Ich war der Goalie in Auschwitz

Der Waliser Ron Jones geriet in Libyen in deutsche Kriegsgefangenschaft. 1943 kam er nach Auschwitz und stand jeden Sonntag im Tor der walisischen Nationalelf. Der 95-Jährige blickt zurück.

Von Peter Hossli (Text) und Mark Chilvers (Fotos)

jones_aufmacherEs nieselt, ist kalt. Frisch riecht das Gras auf dem Fussballfeld im walisischen Dörfchen Bassaleg. Ein einziges Tor steht mitten auf dem unebenen Platz. Zwischen den Pfosten aufgestellt hat sich Ron Jones. Sachte bückt er sich zum Ball, der auf ihn zukullert, hebt ihn auf und wirft ihn behände zurück.

Er schmunzelt. «Fussball zu spielen, bringt Erinnerungen zurück.» Erinnerungen, die er jahrelang verdrängt hatte. An einen Ort, der wie kein anderer für die Unmenschlichkeit von Menschen steht. Es sind Erinnerungen an Auschwitz.

Jones, ein grosser, kräftiger und rüstiger Mann, ist 95 Jahre alt. Er verbrachte dreieinhalb Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft, 15 Monate davon in Auschwitz in Polen. Dort schuftete er unentgeltlich in einer Fabrik der IG Farben, stellte für die deutsche Wehrmacht Treibstoffe aus Kohle her.

Jeden Sonntag, als die Schloten ruhten, spielte er Fussball. «Ich war in Auschwitz der Goalie der walisischen Nationalelf», sagt Jones.

team_jonesDort, mitten in der schlimmsten Tötungsanlage des Holocaust, wo Deutsche über eine Million Juden ermordeten, spielte er gegen Iren, Schotten und Engländer. «Fussball brachte uns auf andere Gedanken. Das Spiel lenkte uns vom täglichen Horror ab. Später», sagt er, «rettete der Fussball mein Leben.»

Seit 1948 bewohnt Jones ein zweistöckiges Wohnhaus an der Highfield Road in Bassaleg, eine halbe Autostunde östlich von Cardiff. Er sitzt auf einen roten Schaukelstuhl in der Stube. An den Wänden hängen ein Hochzeitsfoto, ein Bild, das ihn als Soldat zeigt, Fotos der Enkelinnen.

Mit 23 wurde er 1940 eingezogen, «wegen eines Fehlers», wie er sagt. Er arbeitete in Cardiff als Drahtzieher bei einem Stahlkonzern, erfüllte «kriegswichtige Aufgaben», was ihn vom Dienst befreien sollte. Eine Sekretärin verlegte aber den Brief ans Ministerium, der das bezeugte.

soldatStatt Drähte zu beugen, gelangte Füsilier Jones nach Nordafrika, kämpfte in Libyen im «Welch Regiment» gegen die 21. Panzerdivision des deutschen Generalfeldmarschalls Rommel. An einem klaren Januarmorgen 1942 stieg er in Bengasi auf einen kahlen Hügel. Deutsche Panzer überraschten ihn. «Hände hoch», schrie ein Soldat, «der Krieg ist für dich jetzt vorbei.»

Neun Monate verbrachte Jones in Italien als Kriegsgefangener, erst in Neapel, dann in Brindisi, zuletzt in Rom. Er meldete sich freiwillig zur Versetzung nach Turin. Italienische Autofabriken heuerten Ingenieure an, hiess es. Statt nach Westen fuhr der Nachtzug von Rom nach Osten. Auf dem Brennerpass stieg er in einen Viehlastwagen um, war eingepfercht mit Dutzenden anderer Häftlinge. «Wir stoppten vier Tage nicht mehr», sagt Jones. «Eine der Ecken diente uns als Toilette.»

Nachts hörte er Schüsse
Im Oktober 1943 kam der Korporal in Auschwitz an. «Ich stank, war schmutzig, unrasiert.» Jones schämte sich. Nur kurz. «Im Vergleich zu den Menschen, die ich dort erblickte, ging es mir bestens.» – «Skelette in gestreiften Pyjamas gingen umher.» Sie hoben Gräben aus, schleppten Rohre, legten Leitungen. Wer sind sie?, fragte er einen Wächter. «Juden.» Jones verstand kaum Deutsch. «Jews», übersetzte der Wächter auf Englisch.

«Ich hatte damals keine Ahnung, dass die Nazis in Auschwitz Juden ermordeten.» Jones begriff es, als der Wind in seine Richtung drehte. «Plötzlich stank es fürchterlich.» Der Gestank kam von Krematorien. «Wir rochen Leichen.»

ron_jonesJones war einer von 1400 britischen Kriegsgefangenen in Auschwitz, untergebracht im Lager mit der Kennzahl E715. Es lag direkt neben der IG Farben, unweit vom KZ. Die Waffen-SS verwaltete das Vernichtungslager, die deutsche Wehrmacht war zuständig für E715.

