baumschule, dann gelangen sie auf Waldlichtungen.

Es sind Bäume für die nächsten Generationen. «Heute weiss niemand mehr, wer die Bäume gepflanzt hat, die wir fällen», sagt Popelniuk und zeigt auf junge Eichen. «Niemand wird sich daran erinnern, dass wir sie gepflanzt haben.»

Eichen produzieren ab 60 Jahren erstmals Eicheln. Geschlagen werden sie, wenn die Stämme einen Durchmesser von rund 60 Zentimetern haben. Wie viele gefällt werden, entscheidet das Umweltministerium in der Hauptstadt Kiew. Förster Popelniuk wacht darüber, dass seine Kontingente eingehalten werden. Huber muss sie online und somit transparent ersteigern.

Martin Huber hält eine Eichel im Kühl- raum der Försterei. Bis zu drei Jahren lagern gekühlte Eicheln in Fässern.

Wegen des Kriegs ist es für den Unternehmer schwieriger geworden, das Holz in die Schweiz zu bringen. Schon mal zwei Wochen stehen die Lastwagen an der ukrainisch-polnischen Grenze. Manche Fahrer sind ins Militär eingezogen worden, die Transportkosten haben sich verdreifacht. Der Preis für Eiche hat sich verdoppelt. Zudem schrumpfen die Margen. Seit Beginn des russischen Angriffs hält das Finanzamt in Kiew die 20 Prozent Mehrwertsteuer zurück. Huber vermutet, um die Kosten des Kriegs zu tragen.

ETWAS GUTES IN DER UKRAINE AUFBAUEN

Ihm sagt das grosse Land im Osten Europas zu, der weite Himmel, die freundlichen Menschen, Felder mit Weizen, Sonnenblumen, Raps und Mais, die bis zum Horizont reichen. Einmal monatlich ist er in normalen Jahren in der Ukraine. Jetzt ist nichts normal und er ein erstes Mal hier, nach fast 2000 Kilometern im VW-Bus von Herisau nach Winnyzja. Auf einem Markt am Strassenrand kauft er geräucherten Fisch und Bienenpollen; beides stärke sein Immunsystem, so der Hobbysportler. Eine Frau erzählt ihm vom Sohn, der in russische Kriegsgefangenschaft geraten sei. Er kann sich auf Ukrainisch verständigen, bei Geschäftsterminen hilft ihm eine Übersetzerin.

Da sein Kollege zu schnell fährt, gerät er in eine Polizeikontrolle. Einst hatte man sich mit Schweizerdeutsch herausschwatzen können. Jetzt liest einem eine Polizistin mittels Online-Übersetzung die Leviten. Bezahlen muss er die Busse mit der Kreditkarte – für Huber eines von vielen Anzeichen, dass ukrainische Korruption zurückgeht.

Der Appenzeller kauft am Strassenrand Bienenpollen. Er kann sich gut in der Landessprache verständigen.

Nach 24 Stunden Fahrt erreicht Martin Huber das Dorf Iwaniw nördlich von Winnyzja. Hier liegt der Sitz von Hubers Firma. Storchennester säumen die Strassen. In Gärten stehen Obstbäume, wachsen Blumen, Gemüse und Kartoffeln. Beim Bahnhof halten täglich zwei Personenzüge. Man schätzt Huber im Dorf. Er zahlt gute Löhne, unterstützt das Kinderheim, unterhält den Sportplatz. Als der Krieg ausbrach, holte er 48 Flüchtlinge nach Herisau, organisierte für sie Unterkünfte und Arbeit. Mittlerweile sind viele zurück, sie fühlen sich daheim wieder sicherer.

Der Patron reicht den Angestellten die Hand zum Gruss, manche umarmt er. Über dem Werkhof liegt ein gleichmässiges Dröhnen. Ein Kran entlädt Eichenstämme von einem Laster. Eine Breitbandsäge schneidet die Rundhölzer zu vier Zentimeter dicken Brettern. Arbeiter stapeln sie und entfernen die Rinde. Für sieben Wochen gelangt das Holz in die Trocknungskammer. Handwerker schneiden, sortieren, hobeln, pressen und verleimen es. Sie fabrizieren genauso viel, wie ihre Kollegen in Herisau bestellen, «keinen Millimeter mehr», betont Huber. Mit Plastikfolien umwickelte Fensterkanthölzer gelangen auf Lastwagen, die sie ins Appenzellerland und zu deutschen Händlern fahren.

Bei der Verarbeitung der Stämme fallen zwei Drittel des Holzes weg. Die Späne lagern in zwei Silos, auf denen je eine Schweizer und eine ukrainische Flagge flattert. Mit dem Restholz heizt Huber die Trocknungsanlage. Und er lässt Briketts pressen, die Baumärkte ihm abkaufen.

Ein Eichenstamm wird in die Sägerei der Divario in Iwaniw in der Ukraine transportiert. Divario verarbeitet Eichen vor Ort zu Elementen, die an die Huber Fenster AG nach Herisau AR geliefert werden.

