“Smoke in the Cockpit”

sr11.jpgVor zehn Jahren: Am Abend des 2. September 1998 startet am New Yorker Flughafen John F. Kennedy eine MD-11-Maschine der Swissair. Der Jet trägt das Wappen des Kantons Waadt, die Flugnummer lautet SR 111, der Zielflughafen ist Genf. An Bord sind 229 Menschen aus 21 Ländern. 14 Personen gehören der Crew an. 53 Minuten nach dem Start bemerkt Pilot Urs Zimmermann Rauch im Cockpit. Er versucht, Halifax anzufliegen, musst vorher aber Kerosin ablassen. Um 22.31 stürzt die Maschine acht Kilometer vor Peggy’s Cove in der kanadischen Provinz Neuschottland ins Meer.

Zusammen mit der Fotografin Yvon Baumann flog ich am 3. September 1998 frühmorgens von New York  nach Bangor, Maine. Von dort fuhren wir mit dem Auto nach Halifax. Wir blieben eine Woche und lieferten diese Geschichte ab:

Das letzte Adieu, Facts, 10. September 1998

Die Helfer in der Not: Was Beteiligte in Halifax und Peggy’s Cove nach dem Absturz erlebten

Murielle Provost, Rot-Kreuz-Koordinatorin
In Peggy’s Cove brach Provost in Tränen aus, als ihr zwei Feuerwehrmänner schalkhaft sagen, sie sehe heute müde aus. «Auf euren zynischen Scheiss kann ich verzichten.» Sie wurde am Samstagnachmittag von ihren Kollegen ins Bett geschickt. Sie hatte seit Ankunft der ersten Angehörigen am Donnerstagabend fast pausenlos gearbeitet. Fürs Rote Kreuz koordinierte sie die Errichtung der Unterstandszelte, sie organisierte Decken, baute einen medizinischen Stab für die Betreuung auf. Provost, die auch als Pressesprecherin amtete, sorgte dafür, dass genügend Blumen vorhanden waren. Sie kam auf die Idee, den Angehörigen Teddybären abzugeben. «Damit die etwas zum Kuscheln haben.»

Karin Anderegg, Juristin der Swissair
Ärgern musste sich Karin Anderegg, Generalsekretärin und oberste Juristin der SAirGroup, am zweiten Tag nach dem Crash. US-Medien hatten berichtet, die Swissair würde versuchen, die Opfer mit 20 000 Dollar oder 30 000 Franken zu vertrösten. Damit, schrieben die Zeitungen, sollten Schadenersatzansprüche mit einem Trick abgewendet werden. «Unsinn», sagt Anderegg, die in Halifax Abklärungen vornimmt. «Das ist eine Soforthilfe.» Die Swissair anerkenne die Ansprüche, sie werde bezahlen. Bis jetzt hätte aber noch niemand Geld gefordert, anderes sei wichtiger. «Darüber sprechen vor allem die Medien.» Wie viel jeder bekomme, hänge vom Einkommen oder von Unterhaltsverpflichtungen der Opfer ab.

Vic Gerden, Leiter der Ermittlungen
Niemand tritt in Halifax besonnener und überzeugter auf als Vic Gerden. Auf jede Frage hat der leitende Ermittler vom kanadischen Transportation Safety Board eine präzise Antwort parat. Jede Information, die er bekommt, gibt er sofort weiter. «Wenn immer möglich zuerst an die Angehörigen, dann an die Medien», sagt Gerden während einer seiner Pressekonferenzen im World Trade Center. Auf Spekulation lässt er sich nicht ein. Er diskutiert nur über Fakten. Sein Ziel: Mit den Kollegen aus den USA und der Schweiz will er eruieren, warum die MD-11 vor Peggy’s Cove ins Meer stürzte. Hoffnung auf Aufklärung kommt auf, als am Samstag die Black Box geborgen wird. Doch die letzten Minuten sind nicht aufgezeichnet.

Katherine Morgan, Beistand
Wenige Tage vor dem Absturz des Swissair-Fluges 111 trennte sich Katherine Morgan von Jim, dem langjährigen Partner. Jetzt leistet sie ihrem Ex in Peggy’s Cove Beistand. Sie nimmt ihn in die Arme, wenn er an Land kommt. Jim war der Kapitän des ersten Küstenwachschiffes, das auslief. Sein Ziel: Möglichst schnell Überlebende bergen. Ohne Erfolg. Stattdessen fand er ein totes Baby, später im Meer schwimmende, abgetrennte Köpfe. «Es war schrecklich und unfassbar für ihn, kein einziges Anzeichen von Leben zu sichten», sagt Katherine. Als die Küstenwache die Suche nach Leben für beendet erklärte, erachteten viele ihre Arbeit als sinnlos. Kommen Jim und Katherine wieder zusammen? «Gut möglich», sagt sie.

John Beale, Ladenbesitzer
Acht seiner Angestellten musste der Krämer John Beale in den ersten Tagen nach dem Crash entlassen. Die Kunden blieben aus. Beale betreibt in Peggy’s Cove und im Flughafen von Halifax zwei Läden, in denen er Produkte lokaler Kunsthandwerker, Wollpullover und Ledermäntel verkauft. Weil die kanadischen Behörden den Zugang nach Peggy’s Cove abgesperrt hatten, musste Beale das Geschäft schliessen. Niemand habe sich bei ihm nach den Folgen erkundigt, weder die Swissair noch die kanadischen Behörden, sagt Beale. Darüber sei er «schwer enttäuscht». Nein, profitieren wolle er keineswegs vom Desaster. Er denke nur ans Personal. Beale hat Glück. Am Montagabend ist Peggy’s Cove wieder offen.

