Kanonen machen Schnee unter dem Sternenhimmel am Hang über der Lenzerheide.

AlpTraum

Kameltouren auf der Alp, Skifahren im Kunstschnee, rundum braune Hänge: Zum Jahreswechsel geben die Berge ein seltsames Bild ab.

Peter Hossli (Text) Pascal Mora (Fotos) 01.01.2017 SonntagsBlick

Kanonen machen Schnee unter dem Sternenhimmel am Hang über der Lenzerheide.

Sterne funkeln am wolkenlosen Himmel. Es ist kalt, die Luft frisch, herrlich der Blick auf die schroffen Alpenfelsen.

Nur ein klirrendes Surren stört das Bergidyll. Es ist drei Uhr früh über der Lenzerheide GR. Schneekanonen jagen jede Sekunde neun Liter Wasser in die klare Nacht. Zu Boden rieselt, womit die Natur dieses Jahr knausert: Schnee. Oder zumindest etwas, das wie Schnee aussieht.

Das Bild passt zum Rekord, den die Skination Schweiz soeben aufgestellt hat: Seit Messbeginn 1864 lag an Heiligabend nie so wenig Schnee. Seit 1980 schrumpft die Schneedecke in Lagen unter 1300 Metern stark. In höheren Gebieten sinkt sie in der wichtigen Frühsaison deutlich.

Und doch kann man den schneearmen Winter auf zwei Arten sehen.

Für Alpen-Optimisten ist vieles wie eh und je. Freudig fahren sie Ski. Lehrer bringen den Kleinen erste Bögen auf den Brettern bei. Würste brutzeln auf Terrassen. Grimmig reichen Bauern die Liftbügel.

Pessimisten hingegen nennen den Anblick brauner Hänge «traurig».

Beschneite Piste im Skigebiet rund um Sillerenbühl in Adelboden.

Doch es stimmt: Skifahren ist möglich. Viele Pisten sind besser als letztes Jahr. Echter Schnee liegt aber nur weit oben. Wochenlang fiel keine Flocke.

Was weiss neben braunem Gras liegt, sind kleine Kugeln: «technischer Schnee», wie Kunstschnee präziser und verharmlosend heisst.

Über 15000 Lanzen und Kanonen produzieren ihn. Aus Wasser und Strom. Pistenbullys walzen ihn zu Bändern. Rechts wie links ist es braun. Kühe grasen, Biker blochen.

Eng wirds auf Pisten. Weil sie schmaler sind als sonst. Anfänger teilen die weissen Streifen mit Renn- und Tourenfahrern, Carvern und Snowboardern. Die Unfallgefahr steigt.

Auf der Tschentenalp über Adelboden BE trotten zwei Kamele den Wanderweg entlang. Die Sonne strahlt. Auf Trampeltieren hocken strahlende Kinder. Statt Schnee sind Wüstenschiffe die Attraktion. Auf der Alp mit der fantastischen Fernsicht lässt sich kein Kunstschnee zaubern.

Das Berg-Restaurant aber muss Löhne und offene Rechnungen zahlen.

Kamelreiten auf der Tschentenalp oberhalb von Adelboden.

Deshalb holte der Wirt zwei Kamele auf den Berg. «Bis am 2. Januar sind sie da», sagt Züchter Johann-Ulrich Grädel (63). «Dann kommt Schnee.» Er zupft an Farina, der 16-jährigen Stute mit buschigem Kopf. Hinter ihr steht Hengst Dahib (13). Kinder streicheln die Tiere. Erwachsene posieren für Selfies mit Kamelen.

Einen Fünfliber kostet der Ritt. Ganz wohl ist Grädel dabei nicht. «Schneit es nicht bald, ist die Wüste hier.» Nächste Woche soll sich das Hoch verziehen, das den Niederschlag bisher verhindert.

Es ist kurz vor drei Uhr nachts. Ein steiler Weg führt zur Talstation Pedra Grossa in Lenzerheide. Schneeketten sind nicht nötig. Am Berg bewegen sich leuchtende Punkte: Bullys, die Pisten präparieren.

Einen lenkt Bruno Muri (39), gelernter Bäcker-Konditor. 2003 wollte er etwas Neues erleben. Nun gebietet er über ein Hightech-Arsenal: Jede Kanone ist mit einer Wetterstation versehen. Ist es kalt und trocken, beschneien sie.

Der gelernte Bäcker-Konditor Bruno Muri lenkt heute einen Pistenbully und präpariert in der Lenzerheide Kunstschneepisten.

Muri sitzt in der warmen Kabine, blickt auf den Bordcomputer, bewegt Raupen per Joystick. 500000 Franken kostet das Gefährt, das der Luzerner jede Nacht lenkt. «Um Menschen ein Lachen auf die Lippen zu zaubern.»

Heute zerzaust Wind den neuen Wurf. Umso rascher präpariert ihn Muri. Stoisch kraxelt er über den Hang. 15 Fahrzeuge sind unterwegs. Sie verbrennen pro Nacht so viel Diesel wie ein Einfamilienhaus im Jahr. Ein Kilometer Piste koste eine Million Franken, so Muri.

Gemäss Pro Natura wurden 2014 in der Schweiz 2730 Kilometer Piste beschneit.

Hochgerechnet lägen die Kosten für die künstliche weisse Pracht bei 2,7 Milliarden Franken.

Eine horrende Summe, weiss Muri. Aber: «Es geht nicht anders: Bieten wir keine Pisten an, gehen die Gäste woanders hin.» Dann leiden alle. Die Bergbahnen. Lädeli. Hotels. Ski-Vermieter. Der Alpenraum. Technischer Schnee stoppt den Aderlass in grossen Orten wie Lenzerheide, Laax, Adelboden, Zermatt. Tiefere Regionen darben.

