“Uns war klar – wir machen etwas Freches”

Vor 30 Jahren zeigte Charles Clerc (73) in der Hauptausgabe der «Tagesschau» ein Kondom – und veränderte damit die Wahrnehmung der Seuche Aids.

Herr Clerc, wie viele Leben rettete Ihr Mittelfinger?
Charles Clerc: Das lässt sich gar nicht so direkt sagen.

Heute vor dreissig Jahren stülpten Sie sich in der Hauptausgabe der «Tagesschau» ein Kondom über den Mittelfinger …
Ich stülpte es nicht über, ich habe es ausgepackt und gezeigt.

Sie lancierten damit die Stop-Aids-Kampagne des Bundesamtes für Gesundheit. Sie hat Tausende von HIV-Ansteckungen verhindert.
Wir wollten ein Signal setzen. Ein «coup de théâtre» sollte es sein. Kein Gag, sondern ernsthaft. Mit einer gewissen Dramatik wollten wir sagen, dass es um Leben und Tod geht. Und dass dieses Ding da darüber entscheidet. Das war Anlass genug, etwas Ausserordentliches zu machen.

Schaut man sich die Szene heute an, wirkt sie schlicht. Warum rollten Sie das Kondom nicht ganz über den Finger?
Weil es reichte, den Pariser zu zeigen. Mehr brauchte es nicht.

Wie entstand die Idee?
Vormittags kamen wir zur Redaktionssitzung zusammen. Die neue Stop-Aids-Kampagne des Bundes war das grosse Thema. Alle sprachen von Aids, es war ein Schatten über dem Leben und etwas Grässliches …

… und längst nicht mehr nur eine Schwulenseuche.
Nein, 1987 waren alle betroffen, die sexuell aktiv waren und nicht monogam lebten. Das BAG schickte der Redaktion Unterlagen, da waren ein paar Pariser als Müsterli dabei.

Die lagen im Sitzungszimmer?
Wir machten ein paar dumme Scherze. Vor allem merkten wir: Die meisten hatten noch nie einen Pariser gesehen, insbesondere die Kolleginnen nicht.

Und dann entschieden Sie sich, ein Kondom vor der Kamera zu zeigen?
Ursprünglich wollten wir ein paar Kondome auf das Pult legen. Da sagte ich: Da sieht man nur, wie ein Pariser verpackt ist, aber nicht, was es ist. Es folgten weitere dumme Scherze. Einer sagte zu mir: Zieh ihn doch an!

Es gab einen Kompromiss?
Der damalige Regisseur Jean-Pierre Müller und Chefredaktor Erich Gysling sagten: Wir zeigen den Pariser. So kam man auf die Idee, ich könne einen auspacken. Erich wollte, dass wir erst proben. Wir gingen ins Studio, probten, versuchten verschiedene Kamerapositionen. Nach einer Viertelstunde hatten wir es.

Spontan war nichts?
Sie können am Fernsehen nicht spontan einen Pariser auspacken. Das musste verantwortet werden vom Chefredaktor.

Empfanden Sie keine Scham?
Das zu machen? Nein, überhaupt nicht! Das war Arbeit. Offenbar kam sie gut an.

War klar, dass Sie es tun?
Der Dienstplan sah vor, dass ich an diesem Abend moderierte. Zudem war ich bereit, es zu machen. Ich erzähle gerne Geschichten und bringe den Menschen gerne etwas bei. Kolleginnen hätten es sicher nicht getan.

Wusste die Öffentlichkeit damals, dass Sie schwul sind?
Wie offen ich damals war, weiss ich nicht mehr. Ich habe es nie propagiert und nie dementiert. Ob man es wusste? Keine Ahnung.

War es wichtig, dass ein Schwuler das Kondom am TV zeigte?
Nein. Aber ich hatte durch meine Schwulität sicher einen speziellen Zugang zum Thema. Als schwuler Mann war ich – ich mag das Wort zwar nicht – betroffener als andere am Redaktionstisch der «Tagesschau».

 

Warum hat der Coup funktioniert?
Als «Tagesschau»-Moderator hatte man eine gesellschaftliche Funktion. Entscheidend aber war die Inszenierung in der «Tagesschau» um 19.30 Uhr.

Sie sagten: «Dieses kleine Ding kann also über Leben und Tod entscheiden. Daran ändern weder erotische noch ästhetische oder moralische Bedenken etwas.» Wie entstand dieser Text?
Eigentlich galt es ja als eine Schweinerei. Pariser galten als Schweinerei. Aber es geht um Leben und Tod. Da können wir uns noch so sehr über Erotik, Ästhetik oder Moral aufregen. Diese drei Wörter waren mir wichtig.

Bedenken hatten Sie keine?
Uns war klar – wir machen etwas Freches. Das wollten wir aber unbedingt, ein Zeichen setzen, etwas Freches machen! Etwas, das aufschreckt und nicht jeden Tag vorkommt. Bei dem man sagt: Na nu! Damals war es noch möglich, ab und zu etwas Aussergewöhnliches zu tun.

Und heute?
Heute würde ich es nicht mehr machen! Die Medien sind zu vergagt. Jetzt wäre es ein Mediengag unter vielen. Und das wäre mir zu wenig.

Es würde nicht mehr auffallen?
Die «Tagesschau» war bieder und die NZZ seriös. Deshalb fiel so etwas Spektakuläres auf. Heute ist alles wie «20 Minuten», «Blick am Abend» und BLICK.

Was geschah nach der Sendung?
Gar nicht so viel. Der BLICK berichtete am nächsten Tag nicht darüber. Die «Schweizer Illustrierte» rief an, ob ich das Bild nochmals machen würde. Was ich nicht tat. Ich bin ja nicht der Pariser-Auspacker vom Dienst.

