Der Büchermann
Peter Graf hat sich über die Jahre das grösste Antiquariat der Schweiz angelegt. Heute lebt er inmitten von 100 000 Büchern. Er liest, weil geschriebene Geschichten bei ihm stärkere Erinnerungen hinterlassen als Bilder.
Es begann auf dem Schoss der Grossmutter. Sie blätterte das «Gelbe Heft» durch und schaute die Fotos an, der kleine Peter aber wollte wissen, was die Buchstaben unter den Bildern der Illustrierten aus dem Hause Ringier bedeuteten. Deshalb fing er an, die Bildlegenden zu lesen, zuerst mithilfe der Grossmutter, bald konnte er es allein. Seither liest er.
Heute besitzt der 75-jährige Psychiater über 100 000 Bücher, wohl das umfangreichste private Antiquariat der Schweiz. Die meisten Werke stehen oder liegen bei ihm zu Hause, im alten Zehntenhaus der Gemeinde Lupsingen BL, dort, wo der Schultheiss einst die Steuern des Volks entgegennahm. «Bücher hinterlassen bei mir Erinnerungen, wie kein Bild das kann», erklärt er seine Lust am Lesen.
Zur Welt kam Peter Graf kurz nach dem Krieg, geboren in eine arme Familie, die im aargauischen Mellingen lebte. Die Bibel und das naturheilkundliche «Kräuterbuch» von Pfarrer Künzle waren die einzigen Bücher, die die Familie besass, für mehr fehlte das Geld. Peter aber sehnte sich nach Geschichten. Jeweils zu Weihnachten und an Geburtstagen erhielt er ein neues Buch. Das erste war «Die hölzernen Männer», 1933 verfasst von Heinrich Maria Denneborg, «ein Roman für fröhliche Leute von neun bis neunzig Jahren», so der Untertitel. Peter Graf hatte es gelesen, bevor er mit der Schule anfing.
In seinem Haus riecht es nach gedrucktem und gebundenem Papier. Er habe «alles», betont er. Sachbücher. Romane. Lyrik. Kinder- und Jugendbücher. Bilderbücher. Fotobände. Lexika. Wörterbücher.
Er sitzt an einem Tisch im Estrich. Bis unter die hohe Decke stapeln sich Bücher. Sie stehen in Gestellen, liegen in Papiersäcken, sind in Kommoden verstaut und bedecken den Boden. Einen Schrank hat er gefüllt mit Varianten des «Till Eulenspiegel». Den «Lederstrumpf» besitzt er aus verschiedenen Jahrzehnten, ebenso «Onkel Toms Hütte» oder «Robin Hood.» Aus zehn Jahrzehnten hat er Zeitschriften, darunter die «Schweizer Illustrierte», den «Nebelspalter» und den «Spiegel».
Er hebt den rechten Arm und zeigt, wo die angelsächsische Literatur steht, wo die deutsche, wo die französische, er führt zum Hesse-Gestell, zu einer kniehohen Beige mit Sartre, zum Thomas-Mann-Kasten, dem Simone-de-Beauvoir-Schrank, zu «Heidi».
Er finde jedes Buch, sagt Graf, dabei hat er nur einen kleinen Teil der Sammlung – etwa 6000 Stück – in einem digitalen Katalog erfasst. Der Rest sei «eine über die Jahre gewachsene Ordnung». Den leicht vergilbten Stapel dünner Taschenbücher nennt er «einer meiner Schätze». Es sind die Lesebücher des 20. Jahrhunderts der Schweizer Kantone. Generation nach Generation hat damit lesen gelernt.
Graf reichte das Lesebuch nicht. Die Geschichten, die er zu Weihnachten und zum Geburtstag erhielt, waren dem Buben zu wenig. Nachdem die Eltern ihm eine Bibliothekskarte besorgt hatten, schien ihm alles möglich. Denn er las aus Neugier, er wollte wissen, wie die Welt aussieht und was dort passiert. Ein wichtiges Buch war für ihn der Universal-Atlas, in dem er Flüsse, Seen und Ozeane entdeckte, Gebirge, Wälder und Steppen fand. Schon in der ersten Klasse kannte er alle Länder und deren Hauptstädte. Später verschlang er Abenteuerromane und Entdeckerliteratur.
Tatsächlich herumgekommen sei er wenig, sagt Graf, das Haar etwas zerzaust, am Hals hängt eine Lesebrille, er trägt eine verwaschene Jeans, ein grob kariertes Hemd und Birkenstock-Sandalen ohne Socken. «Ich habe die Welt in Büchern bereist.» Einmal flog er nach Nordamerika, sonst blieb er in Europa, oft in der Schweiz.
Brachte der Deutschlehrer ein Drama von Schiller in den Unterricht, besorgte er sich alle Dramen von Schiller. Der Gymnasiast kaufte sie für einen Franken im Antiquariat.
Graf studierte nicht Literatur, sondern Medizin, weil er Angst hatte, sich in den Geschichten zu verlieren, darin «zu ertrinken», wie er sagt. Tagsüber beschäftigte er sich fortan mit Herz, Niere, der Lunge und Blutbahnen, nachts tauchte er in literarische Welten ein.
Er entwickelte Lehrmittel für Pflegeschulen, unterrichtete und eröffnete eine psychiatrische Praxis. Und er begann, eigene Geschichten zu schreiben, meist von Hand. Weil er die Verbindung vom Kopf zu den Fingern in die eigene Schrift als wahrhaftiger empfindet als zu einer Tastatur. «Wenn ich von Hand schreibe, dann kommt etwas zurück.»
Vor fünf Jahren veröffentlichte er eine erste Kurzgeschichte, im nächsten Frühling erscheint ein Buch mit 42 weiteren. Es heisst «Nachkriegskind» – wie Graf eines ist.