Juden und Polen, mit denen Jones arbeitete, erzählten ihm, was auf der anderen Seite des Stacheldrahtzauns geschah. Nachts hörte er Schüsse, nicht zufällige, sie ertönten in rhythmischer Folge. «Es waren Exekutionen.» Als Jones den Schornstein reinigte, erblickte er Züge, beladen mit abgemagerten Wesen. Er sah Wächter, die Juden mit Gewehrkolben erschlugen, sie erschossen oder aufhängten.

Sein Lager war vergleichsweise feudal. «Es gab Duschen und Toiletten zum Sitzen», sagt Jones. Mit 18 Mann teilte er eine Baracke. Regelmässig schaute das Rote Kreuz vorbei. «Die Rot-Kreuz-Vertreter sahen, wie wir einem verbeulten Leder hinterherhetzten», erzählt er. «Sie brachten uns neue Bälle, dazu kurze Hosen, Schuhe und Trikots.» Weisse Leibchen für die Engländer, grüne für Iren, schwarze für Schotten, rote für Waliser. «Ich war sehr fit, und ich war ein sehr guter Goalie.» Jones amtete als Captain – und gesteht: «Wir waren weniger als elf Spieler, die wirklich aus Wales stammten.»

emblemAls Einziger trug er das echte Emblem des walisischen Fussballverbandes auf der Brust. Er hatte es aus alten weissen Socken gestickt. Noch heute besitzt er das Abzeichen, bewahrt es in einem Couvert auf, zusammen mit dem Mannschaftsbild vom Sommer 1944.

Zivile polnische Fotografen machten das Bild. Je eine Stange Zigaretten erhielten sie dafür. Für jeden Abzug verlangten sie ein weiteres Pack der filterlosen Stängel.

Die Spieler auf dem Foto sehen anders aus als Menschen, die man sonst auf Fotos von Auschwitz sieht. Sie tragen saubere Kleider, sind ordentlich frisiert, gut ernährt.

Jeweils in ihren Baracken zogen sich die Fussballer die Leibchen und kurzen Hosen über. Zu Fuss gingen sie zum nahen Spielfeld. Es lag zwischen der IG-Farben-Fabrik und dem KZ. Einst hatte die «Hitler Jugend» das Feld eingerichtet, der Nachwuchsverband der Nazis.

ball_handFussball als Propaganda
Die Briten spielten, «bis wir müde waren». Einen Schiedsrichter hatten sie nicht. Gleichwohl nahmen die Gefangenen die sonntäglichen Turniere ernst. «Jeder spielte für den Stolz seiner Heimat», sagt der Goalie. Hat Wales jemals gewonnen? Daran mag sich Jones nicht erinnern.

Hunderte von Fans jubelten am Spielfeldrand – deutsche Wächter, polnische und sowjetische Gefangene, Briten. Juden oder Roma aus dem KZ waren keine dabei.

Ein kalkulierter Propaganda-Akt der Wehrmacht sei der KZ-Fussball gewesen, heisst es. Die Wehrmacht habe sich bewusst von der Brutalität der SS abgrenzen wollen. Jones siehts anders: «Vielleicht dachten die Deutschen, wir wehrten uns nicht, wenn wir Fussball spielen dürfen.»

Oder sie würden nicht fliehen. Wie in den meisten Gefangenenlagern bereiteten britische Offiziere auch in Auschwitz die Flucht vor – ohne Jones. «Ich war verheiratet, nur Alleinstehende durften es wagen zu fliehen.» Er half jedoch, einen Spion in der Latrine zu ertränken, der einen Fluchtplan störte.

Besseres Essen erhielten die Fussballer nicht. Täglich dasselbe. Zum Frühstück ein Stück Schwarzbrot, über Mittag schimmliger Käse und Wurst, abends eine dünne Kartoffelsuppe. «Ohne Pakete des Roten Kreuzes wäre ich verhungert.»

ringJones schmuggelte öfters Würste aus der Baracke und brachte sie Juden. Joseph, einst ein Juwelier, schmiedete dem britischen Gefangenen einen Ring aus Stahl – als Dank für die Wurst. Kurz darauf war er weg. «Wo ist Joseph?», fragt Jones. «Kaputt», so ein Wächter. «Was heisst das?» – «Gaskammer.»

Jones zieht Josephs Ring vom linken kleinen Finger, zeigt ihn. «Ich trage den Ring Tag und Nacht.»

Tränen kann er unterdrücken, weil er die Geschichte schon öfters erzählt hat. Er sei «eine Art Berühmtheit» geworden. Britische Medien haben über ihn berichtet, er trat in einem Dokumentarfilm auf. Schulen laden ihn für Vorträge ein. Ein Schüler habe ihn einst gefragt, ob er im Krieg getötet habe. Hat er? «Keine Ahnung, ich habe nur in Gruppen geschossen.»
Als «komplex» beschreibt er sein Verhältnis zu den Wächtern. «Nicht alle Deutschen waren schlecht.» Einer lud ihn zu sich zum Essen ein. Ein anderer schickte ihn zum Zahnarzt, als seine Zähne faulten.

hand1Auf 47 Kilo abgemagert
Einer der Feldweibel sei aber «ein mieses Schwein» gewesen. Der machte sich einen Spass daraus, Briten auf hohe Kamine zu hetzen. «Einer meiner Freunde hatte Höhenangst und weigerte sich», so Jones. Der Deutsche zückte eine Lugar-Pis-tole und erschoss ihn. Am nächsten Tag war der Feldweibel weg – versetzt an die Ostfront.

