Fotograf James Nachtwey in Tallinn

“Viele meiner Fotos erzählen von echter Liebe”

Der Kriegsfotograf James Nachtwey dokumentiert Tod, Hunger und Krankheiten. Ein Gespräch über Wut, Mitgefühl und die wahren Helden in einem Krieg.

Peter Hossli (Text) Birgit Püve (Fotos) 05.01.2020

Fotograf James Nachtwey in Tallinn

Wir kennen uns von früher, als der Fotograf James Nachtwey und ich Ende der neunziger Jahre im selben New Yorker Quartier wohnten, unten beim Fischmarkt, an der Südspitze Manhattans. Zufällig trafen wir uns jeweils beim Italiener zum Espresso.

In unmittelbarer Nähe fotografierte Nachtwey am 11. September 2001 die Terroranschläge auf Amerika für das «Time Magazine», ich berichtete darüber für das damalige Schweizer Magazin «Facts».

Ein halbes Jahr danach redeten wir für ein Interview über den Wert der Kriegsfotografie. «An diesem Tag wurde der seriöse Journalismus wiedergeboren», sagte Nachtwey. «Der 11. September 2001 hat dem Fotojournalismus und dem Journalismus insgesamt neue Relevanz verliehen. Zu lange prägten Skandale und der Starkult die US-Medien.»

«Komm einfach, es klappt schon»

Siebzehn Jahre später schrieb ich eine E-Mail an die damalige Adresse Nachtweys und bat ihn erneut um ein Interview. «Schön, von dir zu hören», antwortete der Amerikaner. «Schreib mir aber besser per SMS, da bin ich schneller.» Er schlug ein Treffen in Tallinn vor. «Ende November eröffne ich in Estland eine Ausstellung, dort kannst du die Abzüge vieler meiner Fotos an der Wand sehen.»

Einen genauen Interviewtermin konnte Nachtwey nicht anbieten, zumal er selber noch nicht wusste, wann er Zeit haben würde. «Komm einfach, es klappt schon.» Ich flog nach Tallinn und besuchte Nachtweys Ausstellung im Fotomuseum Fotografiska. Herzlich grüsste James Nachtwey beim Ausgang, ein ruhiger Mensch, drahtig und gross. Nichts von der nachgesagten Arroganz, der angeblichen Eitelkeit. Neugierige Augen lassen den 71-jährigen Mann jugendlich erscheinen. «Wollen wir etwas essen?», fragte er.

Arbeit getrieben von Wut und Mitgefühl

Wir begaben uns zum Dachrestaurant des Museums und redeten während einer Stunde über Fotografie und über die Fragen, warum Nachtwey Kriege und Krisen dokumentiert, wie er mit Trauer umgeht und woher er die Kraft nimmt für seine Tätigkeit. «Meine Arbeit ist getrieben von Wut und Mitgefühl», erklärte Nachtwey, «wobei die Wut das Mitgefühl nie erdrücken soll. Und umgekehrt darf das Mitgefühl die Wut nicht verwässern.»

Reporter Peter Hossli und James Nachtwey im Gespräch. Foto: Birgit Püve.

Herr Nachtwey, was ist in allen Kriegen gleich?
James Nachtwey: Die Helden.

Und wer wird im Krieg zum Helden?
Die Mütter und Väter, die versuchen, die Leben ihrer Kinder zu bewahren. Eltern sind die wahren heimlichen Helden aller Kriege.

Wo haben Sie das erstmals festgestellt?
Als ich 1984 in El Salvador einen Vater fotografierte, der seine verwundete Tochter umfasste und schützte. Viele meiner Fotos erzählen von solch echter Liebe.

Jahrzehnte nach Kriegsende haben Sie in Vietnam Eltern fotografiert, die ihre behinderten Kinder umsorgen. Warum?
Während des Vietnamkriegs warfen amerikanische Piloten Tausende von Tonnen des Entlaubungsmittels Agent Orange ab. Damit nahmen sie den Feinden die Chance, sich zu verstecken. Faktisch war dies chemische Kriegsführung gegen künftige Generationen.