Alte Winterworte verschwinden: Pulver gut und Tiefschneewedeln. Neue kommen: Speichersee und Schneelanze. Statt Lawinen- herrscht Waldbrandgefahr.

Künstlich beschneit wird in der Schweiz seit 40 Jahren. Oft belächelt, von Umweltschützern angefeindet war Savognin GR als Pionierin. Heute graben viele die Berge um, verlegen Wasser-, Strom- und Datenleitungen, setzen Kanonen und Lanzen. Die Hälfte der Schweizer Pisten kann beschneit werden. In Österreich sind es 80 Prozent, in Südtirol in Italien gar 95.

Gegen 25 000 Kubikmeter Schnee können Muri und sein Team in 24 Stunden machen. «Allein aus Trinkwasser», sagt er. «Ein Naturprodukt.» Auf der Zunge zergeht es nicht so zart wie Neuschnee. Kunstschnee schmeckt wie er heisst: technisch.

Die Anlagen sind durstig. Laut Pro Natura verbrauchen sie jährlich 18 Millionen Kubikmeter Wasser, wie 140000 Haushalte. Trotz dreier Speicherseen werde das Wasser in Lenzerheide knapp. Muri witzelt: «Wir sollten im Winter weniger duschen.»

Frisch geduscht sitzt Thomas Zumstein (54) im Sessellift. Der hebt ihn vom braunen Tal auf die weissen Bänder, die Muri in der Nacht zuvor präpariert hat. «Ein Kompliment an die Pistenleute», sagt er. «Im Dorf glaubt keiner, man könne Ski fahren.»

Zumstein betreut Grosskunden für Ricola. Kunstschnee sei härter, nach drei Tagen schleife er die Kanten neu. «Aber es fährt sich gut.» Richtiger Winter sei das nicht mehr. «Ich habe mich aber ans Braun gewöhnt.»

Besucher im Zauberwald in der Lenzerheide. Eine Alternative zum Skifahren.

Dabei ist nicht einmal Kunstschnee sicher. Dafür sind Minustemperaturen von 3,5 bis 4 Grad nötig. Ist die Luft sehr trocken, geht es auch bei knapp unter null. Klimaszena-rien für die Schweiz gehen von mittleren Temperaturerhöhungen im Winter um 1 Grad bis 2030 und 1,8 Grad bis 2050 aus. Das heisst weniger Beschneiungstage.

Längst tüfteln Techniker an temperaturunabhängiger Beschneiung. Und decken Gletscher im Sommer ab. Davos etwa lagert im Frühling übrigen Schnee unter Sägemehl.

Nach Mittag stellen viele die Ski in den Keller. Der Schnee ist zu eisig. Sie machen Fackelläufe statt Fackelabfahrten oder Yoga im Freien. Laax GR hat für Tubing-Gäste einen Wakeboard-Lift auf den Berg geschleppt. Für Wanderer bleibt am Caumasee extra der Kiosk geöffnet.

Der Lenzerheider Zauberwald lockt mit Weihnachtsmarkt und Kunst. Grosse wie Kleine reden mit Bäumen, bestaunen leuchtende Greifvögel, schlecken leuchtende Zuckerwatte, sitzen auf leuchtenden Schaukeln.

Fotografiestudent Leonard Krättli (25) schlendert hier mit Freunden. «Skifahren gehört ins 20. Jahrhundert, das ist vorbei.» Für ihn sind schneearme Tage «eine Chance, irrsinnige Projekte wie Olympische Spiele zu stoppen». Der Zauberwald? «Die Zukunft des Winters.» Klein, gesellig, schneeunabhängig.

Picknicken beim Kinderland Falera GR.

Um 14.30 Uhr schwebt die Gondel vom famosen Crap Sogn Gion ins Tal nach Laax, über braune Flächen und grüne Tannen. Keine Wolke trübt das Blau des Himmels. Oben trägt die Welt ein weisses Kleid, ist voll fröhlicher Menschen. Unten ist sie grün, wirkt nackt.

Dorthin gleitet Raffi Hutter (30): «Nachmittags ist es mir zu eisig», so der Recyclist aus Dietikon ZH. Er steht früh auf, fährt hoch zum Gletscher. «Kunstschnee ist gefährlicher, es hat zu wenig Platz.»

Beim Kinderland Falera GR macht die dreijährige Tochter von Jürg (42) und Olivia Ackermann (33) erste Versuche im Schnee. «Für Kinder reicht Kunstschnee», sagt sie. «Wir -Eltern picknicken in der Wiese.» Da bleiben die Hosenböden trocken. «Der Winterzauber aber ist weg.» Jürg Ackermann strikt: «Ich fahre nur auf Naturschnee.»

Der Sessellift in der Lenzerheide schwebt über grasende Kühe in die Höhe.

Touristen pendeln dorthin, wo es Schnee hat, egal wo sie übernachten. Bauingenieur Robert Rettby (64) macht Ferien in Rougemont VD, drei Pisten nur sind offen in der Region Gstaad. Jeden Tag fährt er 30 Minuten mit dem Auto nach Adelboden. Zum technischen Schnee. «Hier macht es Spass.»

Und es hat frei Parkplätze. Weil die meisten Tagestouristen fernbleiben. Es hat mehr Platz auf Sonnenterrassen. Doch sonnt man sich auf Sillerenbühl und hört dabei dröhnenden Schneekanone, sehnt man sich an schlechte Schlager von einst – und nach echtem Schnee.

Vielleicht schneit es ja bald. Das würde die Optimisten bestätigen. Und die Pessimisten freuen.

Eine Schneekanone wird in den frühen Morgenstunden des 29.12.2016 verschoben, bei der Traverse vom Stäzerhorn zu Lavoz im Skigebiet Lenzerheide-Valbella.