Es war Januar 1945. Auf dem Fussballplatz lag ein Meter Schnee. Die Russen standen vor Auschwitz, berichteten die
Radiosender. Seine Befreiung, dachte Jones. Er sollte sich irren.

Am 21. Januar brach er mit rund 250 Briten zu einem langen Marsch auf. Hitler hatte befohlen, alle Kriegsgefangenen abzuziehen, damit sie nicht in russische Hände fielen. Siebzehn Wochen marschierte die Karawane von Polen über die Tschechoslowakei nach Bayern. Jones schlief in Gräben, in Scheunen, auf Feldern. Er ass, «was Wildtiere assen», sagt er. Wog 82 Kilo, als er Auschwitz verliess – und magerte auf bloss noch 47 Kilo ab.

Wie überlebte er den Marsch? «Die Hoffnung, heimzukommen, hat mich am Leben gehalten.»

Zuletzt habe er es wegen des Fussballs geschafft. «Mein Körper war gut trainiert, und ich gehörte einer Gruppe an, die auch zusammenhielt, als es bei allen nur noch ein Kampf gegen den Tod war.»

Am Handgelenk tickte seine Lebensversicherung, erstanden in Auschwitz. Mit Zigaretten, die ihm seine Frau geschickt hatte, kaufte Jones eine Rolex-Uhr. Auf dem Todesmarsch verkaufte er sie deutschen Wächtern, gegen zehn Laib Brot. «Es schmeckte wie Honig.»

jones_portraitDie Qual endete in Regensburg. Fast hundert Briten waren bereits gestorben, «zurückgelassen am Strassenrand», sagt Jones.

Zuletzt sperrten die Deutschen ihn in eine Scheune – und türmten. Vier Tage harrte Jones aus, bis er heftiges Dröhnen hörte. Er öffnete das Tor und blickte ins Rohr eines amerikanischen Panzers. Die Amerikaner gaben ihm eine neue Uniform, dazu eine Schale mit Cornflakes und einen Pfirsich aus der Dose. Darauf schickten sie ihn zum Entlausen. «Endlich.» Jones lacht. «Dreieinhalb Jahre begleiteten mich diese verdammten Läuse.»

Er kam im April 1945 in Wales an. Glawdys, seine Frau, war schockiert, dieses Bündel Mensch zu empfangen. Sie legte ihn in die Badewanne, liess heisses Wasser ein, pflegte Frostbeulen, Abszesse, abgetretene Füsse, fand kaum Muskeln. Sie weinte, war erschüttert.

Jones: «Ich tröstete sie und sagte, es gibt doch viele Männer, die nicht mehr nach Hause kamen.»
Heute noch hat Jones stets kalte Hände. Jahrelang wachte er mitten in der Nacht auf, schweissgebadet von Albträumen. Tagsüber fiel er in Ohnmacht. «Es dauerte fünf Jahre, bis ich wieder ein Mann war.»

Fussball hätte ihm dabei geholfen. Er ging zurück zum Stahlkonzern GKN. Als Goalie hütete er das Tor des Firmenteams. Spiele bestritt er im Steel Cup, einer Liga unter Stahlfirmen.

Mit 95 fährt er noch Auto
Über Auschwitz redete er nie. «Für mich war es ein Erlebnis, das man am besten vergisst.» Das änderte sich nach dem 82. Geburtstag. Ein Neffe begleitete ihn nach Polen, besuchte mit ihm Auschwitz. «Da glaubte ich, überall dünne Menschen zu sehen.» – «Seither rede ich darüber.»

hossli_jonesJones steht in der Küche, bereitet Tee und Biskuits für seine Gäste vor. Er höre nicht mehr so gut, vergesse schon mal einen Namen. Sonst gehe es ihm «blendend». Der Geist ist wach, er wirkt kräftig. Hinter dem Haus pflanzt er Gemüse. Seit
Glawdys vor sechs Jahren starb, kocht er täglich. Eben erst hat er den Führerschein um ein weiteres Jahr verlängern können. «Ich bereue nichts», sagt Jones. «68 Jahre lang hatte ich eine glückliche Ehe, eine wunderbare Frau.»

Er weiss: «Der Fussball rettete mein Leben.» – «Wir hatten Spass beim Spiel in Auschwitz.» Dann hält er inne. «Aber eigentlich ist es falsch, schöne Erinnerungen an diese Spiele zu haben.» – «Denn wir alle wussten, was auf der anderen Seite des Zauns geschah.»