Begegnungen 2010

Journalistische Geschichten sind gut, wenn sie aktuelle Themen mit Menschen plausibel darstellen. Möglich werden solche Geschichten durch persönliche Begegnungen. Als Reporter bin ich Menschen zu grossem Dank verpflichtet, die mir Zeit geben und Fragen beantworten.

Eine Auswahl von Begegnungen im Jahr 2010:

madagaskarMadagaskar – Madagaskar ist eine fabelhafte Insel. Hier leben Tiere und gedeihen Pflanzen, die es sonst nirgends gibt. Seit einem Jahr hält ein Putsch das Land in Atem und die Touristen fern. Mit fatalen Folgen für die Umwelt. Statt Besucher durch den dichten Regenwald zu führen, schlagen viele Einheimische geschützte Edelhölzer und jagen Lemuren. Ein Motorboot bringt Touristen von zum Masoala National Park. Die Fahrt beginnt sanft, vorbei an Kindern, die vom Ufer winken, an Dschunken, die Lebensmittel transportieren und Fischerbooten, von denen Frauen Crevetten aus dem Fluss ziehen. Dann geht es aufs offene Meer. Wellen so hoch wie Felsen schlagen gegen das Schiff. Jeder klammert sich fest. Angst liegt im Gesicht des fünfjährigen Leonard, der mit dem Vater mitfährt.

nadine_peterNadine Gordimer: Die Stimme Afrikas – Ihr ganzes Leben schrieb sie gegen die Apartheid an. Mit Nelson Mandela ist sie eng befreundet. Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer über Brot, Spiele, die Fussball-WM und den aufkeimenden Rassismus in Südafrika. Sachte öffnet der kräftige Haushälter die Tür des weissen Holzhauses. Es steht in einer ruhigen Strasse in Johannesburg. «Frau Gordimer ist gleich so weit», sagt er und führt am weimaraner Jagdhund vorbei ins Lesezimmer mit Sofa, Stuhl und Nierentisch. An den Wänden stehen in Glasschränken Hunderte von Büchern. «Hallo», grüsst Nadine Gordimer, 86, und stellt ein Tab lett mit zwei Porzellantassen und einer weissen Kanne auf den Tisch. «Wie trinken Sie den Tee? Stark? Milch und Zucker?» «Schwarz, bitte.» Die zierliche Frau trägt Kordhose und Pullover. Sie ist die Stimme Afrikas. Seit 70 Jahren fabuliert Gordimer ironisch übers Leben auf dem Schwarzen Kontinent. Mit 15 publizierte sie die erste von vielen Kurzgeschichten. Es folgten elf Romane und etliche Essays. Zur Welt kam sie in der Nähe von Johannesburg als Tochter eines Litauers und einer Engländerin. In den 50er-Jahren – die Apartheid wurde in Südafrika 1948 gesetztlich verankert – begann sie an der Seite der Schwarzen gegen die Rassentrennung zu kämpfen und anzuschreiben. Als Nelson Mandela 1990 nach 27 Jahren Haft entlassen wurde, war Gordimer eine der ersten Personen, die er traf. Ein Jahr später erhielt sie den Literaturnobelpreis. Sie giesst Tee auf und setzt sich aufs Sofa. Mehr

estelleCote d’Ivoire – Sie sind hungrig auf Erfolg. Ihr grosser Traum ist eine Fussballkarriere in der Schweiz. Erste Station für die kleinen Kicker aus der Côte d’Ivoire ist die Nachwuchsakademie der Young Boys in Westafrika. Ich traf Estelle, 9, und schenkte ihr einen Ball. «Mädchen spielen doch keinen Fussball», lachte mein Fahrer. Estelle sah das anders. In Côte d’Ivoire spielt jeder Fussball. Sie schnappte sich das Leder. Eine Meute Jungs eilte hinterher, wollte mitspielen. Eine halbe Stunde überlässt sie ihnen den Ball. Dann musste sie heim in die Küche. Mit ihrem Ball trottete Estelle weg – überglücklich. Mehr


dmzKorea – Im Auge des Orkans. Säbelrasseln in Korea. Seine Pistole ist geladen. Wie vor dem Hechtsprung liegen die Arme am Rumpf. Die Fäuste hat der südkoreanische Grenzsoldat geballt, alle Sehnen des muskulösen Oberkörpers gespannt. Eine pechschwarze Brille mit goldenen Rändern verdeckt das kantige Gesicht. Vor sengenden Sonnenstrahlen schützen die Gläser – und vor Hypnoseversuchen des nordkoreanischen Wächters. Der steht wenige Meter entfernt. Dünn ist er, trägt Uniform und Helm. Beides erinnert an karges Sowjet-Design. Vom Hals baumelt ein Feldstecher, den er alle paar Sekunden zu den Augen führt. Nonstop starren sich erwachsene Männer am 38. Breitengrad in Korea an. Kameras filmen. Abhörgeräte lauschen. Satelliten äugen. Warten, bis etwas passiert. Seit 57 Jahren. Es ist der letzte heisse Schauplatz des Kalten Kriegs. Ein Flecken, wo der Dritte Weltkrieg jederzeit ausbrechen könnte. Und wo mittendrin fünf Schweizer Soldaten harren. Ihr Auftrag ist klar – sie haben den Krieg zu verhindern. Mehr

