Von Biasca in den Wilden Westen
Über hundert Tessiner Familien wanderten Ende des neunzehnten Jahrhunderts in die amerikanische Bergbaustadt Butte aus. Dort schufteten sie in Minen, waren Milchbauern, betrieben Saloons und vermieteten Zimmer an Zuhälter. Die Schweiz aber blieb immer in ihrem Herzen.
Warum Mose Vanina damals ging, ist bis heute ein Geheimnis geblieben. Warum der junge Mann das Tessin verliess und von Biasca nach Butte ins ferne Amerika auswanderte, darüber sprach man in der Familie nie. Als wäre es ein Tabu.
Sonst weiss seine Enkelin Joan Filpula Vanina, 87, fast alles über das Leben ihres Grossvaters. Sie sitzt in ihrer Küche in Butte im US-Bundesstaat Montana, im Nordwesten des Landes. Vor ihr liegen Dokumente und Ordner, Fotos und Zeitungsartikel, die sie über die Jahre gesammelt hat. Sie zeigen ihren Grossvater als Abenteurer, als Patriarchen mit Vollbart, als alten Mann. Einst reiste sie von Butte nach Biasca, um zu sehen, von wo er in die Neue Welt aufgebrochen war. Sie besuchte die Alpwiesen, auf die Mose noch als Teenager Kühe hinaufgetrieben hatte. «Du musst wissen, woher du kommst, damit du erkennst, wohin du gehen sollst», erklärt sie ihre Neugier.
Die Vaninas sind eine von über hundert Tessiner Familien, die Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts nach Butte zogen. In die wilde Stadt im Wilden Westen.
Wo das Land und der Himmel weit sind, Flüsse voller Fische fliessen, Bisons weiden, Wölfe heulen und Wälder so gross wie Schweizer Kantone stehen. Mit der Ruhe war es vorbei, als Trapper Gold, Silber und Kupfer entdeckten. Mit der Elektrifizierung nahm der Bedarf an Kupferkabeln und somit auch an Rohstoffen aus Butte sprunghaft zu. Die Armee goss für den Ersten Weltkrieg ihre Patronen aus Kupfer. Und dieses schürften die Minenarbeiter in Montana.
Auf hunderttausend Einwohner schwoll die Stadt zeitweise an zur grössten Ortschaft zwischen Chicago und San Francisco. Um die Minen legte sich ein Speckgürtel. Gut bezahlte Kumpel gründeten Familien, die Bauern mit Käse, Fleisch und Kartoffeln versorgten. Bars schenkten Bier und Whiskey aus. Und in den oberen Stockwerken verkauften Frauen den Männern etwas Wärme. «Wenn du in die Neue Welt kommst», riet eine irische Mutter ihrem Kind. «Mach nicht halt in Amerika. Geh direkt nach Butte.»
Ein Rat, den viele in Bellinzona und Biasca, Iragna und Locarno beherzigten. Die Schweiz war damals arm. Wer nicht als schwarzer Bruder in Mailand Kamin fegen wollte, folgte dem Ruf des Westens. Dort fand er eine prosperierende Stadt, wo Arbeiter willkommen waren. Mit 21 wanderte Mose Vanina in die USA aus. Seine Bürgerpflichten hatte er erfüllt, in der Schweizer Armee gedient und auf dem Hof der Eltern mitgeholfen. Über Le Havre und New York reiste er nach Montana. Zuerst heuerte er in einer Goldmine an. Was er verdiente, legte er auf die Seite. Wie andere Auswanderer suchte er in der Fremde nach seinesgleichen und fand Daniel Parini, einen Tessiner aus einem Dorf bei Biasca. Parini besass bereits ein Stück Land, er hielt Kühe und fuhr Milchkannen mit Ross und Wagen aus. Vanina kochte für Parini, bis er selbst genügend Geld hatte, um Weideland und Vieh zu erwerben. Er vergrösserte die Herde, pachtete mehr Land, eröffnete die Molkerei Swiss American Dairy. Fortan molk er Kühe und lieferte in Flaschen abgefüllte Milch direkt zu den Häusern seiner Kunden.
Nach acht Jahren Einsamkeit sehnte sich der Junggeselle nach einer Familie. Er reiste ins Tessin und heiratete die elf Jahre jüngere Elvira Rodoni. Nach der Hochzeit im Februar 1909 ging Mose sofort zurück auf den Hof. Seine Frau folgte im Herbst. Sie sah die Schweiz nie mehr. Auswandern bedeutet zu verlassen, was vertraut ist. Heimat verlieren. Eine neue aufbauen und doch nie mehr richtig daheim sein. «Sie haben die Schweiz verlassen, aber die Schweiz hat ihr Herz nie verlassen», sagt die Enkelin.