Weil sich das Dioxin von Agent Orange im Wasser, im Boden und in den Pflanzen festsetzte.
Noch immer werden Tausende vietnamesischer Kinder mit Geburtsfehlern geboren. Als ich die Eltern fotografierte, wie sie ihre Kinder pflegten, wurde mir bewusst, dass die Liebe das einzige Mittel ist, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit auszuhalten.

Als US-Bürger gehören Sie der Nation der Täter an. Waren die Vietnamesen wütend auf Sie?
Als ich ankam und sah, was meine Landsleute angerichtet hatten, habe ich mich geschämt und war untröstlich. Mir war das Ausmass dieses Verbrechens nicht bewusst. Beim Fotografieren habe ich dann versucht, mich für mein Land zu entschuldigen.

Haben die Vietnamesinnen und Vietnamesen Ihre Entschuldigung akzeptiert?
Nein, die Eltern haben sie zurückgewiesen und gesagt, es sei halt Krieg gewesen. Diese Demut hat mich tief beeindruckt. Damals versprachen unsere Politiker, sie würden die Herzen und Köpfe der Vietnamesen erobern. Tatsächlich warfen sie Agent Orange ab. Als ich die Liebe der Mütter und Väter sah, war mir klar: Was sie in ihren Herzen und Köpfen haben, ist viel stärker als alles, was wir Amerikaner ihnen jemals hätten geben können.

Eine Mutter umsorgt ihren Sohn während des Kriegs in Darfur in einem Feldspital der ­Organisation Ärzte ohne Grenzen. (Darfur, Sudan, 2004). Foto: James Nachtwey

Während des Vietnamkriegs entstand bei Ihnen der Wunsch, Kriegsfotograf zu werden. Was ist anziehend am Krieg?
Nicht der Krieg, die Bilder zogen mich an. Damals war ich Student. Fotos aus Vietnam und von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung prägten und beeinflussten mich. Die Bilder zerlegten die Lügen der Politiker, und sie zeigten, was tatsächlich geschah. ­Obwohl ich noch nie fo­tografiert hatte, entschied ich, Kriegsfotograf zu werden.

Sie haben sich das zugetraut?
Ich war mir sicher, ich würde das können. Kriegsfotografie ist schwierig, aber wichtig, ihre Wirkung mächtig. Sie ist nicht dafür gedacht, uns zu unterhalten. Sie verfolgt einen höheren Zweck und stellt dar, was Konflikte den Menschen antun. Als Fotograf bin ich ein Zeuge davon, welchen Preis die Menschen zahlen, die einem Krieg ausgeliefert sind.

Und Sie persönlich? Warum machen Sie das?
Mich zieht es in den Krieg, weil es um viel geht. Ändern lassen sich schlimme Situationen nur dann, wenn die Welt davon erfährt. Gibt es Fotos aus Krisenzonen, rollt Hilfe an.

Ihre Fotos schrecken die Politik auf?
1992 reiste ich ohne Auftrag nach Somalia, wo eine Hungersnot tobte. Kein Magazin interessierte sich dafür. Mir aber erschien das wichtig. Nach der Rückkehr zeigte ich die Bilder zahlreichen Redaktionen. Das Magazin der «New York Times» brachte ein Foto auf der Titelseite, dazu mehrere Doppelseiten im Inneren des Heftes. Das hat das Bewusstsein für den Hunger in Somalia geschärft.

Aber was hat das tatsächlich bewirkt?
Das Rote Kreuz lancierte die grösste Hilfsaktion seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Siebzehn Jahre später bat mich ein IKRK-­Vertreter auf den Philippinen in sein Büro. Er dankte mir und meinte, erst die Fotos in der «New York Times» hätten die nötigen Gelder freigesetzt. Er sagte: «Dank Ihren Fotos konnten wir 1,5 Millionen Menschen retten.»

Können Fotos Kriege auch verhindern?
Nein, das kann nichts und niemand. Es hat immer Kriege gegeben, und ich fürchte, es wird sie immer geben. Aber was weiss ich schon? Ich bin nur ein Fotograf. Es gibt ­gewichtige Geistliche, grosse Politikerinnen, Künstler und Philosophinnen. Nicht einmal sie schaffen es, Kriege zu verhindern.