 

Es sei sein Ehrgeiz gewesen, «in der Ukraine etwas Gutes aufzubauen», so Huber. Es ist ihm längst gelungen, zufrieden gibt er sich nicht. Nun möchte er in der Nähe der Fabrik auf brachliegenden Äckern einen Eichenwald anlegen, mindestens zehn Hektaren gross. Und er will dem Land helfen, das ihm seit Jahren hilft.

Drei Autostunden nördlich von Hubers Fabrik, in Iwankiw, betritt Nathalia Kniazeva eine helle Stube. Sie schaut sich um und strahlt. «Ich bin glücklich, wieder ein Haus zu haben», sagt sie und schluchzt. «Es ist schöner, als ich es erwartet habe.» Huber nimmt sie in die Arme. Das Holzhaus, in das Nathalia Kniazeva mit ihrer neunjährigen Tochter Slata und ihrem achtjährigen Sohn David einziehen, hat der gute Mann aus Herisau in die Ukraine bringen lassen. Vor drei Monaten schickten ihm Mitarbeiter Bilder aus der Region von Iwankiw. Russische Soldaten hatten hier Häuser mit Kanonen beschossen und zerstört. Seither ist Familie Kniazeva obdachlos.

Ein Fischer neben einer zerstörten Brücke in der Nähe der Ortschaft Katyuzhanka in der Ukraine.

Die Fotos wühlten Huber auf. «Da musste ich etwas tun.» Zumal zwei Millionen Menschen in der Ukraine ohne Strom und Heizung leben, der Winter nah ist. Mit einem Bündner Unternehmer entwickelte er ein Holzhaus, das eine Familie mehrere Jahre beherbergen kann. Ukrainische Handwerker lernten in Savognin GR, das Haus zu bauen, zu zerlegen und wieder aufzustellen. Sie fuhren es nach Iwankiw – und stellten es in Kniazevas Garten. Nun bauen sie weitere Häuser in der Ukraine.

«Es ist genau das, was wir brauchen, möglichst viele davon», sagt Iwankiws Bürgermeisterin Tetiana Svyrydenko. Sie teilt die Häuser den Familien zu. Ihre Gemeinde besteht aus 80 Dörfern, 2100 Gebäude seien beschädigt oder zerstört worden.

Der kleine David zeigt Huber ein Spielzeugauto, das er aus den Trümmern hatte retten können. Mit beiden Händen hält er ein Lama aus Stoff, das ihm der Mann mit der tiefen Stimme zusammen mit dem Holzhaus aus der «Shveytsariya» – der Schweiz – mitgebracht hat.

Martin Huber übergibt das fertig gebaute Tiny Haus an die Familie Kniazev. Tochter Slata, Sohn David und Mutter Nathalia Knazieva.

Aus Kiew angereist ist der Schweizer Botschafter in der Ukraine Claude Wild, 58. Er spricht den Menschen Mut zu. Und er dankt Huber, nennt ihn «einen Unternehmer mit dem Herz auf dem richtigen Fleck». Mehr als nette Worte hat er nicht gebracht. Beamte in Bern würden zuerst prüfen, ob der Bund die Holzhäuser mitfinanzieren könne. Oder ob sie doch lieber Zelte aufstellen werden. Die Ukrainer hätten keine Zeit zu warten, sagt Huber. Bisher hat er Geld für sechs Häuser gesammelt. Abgeblitzt ist er vorerst bei der Glückskette. Sie hat zwar 120 Millionen Franken Spenden für die Ukraine erhalten. Huber aber fehle das Zertifikat eines herkömmlichen Hilfswerks. Er investiert eigenes Geld – und viel Zeit, um das Projekt voranzutreiben. Seine drei Söhne führen das Unternehmen. Er ist einer von 130 Angestellten – 85 in Herisau und 45 in der Ukraine.

Der Schweizer Botschafter in der Ukraine, Claude Wild, besucht ein von Russen zerstörtes Haus in Iwankiw in der Ukraine,

Es ist kurz vor 19 Uhr, ein warmer Abend. Blaue Trams, die einst aus Zürich nach Winnyzja kamen, transportieren Menschen durch die Stadt. Die Sonne wirft lange Schatten. Arbeiter wischen Glassplitter weg. Teddybären gemahnen an 26 Menschen, die am 14. Juli starben. Von einem U-Boot im Schwarzen Meer aus haben russische Matrosen fünf Raketen auf Winnyzja geschossen. Versengter Teer und ein Loch in der Strasse zeugen vom Einschlag beim Krankenhaus. Soldaten bewachen das Gelände, die Tramhaltestelle ist geschlossen. Ohne etwas zu sagen, schaut sich Huber die Verwüstung an, macht Fotos. Lange bleibt er nicht. Er dreht sich ab und geht schweigend weg. Die Russen haben seine Stadt angegriffen.

Martin Huber vor dem zerstörten Geschäftshaus im Zentrum von Winnyzja. Am 14.7 schlugen im Zentrum von Winnyzja mehrere russische Raketen ein. Es starben mindestens 24. Menschen.