Auswandern bedeutet, die Sprache der Mutter nur noch zu Hause zu reden, eine neue zu lernen, anders zu sprechen und zu schreiben, zu denken, zu fluchen und zu träumen. Bei Auswanderern der ersten Generation verdichtet sich das Leben oft auf die Familie. Auf den Hof, den eigenen Laden, die Spenglerei. Es gilt, neue Regeln zu befolgen, andere Gepflogenheiten zu beachten. Amerika ist jung und ruhelos. Wurzeln fehlen. Und weil sie fehlen, müssen die Ankömmlinge neue schlagen. Was mit harter Arbeit gelingt, mit schierem Willen, etwas aufzubauen. Mit vielen Kindern. Oder – wie das auf Buttes Strassen vorkam – mit geballten Fäusten und geladenen Pistolen.
Wer geht, lässt andere zurück und will in Kontakt bleiben. In einem ersten Brief, den Elvira der Mutter im November 1909 sandte, stand «Siamo arrivati a Butte», wir haben es nach Butte geschafft. Es ist ein Schreiben voller Hoffnung. «Wir hatten viel Spass und gute Gesellschaft auf der Reise», schrieb sie. Als ihnen im Zug nach Montana das Essen ausging, «sahen wir eine Gruppe Neapolitaner, die uns ein oder zwei Stück ihres Brots anboten, das exquisit war, nicht nur, weil wir so hungrig waren».
Etliche solcher Briefe hat die Enkelin aus dem Italienischen übersetzen lassen.
Es sind intime Zeugnisse einer Familie, die Kühe an Tuberkulose verlor, die sich über die Geburt von sechs Kindern freute und den Tod eines Babys betrauerte. Die glaubte, die Zeit in der Fremde sei endlich. «Ich denke oft, nach Hause zurückzukehren, wenn mir das Glück hold ist, aber im Moment sind wir hier beide zufrieden.» Ihr Mann Mose sei glücklich, «er behandelt mich mit grossem Respekt, und er ist ein wunderbarer Begleiter». Es sind Worte, die man für sich selbst schreibt. Der Zweifel ist ein Gefährte vieler Auswanderer. Die, die gehen, berichten das, was die zu Hause hören sollen: «Wir sind in der Lage, über die Runden zu kommen.»
Joan war sechs, als ihr Grossvater starb. Geblieben sind Erinnerungen. «Er ging zehn Kilometer zu Fuss nach Butte, um für uns Schokoladeriegel zu kaufen», erzählt sie. «Zwischendurch kehrte er ein und trank einen Roten.» Die Grossmutter erzog sie mit Tessiner Sprichwörtern. Eines lautete: «Wenn du Schokolade in zwei Hälften brichst, gib den grösseren Teil ab.» Und was hat sie daraus gelernt? «Wir achteten darauf, stets zwei identische Hälften zu haben.»
Als sein Vater im Sterben lag, verbrachte Mose Vanina drei Monate in Biasca. Ursprünglich wollte er den ältesten Sohn in die Schweiz mitnehmen, doch seine Frau liess das nicht zu. Sie sagte: «Passiert auf der Reise etwas, will ich nicht zwei verlieren.» Der Tod prägte den Alltag. Die Spanische Grippe traf Butte hart, «schlimmer als der Krieg», wie Elvira im Dezember 1918 schrieb. «Hier ist die Krankheit auch ausgebrochen und hat viele Opfer gefordert und ganze Familien auseinandergerissen.» Es tönt wie unlängst bei Corona. «Schulen, Tavernen, Theater wurden komplett geschlossen, Versammlungen verboten. Die Menschen sind verärgert, weil man die Kranken nicht besuchen darf, es sei denn, man ist ausgebildet. Die Krankenhäuser haben keinen Platz mehr für Betten.»
Heute ist die Enkelin von Einwanderern kritisch gegenüber Ankömmlingen. Es kämen oft die falschen. «Meine Grosseltern wollten Amerikaner werden, wer heute kommt, will Amerika verändern.»
Der Weg nach Butte ist weit geblieben. Der nächstgelegene internationale Flughafen ist in Salt Lake City, sechs Autostunden entfernt. Die Fahrt führt vorbei an grasenden Rindern und Pferden. Wie Vulkane sehen die schneebedeckten Hügel aus, die den Highway säumen. Bis vor die Stadtgrenze warnen Schilder vor Wild. Butte liegt an einem Hügel, das alte Stadtzentrum besteht aus herrschaftlichen Häusern, stattlichen Theatern und breiten Boulevards. Abgesehen von den Namen im Telefonbuch fehlen Tessiner Spuren. Das Grotto fehlt. Jahrzehntelang führten Tessiner das «M & M», einen beliebten Diner mitten in der Stadt. Zum Frühstück servierten sie Steak mit Eiern, gebratene Kartoffeln und wässrigen Kaffee. Keine Polenta, kein Risotto, keine Marroni.