Dann ist Ihre Arbeit umsonst?
Journalisten ändern nicht die Natur des Menschen. Fotos können warnen und ermahnen. Sie zeigen einer Generation, was Menschen vor ihr einander angetan haben. Sie machen auf Ungerechtigkeiten aufmerksam. Ist ein Krieg vorbei, ziehen wir zum nächsten. Wir berichten über einen Konflikt nach dem anderen. Da ist unsere Mission.

Sie leisten Sisyphusarbeit.
Nein, wir verzeichnen ja Erfolge. Die meisten Kriege hören auf. Oft beenden Politiker sie, wenn genügend Medien über Greuel berichten. Aber die Aufgabe von Reportern hört nie auf. Fällt einer von uns aus, übernimmt der nächste seinen Platz und macht weiter.

Sie haben Genozide in Afrika fotografiert, die Brutalität auf dem Balkan, Terroranschläge in New York und im Nahen Osten. Was haben Sie über uns Menschen erfahren?
Kriege offenbaren sämtliche Seiten des Menschseins. Inmitten schrecklichster Umstände begegnen mir barmherzige, mutige und liebenswürdige Menschen. Respekt und Mut existieren neben Gier und Intoleranz.

Wo haben Sie solche Gegensätze festgemacht?
Für mich verkörpert Nelson Mandela das Beste im Menschen. 1994 wohnte ich seiner Amtseinführung als Präsident von Südafrika bei. Es war einer der feierlichsten Momente meines Lebens. Am Tag danach flog ich nach Rwanda, wo der Bürgerkrieg das Schreckliste hervorbrachte. In Kürze offenbarte sich mir die ganze menschliche Bandbreite.

Westbank, 2000. Foto: James Nachtwey.

Ihre Fotos wirken wie Spiegel, in denen Menschen sehen, wie grausam sie zueinander sind. Macht es Sie wütend, dieser Spiegel zu sein?
Meine Arbeit ist getrieben von Wut und Mitgefühl. Wobei die Wut das Mitgefühl nie erdrücken soll. Und umgekehrt darf das Mitgefühl die Wut nicht verwässern. Beide Gefühle vereinen sich in meinen Fotos.

Gibt es Orte, an denen Sie nicht fotografieren?
Wo ich nicht arbeiten kann, gehe ich nicht hin. Wenn etwa die Gefahr gross ist, entführt zu werden. Dem Syrienkrieg blieb ich fern. Dort sind viele Journalisten getötet worden. Wer entführt wird, kann nicht mehr arbeiten.

Leisten Sie Erste Hilfe, wenn Sie während der Arbeit ein verletztes Kind sehen?
Ich bin nicht Arzt, ich bin Fotograf.

Wenn Sie die einzige Person beim Kind sind?
Dann fällt die journalistische Reinheit aus dem Fenster. Meine Rolle in einem Krieg ist klar: Ich fotografiere. Andere können besser helfen. Ist aber ausser mir niemand mehr da, lege ich die Kamera weg und helfe. Mehrmals schon habe ich Menschen vor Mobs gerettet.

Was machen Sie mit hungernden Menschen?
Meistens fotografiere ich in der Nähe eines Feldspitals. Treffe ich auf einen, der nicht weiss, wo er etwas zu essen erhält, bringe ich ihn in meinem Auto hin. Meistens aber helfen andere, und ich mische mich nicht ein.

Stirbt oder verletzt sich im Krieg ein Kind, reden Politiker jeweils von Kollateralschaden.
Was für ein schrecklicher Euphemismus. Ein hohler klinischer Ausdruck. Was ist damit gemeint? Kinder sterben, Alte und Familien, die nichts mit dem Krieg zu tun haben. Ein anderer solcher Ausdruck ist «ethnische Säuberung». Dabei ist nichts sauber an der Bombardierung von Zivilisten, an systema­tischer Vergewaltigung. Es ist ein Genozid. Phrasen wie «ethnische Säuberung» und «Kollateralschaden» sollen uns daran hindern, zu verstehen, was wirklich passiert.