steinDer Stein – Sportler stossen ihn. Für die Berner ist er ein Symbol des Friedens, für die Jurassier eine Geisel. Mal wird der Unspunnenstein geklaut, mal geht er verloren. Eine Geschichte, so erstaunlich wie die Schweiz. Er liegt in New York, verborgen in einer muffigen Kellerwohnung. Vier Jurassier bewachen ihn. Es sind Béliers, jugendliche Separatisten, die sich in den USA versteckt halten. Über Umwege erreichte er Amerika. Ein Lieferwagen brachte ihn von Interlaken nach Rotterdam. Auf einem Bananenfrachter reiste er im Herbst 2005 nach Panama. Über Landstrassen gelangte er nach New York, gehüllt in eine Decke auf dem Rücksitz eines Jeeps. Diese abenteuerliche Story erzählt ein Jurassier in New York. Stimmt sie? Vielleicht. Wo er sich heute befindet, wissen nur wenige. Dafür jagen sich Gerüchte, breiten sich Legenden aus. Einmal liegt der Stein in einem Güllenloch, unter dem Eisfeld von Tramelan, dann in den Tiefen des Thunersees, zu Sand zermalmt. Und – diese These hält sich hartnäckig – die Ex-Miss-Texas Shawne Fielding hat ihn in einer Feuerstelle verarbeitet. Mehr

newsroomNewsroom – Freitagnacht, kurz vor elf. Redaktion BLICK in Zürich. Blattmacher Urs Helbling, 48, tippt die Titelschlagzeile: «Stephanie – das Diätwunder». Er sitzt an einem von vier Computern, die noch surren. Daneben schneiden Handwerker den Teppich in viereckige Stücke, reissen diese vom Boden und tragen sie weg. Die Schlagzeile passt, Helbling schickt die Seite an die Druckerei. Es ist heute die letzte. «Ein emotionaler Moment», sagt er. «Vor 21 Jahren habe ich hier angefangen, jetzt verlasse ich diesen Raum – und den alten BLICK.» Ein Techniker löst alle Kabel, die an Helblings Rechner hängen. In der Nacht löscht er die Festplatte und setzt sie neu auf. Ein Packer schraubt Beine von Tischen. Sein Kollege sammelt Telefone ein. Der Umzug verändert die Blick-Gruppe und somit den Medienkonzern Ringier. Die grösste Schweizer Redaktion zieht in einen integrierten Newsroom, ein Grossraumbüro auf zwei Etagen im Zürcher Quartier Seefeld. Mehr

clickGeneration Click –Emre ist 16. In Olten besucht er die Bezirksschule. Dort, wo die Schnellzüge aus Bern, Zürich, Basel sich und somit die Schweiz kreuzen. Morgens weckt ihn ein Smartphone. Auf dem Weg zum Bahnhof berieselt Musik seine Ohren. Kaum ist Emre im Zug, loggt er sich per Telefon bei Facebook ein. Dazu hört er satten Sound. Im Unterricht verschickt er SMS. Über Mittag stöpselt er die Kopfhörer wieder ein. Um vier Uhr nachmittags kommt er nach Hause und startet den Rechner. Emre surft, mailt, spielt und schaut Filme. Über den Chatkanal MSN trifft er jeweils 400 Bekannte. Bis er schläft, surrt sein Computer. Ist Emre wach, ist er online, oft auf mehreren Kanälen gleichzeitig. «Ein Drittel schlafen, ein Drittel Schule und ein Drittel Medien», beschreibt der Schüler seinen Tagesablauf. Ein Sonderling ist der kräftige Kerl nicht. Alle in seiner Klasse, ob Mädchen oder Junge, haben daheim einen Computer und besitzen ein Mobiltelefon. Sie hören Hip-Hop nicht ab CD, sondern über MP3-Player. Das Handy, welches SMS und E-Mails verschickt und die Auffahrt ins Internet schafft, liegt nachts bei den meisten unter dem Kopfkissen. Es ist das letzte Ding, das sie vor dem Einschlafen sehen, und das erste, das sie morgens anfassen. Mehr

lybienDer Einsatz – Ein Plan wie aus einem James-Bond-Film. Was einige Bundesräte in Tripolis vorhatten, erschüttert die Schweiz. Die Details sind geheim. Es kam nicht dazu. Warum? Das werden wir wahrscheinlich nie wissen. Vielleicht fehlte der Mut, vielleicht die Ausrüstung. Vielleicht entdeckte der libysche Geheimdienst die Pläne. Vielleicht war der Bundesrat zerstritten, fürchtete harsche aussenpolitische Folgen. So aber hätte die militärische Geiselbefreiung gemäss Experten erfolgreich ablaufen können. Die Fiktion des Reporters basiert auf Gesprächen mit Militärexperten, in- und ausländischen Geheimdienstlern und einem Ex-Kommandanten der Schweizergarde, der Bewacher des Papstes. Mehr

leuenberger_bildIch bin wahnsinnig eingebildet und habe keine Vorbilder – Moritz Leuenberger überlässt nichts dem Zufall. Bis zum Schluss. «Der Fotograf kommt nicht rein?», fragt er. «Ich bin hier», antwortet der Mann mit der Kamera. Wie die Reporter sitzt er mit am Holztisch in Leuenbergers fast leerem Büro in Bern. «Und Ihre Riesenausrüstung?» – «Ist draussen.» – «Fotografieren Sie nicht jetzt?» – «Nach dem Gespräch.» – «Wo, wie?» Leuenberger wirkt nervös. «Den Ort finde ich, während Sie das Interview geben.» Als sei er der Regisseur, weist er den Fotografen an. «Es braucht doch auch mein Einverständnis.» Zu zweit verlassen sie das Büro. Die Journalisten werden unruhig. Leuenberger wirkt gereizt. Bricht er die ganze Übung ab? Dann kehrt er zurück, lächelnd. Er hat einen Ort gefunden: in der Kantine. Die Szene ist typisch. Leuenberger, vor 64 Jahren geboren und seit 1995 im Bundesrat, versteht es wie kein zweiter Politiker, sich selbst zu inszenieren. Er mag Macht. Und zur Macht gehört Kontrolle. Mehr

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