Butte war ein Schmelztiegel, ein Babylon mit dreissig Sprachen. Ein Ziel einte alle: den Lebensunterhalt zu verdienen. Tausende von Arbeitern stiegen unter Tag und kratzten in den zehntausend Meilen langen Tunnels Gestein aus dem «reichsten Hügel der Welt», so der Slogan der Stadt. Blinde Maultiere zogen das Geröll an die Oberfläche. «Butte war temperamentvoll», sagte der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt nach einem Besuch. «Diese verruchte, reiche, gastfreundliche, vollblütige kleine Stadt empfing mich mit einer wilden Begeisterung der unordentlichsten Art.» Noch vor New York war Butte vollständig elektrifiziert. Reichtum und Katastrophe lagen beieinander. Eine Mine fing 1917 Feuer, 168 Mineure verloren ihr Leben. Und doch war der Job begehrt. Oft blieben die Kumpel sechzehn Stunden unter Tag; sie verdienten dreimal mehr als Fabrikarbeiter im Osten der USA. Als die Gewerkschaften den Achtstundentag einführten, fürchteten manche um den guten Lohn. Doch die Kumpel blieben sechzehn Stunden unter Tag und liessen sich fürstlich Überzeit auszahlen.
Über Generationen reichten Familien die begehrten Jobs weiter. Väter nahmen ihre Söhne mit in die Minen. Offiziell gab es dort keine Frauen. Irische Kumpel glaubten, diese trügen das Unglück in die Schächte. Deshalb schlichen Frauen als Männer verkleidet unter Tag. Leisteten sie gute Arbeit, liess man sie gewähren. Über Tag genossen die mehrheitlich katholischen Männer das leichte Leben, die Iren, Tessiner und Polen. Nirgendwo in den USA war das Rotlichtviertel länger nonstop in Betrieb als in Butte. Mittendrin stand der Swiss-American Saloon, betrieben vom Deutschschweizer John Grossenbacher. Das Schweizer Haus war eine Bar, ein Restaurant, eine Herberge. Wer wollte, konnte ein Zimmer stundenweise mieten.
Ein anderes schummriges Etablissement stand an der South Arizona Street. Das zweigeschossige Haus gehörte Antonio Canonica. Der Spengler war 1880 von Locarno nach Montana ausgewandert und hatte Tony’s Tin Shop betrieben. Im Erdgeschoss bog, verschweisste und vernietete er Blech. Den zweiten Stock vermietete er an ein irisches Paar, das ein Puff führte. Heute ist das Haus ein Museum, es gehört Canonicas Enkel Pat Mohan, 76. Zwanzig Jahre hat er im US-Militär gedient, zuletzt 1991 im Irak. Davon zeugt seine Kappe mit der Aufschrift «Operation Desert Storm». Im Haus stapeln sich alte Schraubenzieher, Geschirr und Besteck, Lampen und Lumpen. An der Wand hängen Fotos der Grosseltern, von Tanten und Onkeln. Mohan führt durch den oberen Stock. Ein Zimmer hat er mit alten Magazinen und historischen Karten dekoriert. In den anderen stehen Betten mit Kissen. Auf dem Tisch im Salon liegt das «Auswahlbuch», bestückt mit Fotos nackter Frauen. Einst blätterten es Freier durch und wählten eine aus.
Bis 1948 war das Bordell offen gewesen, bis zum Tod des alten Canonicas. Just danach schlossen es seine Söhne. «In der Familie haben wir kaum darüber gesprochen», sagt Mohan. Und warum hat er es im Museum wiederbelebt? Als er aus der Armee ausschied, hatte er Geld auf der Seite. Er fragte seine Mutter, ob er ihr etwas kaufen könne. Sie wollte ihr Elternhaus wiederhaben. Bei der Restaurierung stiess Pat Mohan auf das Bordell. Seither erzählt er die Geschichte.
Er zeigt die Tessiner Geburtsurkunde seines Grossvaters und schildert, wie dieser anfänglich als Kesselflicker von Haus zu Haus ging und dann ein eigenes Geschäft gründete. Dass er nie mehr nach Locarno zurückging und seine Frau im Katalog aus dem Tessin bestellte. «Er wollte eine junge Frau, um viele Kinder zu haben», so Mohan. Myra war siebzehn Jahre jünger als er. Sie gebar acht Kinder, zwei starben bei der Geburt. Als Antonio das Haus an der South Arizona Street baute, liess er an der Fassade Myras Namen eingravieren. Buttes Kumpel verstanden unter «Myra» etwas anderes: ein Bordell mit schönen Frauen.