Was ist dagegen zu tun?
Ich fotografiere. Bildern gelingt es, falsche und leere Worte zu zerschlagen.

Sie haben einmal gesagt, Kriege zu fotografieren, mache Sie traurig. Ist es Ihnen nie zu viel?
Ich scheine genügend Kraft zu haben, um die Trauer zu tragen und zu ertragen. Letztlich aber ist es diese höhere Aufgabe, die mich an diese Orte führt und das Leid aushalten lässt. Es zu tun, ist wertvoll. Nur deshalb ist es mir möglich, genügend Kraft dafür freizusetzen.

Sie sind bekannt dafür, ruhig zu werden, sobald um Sie herum das Chaos des Kriegs tobt. Wie machen Sie das?
Bewusst unternehme ich nichts. Ich bin so veranlagt und bleibe ruhig, wenn alles neben mir zusammenfällt. Was allerdings notwendig ist. Denn wer im Krieg überleben will, muss ruhig bleiben. In Sekundenbruchteilen muss ich lebenswichtige Entscheide fällen. Hysterische und aufgeregte Personen bringen sich in grosse Gefahr. Für sie ist die Kriegsfotografie kein geeigneter Job.

Sie haben nie das Verlangen, etwas Leichteres zu fotografieren?
Sie meinen Landschaften oder Tiere? Andere können das besser als ich. Meine Arbeit verfolgt ein klares Ziel: Weltweit Ungerechtigkeiten öffentlich zu machen.

Sie packen Chaos und Leid in Kompositionen aus Licht und Schatten. Schützen Sie sich ­emotional mit der Kamera?
Nein, überhaupt nicht. Die Kamera ist kein Schutzschild. Sie bewirkt das Gegenteil. Die Kamera öffnet mich und macht mich verletzlich. Um zu verstehen, was passiert, muss ich sehen, spüren und empfinden. Es wäre völlig sinnlos, in Krisengebiete zu reisen, um sich zu verschliessen. Ich will mich dem Geschehen aussetzen.

Sie betonen, Ihre Zeugnisse von Kriegen müssten aufrichtig und unzensiert sein. Wie schaffen Sie es, gradlinig zu bleiben?
Ehrlichkeit ist die wichtigste Eigenschaft für einen Journalisten. Ohne Glaubwürdigkeit haben wir nichts mehr. Es ist ausgesprochen hart, die Wahrheit zu erfassen. Aber wir müssen ihr so nahe wie möglich kommen.

Ein Feind journalistischer Redlichkeit ist der Zynismus. Gerade Kriegsreporter neigen dazu. Warum sind Sie ihm nie verfallen?
Mir ist Zynismus durchaus bewusst. Letztlich zerstört er dich. Zynismus existiert, um die Realität von uns fernzuhalten, statt sich mit ihr zu befassen. Zwar wirkt Zynismus oft clever, aber gewinnen lässt sich damit nichts.

Das zerstörte ­Zentrum Kabuls. Nach der Schlacht um die Hauptstadt ­kontrollieren die Taliban Afghanistan. Usama bin Ladin lässt sich nieder. (Kabul, 1996). Fo.to: James Nachtwey

Wir Journalisten profitieren von Kriegen. Wir beschreiben sie, verkaufen die Geschichten, ziehen weiter. Bereitet Ihnen das keine Mühe?
Es erzeugt stets ambivalente Gefühle, die Menschen zurückzulassen, die ich fotografiert habe. Mich abzuwenden, verlangt einiges von mir ab. Aber gehen muss ich immer.

Sie haben 1993 in Sudan einen kriechenden Mann fotografiert, nackt und zum Skelett abgemagert. Was ist mit ihm passiert?
Das weiss ich nicht. Von vielen Menschen weiss ich nicht, was mit ihnen passiert.