Richard E. Walsh, Dorfpfarrer
In der Nacht des Absturzes war der anglikanische Dorfpfarrer von Peggy’s Cove, Richard E. Walsh, sofort zur Stelle. Er versuchte, den Fischern, die die ersten Leichenteile bargen, seelischen Beistand zu leisten. Sein schütteres Haar bedeckt der 60-jährige Priester unter einer Seemannsmütze. Bald war Walsh der heimliche Star in Peggy’s Cove, der Liebling der Medien. Weil er offen spricht, interviewt ihn CNN, für NBC und für TeleZüri spricht er ins Mikrofon. Es sei wichtig, dass die Angehörigen gekommen seien, ist Walsh überzeugt. «Nur so können sie den Verlust verarbeiten.» Er verbringt viel Zeit in der Zone, die den Familien vorbehalten ist. Nur am Samstag hat Walsh eine Verpflichtung: Er verheiratet ein junges Paar.

Arlen Crocker, Bauarbeiter
In seiner Freizeit zimmert der Bauarbeiter Arlen Crocker in Indian Harbour, dem Nachbarort von Peggy’s Cove, Möbel. Einen Gartentisch hat er kurzfristig zur Gedenktafel umgestaltet. Darauf drückt er den Angehörigen sein Mitleid aus. «Es ist das Mindeste, das ich tun kann», sagt Crocker. Er hörte den Krach des Crash von seiner Küche. Dort bereitet Crocker ein Leidmahl zu; seine Stiefmutter wurde am selben Tag beerdigt. «Ich dachte, es seien die Burschen, die oft mit ihren Motorrädern der Küste entlang fahren», sagt er. Erst das Radio klärte ihn auf. Das Unglück habe alle zusammengeschweisst. «Alle waren bereit zu helfen. So sind wir in Nova Scotia.» Er möchte dafür sorgen, dass bald ein SR-111-Denkmal gebaut wird.

Bob Taylor, Leutnant der Küstenwache
Bob Taylor arbeitet seit 25 Jahren für die kanadische Küstenwache. Der Leutnant ist zuständig für die Mobilisierung der lokalen Hilfskräfte. Fischer in der Region um Halifax bietet er innert Stunden auf. Ihre Schiffe werden in funktionstüchtige Bergungskutter umfunktioniert. «Statt Hummer gingen bei einigen Körperteile ins Netz», sagt Taylor. «Es war für alle ein schwer zu ertragender Anblick.» Beeinträchtigt wurden die Mannschaften der Küstenwache durch aufsteigende Kerosindämpfe. «Einigen wurde schwindlig und schwarz vor den Augen», sagt Taylor. Es beteiligten sich 1480 Leute auf See und 245 an Land an der Suche nach Überlebenden. Acht Schiffe und zwei Helikopter der Marine waren im Einsatz.

Anna-Maria Kroeck, Wirtin
Vor zwei Jahren wanderte die deutsche Wirtin nach Nova Scotia aus, «wegen der politischen Situation in Deutschland». In Indian Harbour, dem Nachbardorf von Peggy’s Cove, betreibt Kroeck «The Old Fisher House», eine Frühstückspension mit drei Zimmern. Um dem TV-Team der ARD Platz zu machen, zog Kroeck in den Wohnwagen neben dem Haus. Sie fürchtet, die eben angekauften Schnorchel und Flossen erweisen sich als Fehlinvestition. «Es will hier doch niemand mehr schnorcheln», sagt sie, «wenn da so menschliche Körperteile herumschwimmen.» Sie findet das Unglück «ganz schrecklich». Trotzdem bedauert sie, in dieser Nacht beim Homöopathen in Halifax gewesen zu sein. «Ich musste mir alles vom Nachbarn erzählen lassen.»

Jeffrey G. Katz, Swissair-Chef
Sieben Stunden nach dem Absturz der MD-11 flog der Swissair-Chef an Bord einer Sondermaschine nach Halifax. Der weltoffene Kalifornier, seit anderthalb Jahren Leiter des Fluggeschäfts der SAirGroup, stellte sich der amerikanischen und kanadischen Öffentlichkeit – und entpuppte sich als wahrer Glücksfall für die Swissair. Auch im Umgang mit den nach Peggy’s Cove gereisten Angehörigen zeigte der 43-Jährige Einfühlungsvermögen und Anteilnahme. Die Presse lobte er ausdrücklich für deren «respektvollen Umgang in der für alle schwierigen Situation». Einmal fuhr Katz 50 Kilometer, um zwei Minuten zu reden. Katz war zuletzt Manager bei American Airlines. Er hat 20 Jahre Erfahrung im harten US-Fluggeschäft.

Weitere Geschichten und Reportagen zum Absturz der Swissair-Maschine:

Der letzte Kampf von Raging Bull, Facts, 17. September 1998

Allein mit dem Meer und den Toten, Facts, 1. Oktober 1998

Die Firma fürs Grobe, Facts, 1. April 1999