Zwar erlebte er den Krieg selbst nicht, aber die Wunden, die er bei seinen Eltern und Verwandten hinterlassen hatte. Als er acht Jahre alt war, fand der Vater eine Stelle in Basel, die Familie zog aus dem Aargau weg. Seine Kindheit verbrachte er in den 1950er-Jahren. Einem Jahrzehnt, in dem es vor allem aufwärts ging, viele Wünsche erfüllt wurden, das Essen besser wurde, man nach Amerika schaute und sich von der Technik begeistern liess.
Graf dachte als Teenager daran, Pilot zu werden. Doch er wollte eine Familie und deshalb ein geregeltes Leben mit einem geregelten Beruf. Mitte der 1980er-Jahre zog er mit seiner Frau und den vier Kindern ins Zehntenhaus von Lupsingen, 1717 erbaut, mit hohen Räumen, damit die Realien Platz fanden, die das Volk abzuliefern hatte, Hafersäcke, Vieh, geschlagenes Holz.
Der Aargauer tauchte ins basellandschaftliche Dorfleben ein. Auf dem Dorfmarkt stellte er einen Bücherstand auf, der jedes Jahr wuchs, bis er einen ganzen Lastwagen mit Büchern füllen konnte. Damals entschied er sich, sie zu behalten, um im Pensionsalter ein kleines Antiquariat zu betreiben. Er war, eben 49 Jahre alt, zum Sammler geworden, suchte nun Brockenhäuser auf und war dabei, wenn Kinder die Wohnungen ihrer betagten oder verstorbenen Eltern räumten.
Er schaute sich die Bücher an, nahm Wertvolles und Wichtiges mit, unterbreitete Angebote und beriet Nachfahren, was sie mit den übrigen Büchern tun sollten. Oft füllte er seinen Mercedes-Kombi, in dem 16 Bananenschachteln Platz haben. Er brachte sie nach Lupsingen und sortierte sie unten im ehemaligen Stall. «Was mich persönlich interessierte, kam zuerst auf meinen Nachttisch.»
Als das Dichter- und Stadtmuseum von Liestal BL 2001 in ein neues Haus zog, bewarb er sich erfolgreich für den Laden im Parterre – und führte 22 Jahre lang das Poete-Näscht. Unlängst hat er das Antiquariat in eine Genossenschaft überführt, damit er mehr Zeit zum Schreiben hat.
Aufgehört zu lesen habe er nie, betont Graf. Als die Kinder klein waren, habe er etwas weniger Zeit gehabt, dann hörte er sich Bücher im Auto auf der Fahrt zur Arbeit an. Heute nimmt er sich einmal die Woche einen Tag heraus, allein um zu lesen. Dann kauft er eine Tageskarte der SBB, fährt durch die Schweiz – und liest im Zug.
Graf bezeichnet sich als Lustleser. «Ich lese assoziativ, was mich gerade packt, nicht systematisch.» Er möge den «Melnitz» des Schweizer Autors Charles Lewinsky. Und die Romane des Amerikaners Kent Haruf. Bei Goethe entdecke er «immer wieder Hochpolitisches». Mehrmals las er Manns «Zauberberg» und die «Buddenbrooks». «Alexis Sorbas» ist eines seiner Lieblingsbücher. Erich Kästner und Astrid Lindgren las er schon als Kind, und er liest sie als Mann immer noch.
Einen E-Reader besitzt er nicht. Fährt er in die Ferien, braucht er eine halbe Stunde, um den Koffer zu packen, aber zwei Wochen, um die Bücher auszusuchen, die er mitnimmt. Was er gelesen hat, lässt er in den Ferien zurück. «Im frei werdenden Platz nehme ich jeweils einen Rollschinken heim.»
Wie viele Bücher hat er gelesen? «Keine Ahnung.» Auf seinem Nachttisch liege derzeit Milan Kunderas «Abschiedswalzer», vom unlängst verstorbenen tschechischen Autor. Er sitze nicht auf seinen Büchern, betont Graf. «Sucht jemand etwas, und ich habe es, dann gebe ich es raus.»
Es geht ihm nicht ums Geld, er sucht nicht nach Wertvollem, das er teurer verkaufen könnte. Einmal fand er in einem Buch einen Brief von Hermann Hesse an Thomas Mann, in dem Hesse vor den Nazis warnte. Das Hesse-Archiv kaufte ihm den Brief ab. Zwei oder drei Jahre habe er einen Gewinn erzielt, meist aber eine schwarze Null geschrieben oder draufgelegt. «Meine Belohnung waren immer Bücher.» Der Sammler sieht sich als «Vermittler guter Geschichten, als Anreger zum Lesen.»
Wie bei vielen anderen Sammlern fehlt ihm die Antwort auf die Frage, was mit der Sammlung nach ihm passiere. «Das weiss ich noch nicht.» Er sei dabei, zu verkleinern, zu spezialisieren, zu veredeln und zu verkaufen. Und er gibt einiges ins Altpapier, vornehmlich Bücher, die er heute anders beurteilt. Sachwerke, die überholt und nicht mehr gesucht seien. Aus dem Sammler ist ein «Veredler und Bestatter» geworden, wie er sagt. Damit er später die Einzelteile davon verkaufen könne. Keinesfalls soll die Sammlung zur Bürde für die Familie werden.
Seine Frau höre gerne Podcasts und Hörbücher. Zwei seiner Kinder lesen viel, die beiden Töchter, ein Sohn liest kaum, der andere nur in den Ferien. «Der älteste Sohn hat mir gesagt, ‹wenn man bei dir räumen muss, dann bin ich in Neuseeland›.»