Ist das kein Problem für Sie?
Das Bild entstand in unmittelbarer Nähe einer Verpflegungsstation. Ich hoffe, er hat sich erholt, hoffentlich geht es ihm gut. Damals sah ich einen Mann, der nicht aufgab, um sein Leben zu kämpfen. Gibt einer wie er diesen Kampf nicht auf, dann können wir doch nicht aufgeben, für ihn zu kämpfen.

Wusste der Mann, dass Sie ihn fotografieren?
Um zu fotografieren, muss ich willkommen sein. Mir wäre es unmöglich, Menschen ohne ihre Einwilligung zu fotografieren.

Und diese erhalten Sie immer?
Lassen Sie sich nicht allzu sehr von dieser Frage leiten, wenn Sie die Fotos anschauen. Schauen Sie, was auf den Bildern passiert. Menschen in Kriegsgebieten wissen, dass niemand ihr Schicksal wahrnimmt. Sie wollen aber, dass die Welt weiss, was geschieht. Und sie verstehen meine Rolle als Überbringer der Nachrichten. Sie öffnen sich, weil ich von aussen herantrete, um zu berichten.

Wie gewinnen Sie Vertrauen?
Ich präsentiere mich, sage wer ich bin, was ich vorhabe – und bitte um Erlaubnis. Für «Time» habe ich 2017 heroinsüchtige Amerikaner fotografiert, viele beim Fixen. Jeder einzelne willigte ein. Die meisten haben mir nachher gedankt. Weil sie der Meinung sind, die Bilder verbesserten ihre Situation.

Sie haben in den achtziger Jahren angefangen, in der islamischen Welt zu fotografieren. Mehrmals fingen Sie Menschen in Aufruhr ein. Warum haben wir im Westen nicht bemerkt, wie sehr der Islam brodelt?
Eine gute Frage. Warum nicht? Zumal alles sichtbar war. 1996 habe ich die Schlacht um Kabul fotografiert, die letzte grosse Schlacht des 20. Jahrhunderts. Die Taliban haben die afghanische Hauptstadt erobert und den saudiarabischen Terroristen Usama bin La­din in ihr Land gelassen. Es ist die Grundlage der Kriege des 21. Jahrhunderts.

Der Südturm des World Trade Centers brennt. Dass er ­einstürzen wird, ahnt in diesem Moment niemand. (New York, 11. 9. 2001) Foto: James Nachtwey.

Fünf Jahre später sahen Sie aus Ihrer New Yorker Loft das brennende World Trade Center.
Ich war zufällig zu Hause, weil mich ein Freund bat, einen Job für ihn zu übernehmen. Mir war sofort klar, dass al-Kaida hinter dem Anschlag stand. Dann griff ich zur Ka­mera und ging raus.

Am 11. September 2001 verdichtete sich in Ihrer Stadt, was Sie jahrelang fotografiert hatten. War es anders, zu Hause zu arbeiten?
Alles, was an diesem Tag passierte, war mir vertraut: das Chaos, das Elend, der Tod. Dass dies in meinem Land, meiner Stadt, ja in meinem Wohnquartier geschah, hat die Realität noch realer erscheinen lassen.

Wie wirkte sich diese geschärfte Realität aus?
Beim Fotografieren geschah etwas, das ich nur selten empfinde: Die Welt bewegte sich vor meinen Augen scheinbar nur noch in Zeitlupe. Kennen Sie das?

Ja, am selben Tag sah ich auf der Sixth Avenue in Manhattan zu, wie der erste Turm scheinbar in Zeitlupe vor mir einstürzte. Wie hat sich für Sie die Zeit wieder normalisiert?
Am 11. September 2001 fotografierte ich analog. In der Kamera lag ein Diafilm mit 36 Bildern. Im Moment, als der erste Turm einzustürzen begann, belichtete ich das letzte Bild, ich konnte nicht mehr abdrücken. Der letzte Klick löste die Zeitlupe auf – und ich rannte in Sicherheit. Mit einer digitalen Ka­mera hätte ich weiterfotografiert und die fallenden Eisenstücke des World Trade Centers hätten mich wohl erschlagen.