Sein Grossvater habe nie zurückgeblickt, sagt Mohan. «Er sprach Englisch und tat so, als wollte er vergessen, woher er kam. Der Grund seiner Auswanderung war das grösste, tiefste, dunkelste Geheimnis der Familie», sagt Mohan. «Die Schweiz war arm, Butte war reich, es gab Jobs. Menschen kamen nach Butte, weil sie eine bessere Zukunft wollten – oder weil sie vor etwas wegrannten. Bei vielen war es wohl beides.»
Er steigt in seinen Pick-up-Truck und fährt auf der schnurgeraden Montana Street den Hügel hinunter. Beim Friedhof St. Patrick biegt er rechts rein und hält vor dem Familiengrab. Vor Jahrzehnten hatte Canonica hier ein Stück Friedhof gekauft für Myra, sich und seine Nachfahren. Mohan kniet sich zwischen die Grabsteine der Grosseltern, daneben steht der Grabstein seines Onkels. «Dieser hiess nicht mehr Antonio, sondern Anthony.» In einer Generation wurden aus Tessinern Amerikaner.
Der Highway 15 führt in zehn Minuten von Butte nach Elk Park, zu einem Hochtal, 1600 Meter über Meer, eingekesselt von bewaldeten Hügeln. Rinder grasen, alle paar Meilen verlassene Häuser, Ställe und Schuppen. Es sind Farmen, die einst Tessiner Familien betrieben, die Vaninas, Strozzis und Delmoes. Eine Familie breitete sich besonders aus: die Parinis. Daniel Parini kam 1870 in Iragna zur Welt. Mit 17 zog er nach Kalifornien und verdiente als Waldarbeiter eine Handvoll Dollar. Er suchte in Montana Gold, bis er genügend Geld hatte, um sich in Elk Park Land und Kühe zu kaufen. Seine Milch fuhr er in die Käsereien. Nebenbei züchtete er Milchkühe. Heute sagt man, alles Vieh in Butte gehe auf Parinis erste Herde zurück. Alle nannten ihn Dan. Siebzehn Jahre lebte er allein. Am 8. Oktober 1904 heiratete er die elf Jahre jüngere Olympia Tartini, die wie er einst aus Iragna in die USA gekommen war. Das Paar zeugte achtzehn Kinder, dreizehn Buben und fünf Mädchen. Ein Junge starb bei der Geburt. Olympia brachte alle Kinder zu Hause zur Welt; ihr halfen Tessiner Hebammen, denen sie jeweils Ende des Jahres einen kleinen Zustupf gab.
Neben dem Haupthaus steht noch heute die Schlafbaracke. Kam wieder ein Baby zur Welt, zog der älteste Sohn dort ein. Die Mädchen blieben von der muffigen Baracke verschont. Das erzählt Pete Parini, 73, einer der vielen Enkel von Dan, die noch heute in Montana leben. Pete hat nie woanders gewohnt, schuftete in Buttes offener Mine, zuletzt bediente er die grossen Schaufeln. «Die Parinis haben in Amerika unter Tag begonnen, dann wurden sie Bauern, jetzt sind einige zurück in den Minen.»
Seine Grossmutter habe nie Englisch gesprochen, sagt Parini. Bis ihr jüngstes Kind sechs Jahre alt war, habe sie sich geweigert, in die Stadt zu gehen. Wäsche wusch sie von Hand auf dem Scheuerbrett. Eine mit Gas betriebene Waschmaschine, die ihr Mann ihr kaufte, stellte sie weg. Die Wäsche werde nicht sauber.
Lokale Medien berichteten oft über die Parinis und ihre Schar. Die Kinder könnten eine Baseballmannschaft oder ein Orchester bilden, hiess es. Sie füllten die Klassenzimmer von Elk Park. Und alle packten auf dem Betrieb mit an. Sie umsorgten über hundert Holsteinkühe, gegen siebzehn Pferde und viele Hühner. In den Siebzigerjahren stiessen sie die Milchkühe ab und begannen, Rinder zu züchten. Mit all ihren siebzehn Kindern hätten Dan und Olympia Italienisch mit Tessiner Einschlag gesprochen, sagt Pete Parini. «Wollten die Tanten und Onkel nicht, dass wir sie verstehen, sprachen sie ihre Sprache.» War das Tessin präsent? «Wir trafen uns mit den Italienern im Pionier-Club. Aber alle, die uns als Schweiz-Italiener bezeichneten, korrigierten wir: ‹Wir sind Schweizer, keine Italiener›.»