Die analoge Fotografie hat Ihnen das Leben gerettet. Heute publizieren Sie auf Instagram.
Anfänglich dachte ich, es sei möglich, auf Instagram etwas Wertiges zu machen. Aber es beansprucht viel Zeit, deshalb tun das andere für mich. Ich engagiere mich vor allem in der analogen Welt. Was das Digitale betrifft, bin ich limitiert. Da brauche ich Hilfe.

Früher wählte ein Magazin einzelne Fotos aus und rückte sie ins Blatt. Heute publizieren wir auf Instagram täglich zwei Milliarden Bilder. Neben Ihren Fotos erscheinen Katzenvideos und Bilder von einem Blumenstrauss. Was macht das mit dem Wert von Fotos?
Das frage ich Sie.

Sehe ich einen Abzug eines Ihrer Bilder an der Wand hängen, möchte ich Instagram löschen.
Deshalb befasse ich mich intensiv mit analoger Fotografie. Ausstellungen sind mächtig. Eine grosse Foto an der Wand wirkt stärker als viele kleine Bilder, die wir auf dem Smartphone wegwischen. Wer durch Fotos scrollt, beraubt sich des Reichtums der Bilder. Je mehr Zeit man mit einer Foto verbringt, desto mehr sieht und versteht man.

Ihre Fotos sind ästhetisch elegant. Sie strahlen Schönheit aus.
Etwas verständnisvoll und zugänglich darzustellen, ist etwas anderes, als etwas Schönes zu machen. Ich ästhetisiere nichts!

Das habe ich Ihnen nicht unterstellt.
Sie reden von Schönheit. Ich stelle nichts her. Sollte jemand auf meinen Fotos Schönes erkennen, war es dort. Was ich sehe, lehne ich nicht ab. Wichtiger ist die Frage: Warum liegt Schönheit oft so nahe an der Tragödie?

Obwohl der Inhalt vieler Ihrer Fotos sehr verstörend ist, schauen wir sie an.
Ich will keine Fotos machen, von denen man sich abwendet. Meine Zeugnisse sollen stark, eloquent und ehrlich sein. Sie sollen meine Wut ausdrücken. Ich möchte, dass Sie beim Betrachten Mitgefühl empfinden.

Sie fotografieren sowohl in Farbe wie in Schwarzweiss. Was sagt Ihnen mehr zu?
Farbe wie Schwarzweiss haben eigene Stär­ken und Qualitäten. Vor jeder Arbeit entscheide ich mich für das eine oder das andere. Manchmal hängt es vom Auftraggeber ab. «National Geographic» etwa verlangt Farbe.

Wie unterscheiden sich die beiden Formen?
Die Farbe ist ein durchdringendes Phänomen, sehr dominant, als wolle sie zum Subjekt des Fotos werden. Farbe spricht für sich selber und nicht unbedingt für das, was auf dem Foto passiert. Sie kann davon ablenken.

Und Schwarzweiss?
Obwohl Schwarzweiss eine Abstraktion ist – wir nehmen die Welt ja in Farbe wahr –, schärft eine Darstellung in Grautönen das, was auf einem Bild passiert.

Ein Journalist ist immer so gut wie seine letzte Geschichte. Kommt der Zeitpunkt, an dem Sie genug Geschichten erzählt haben?
Sie wollen wissen, ob ich mich jemals zur Ruhe setzen werde? Nein, ich werde nie aufhören zu fotografieren. Ich werde in meinen Stiefeln sterben.

Das Restaurant verliessen wir durstig und hungrig. Nie kam der Kellner vorbei, um die Bestellung aufzunehmen. Die beiden Gäste schienen ihm zu vertieft in ihr Gespräch zu sein.

Unten im Café nahmen wir je ein Sandwich und erkundeten – «strictly off the record» – den mittelalterlichen Stadtkern Tallinns, besuchten Kirchen und Galerien, redeten über das Quartier, in dem wir beide einst wohnten.

Er habe New York verlassen, sagte Nachtwey beim Abschied. «Die Stadt, wie wir sie einst kannten, gibt es nicht mehr. New York ist nur noch etwas für reiche Menschen.»

James Nachtwey in Tallinn. Foto: Birgit Püve.