Packen Sie dreissig Jahre später für unseren Fotografen einen Pariser aus?
Nein, das mache ich nie mehr. Das war eine einzigartige Aktion.

Sie sorgten international für Aufsehen.
Vierzehn Tage danach publizierte der «Spiegel» eine grosse Geschichte über Aids. Die fing so an: «Zur besten Sendezeit packte Clerc einen Pariser aus …» Später schickte mir der TV-Moderator Mäni Weber einen Zeitungsartikel aus São Paulo über den Auftritt. Den habe ich heute noch.

Gab es negative Reaktionen?
Wenige. Per Post erhielt ich zwei anonyme Morddrohungen. «Du Sau», stand da. «Der Karabiner hängt an der Wand.» Eine für mich wichtige Reaktion war ein offizieller Brief der Eidgenössischen Aids-Kommission, also vom Beauftragten des Bundesrates in dieser Sache. Der hat sich bedankt, es sei toll gewesen.

Der Mythos um den Kondom-Auftritt entstand erst später?
Erst aus heutiger Sicht war das eine Sensation. Ich empfand es nie als das.

Aber stolz waren Sie schon?
Ich hatte das Gefühl, wir haben da etwas richtig gemacht. Absichtlich spreche ich im Plural, weil ich es nicht alleine konzipierte. Die Häme, die mir danach ab und zu begegnete, hat mich nicht gestört.

Es hiess, Kondome förderten Untreue und Partnerwechsel. Galten sie als sittenwidrig?
Der damalige Sprecher der Bischofskonferenz, Amédée Grab, äusserte in der «Schweizer Illustrierten» von Amtes wegen Bedenken. Aber eben, das war halt 1987.

Wann erfuhren Sie, was Aids für eine Krankheit war?
Bei einem Besuch in New York um 1980. Da sprach man plötzlich von der «Gay Disease», der Schwulenseuche. Erst sieben Jahre später, 1987, machte das Schweizer Bundesamt für Gesundheit die erste Kampagne. Also relativ spät.

1985 steckten sich in der Schweiz rund 3000 Menschen mit Aids an. Die Aids-Krise verglich man mit der Pest. Hatten Sie damals Angst, sich anzustecken?
Jetzt müsste ich Ihnen ja aus meinem Privatleben erzählen. Nein, Angst hatte ich nicht wirklich. Ich war damals relativ gebunden, nicht ganz. Es gab schon Zeiten, in denen man sich selber genauer untersuchte und erschrak, wenn die Haut mal gerötet war.

Haben Sie je einen Aids-Test gemacht?
Ja. Es brauchte Überwindung, aber ich machte es.

Wie hat die Angst vor der Krankheit Sie persönlich verändert?
Das war ein Schatten. Sie müssen sich vorstellen, ein Mann mit Jahrgang 1943, den beschäftigt seine Schwulität ziemlich stark. Es war gesellschaftlich schwierig. Mein Coming-out kam relativ spät, im Alter von 30 Jahren. Damals dachte ich: Hurra, jetzt hab ich es geschafft. Und gerade als ich so weit war, musste ich wieder über die Bücher. Wegen Aids. So hurra war das dann doch nicht.

Vom Alter her haben Sie die Zeit der freien Liebe erlebt. Wie hat sich die Gesellschaft wegen Aids gewandelt?
1968 fing es an mit der freien Liebe. Und 1980 war es damit langsam fertig. Zwölf Jahre lang wurde fröhlich koitiert. Fröhlich war es danach nicht mehr.

Wie reagierte die schwule Szene in der Schweiz auf Aids?
Man wurde weniger schnell intim. Dafür begann innerhalb der Gay Community ein emotionaler, intellektueller, gesellschaftlicher Austausch. Wir rückten enger zusammen. Man ging eher ins Theater oder zusammen essen, weniger ins Bett.

Wie viele Bekannte und Freunde haben Sie an Aids verloren?
Zwei Freunde und jede Menge Bekannte. Es wurde ständig gestorben. Im Zürcher Sterbehaus Lighthouse war ich oft.

Ist Ihnen ein Schicksal besonders in Erinnerung geblieben?
Mein Coiffeur war bisexuell und hatte eine Freundin. Eines Tages sagte er, er sei positiv. Die beiden haben sich vor einen Zug geworfen. In Bern gab es einen Cembalisten, der von der Münsterterrasse sprang. Und im Spital hat ein Bekannter jede Nacht im Winter die Fenster aufgerissen in der Hoffnung, eine Lungenentzündung zu bekommen. Damit er endlich gehen konnte.

Wie prägte die Stop-Aids-Kampagne die Schweiz?
Am Anfang der Aids-Epidemie sprach man ja davon, HIV-Positive in Lager zu stecken oder sie zu tätowieren. In diese Richtung der Angst hätte es gehen können, wenn man sich in der Schweiz nicht geöffnet hätte für eine positive Kampagne. Ich bin überzeugt, dass das spätere Partnerschaftsgesetz nicht zustande gekommen wäre, hätte es die Aids-Vorgeschichte nicht gegeben. Sie hat die Bevölkerung aufgeklärt.

Ihr Auftritt war ein wichtiger Startpunkt dafür.
Das habe ich so nicht realisiert. Weil es viele andere Aktionen gab, um Aids in den Griff zu bekommen.

Später wurde die Stop-Aids-Kampagne ziemlich anzüglich. Was hielten Sie davon?
Ich fand das wahnsinnig gut. Werbung wirkt immer, wenn sie Humor hat. Der Satz «Röllele, röllele, röllele» aus einem damaligen Spot ist ja Allgemeingut geworden.

Und die Sexszenen aus den jüngeren Kampagnen?
Die genieren mich immer ein wenig, ich schaue sie aber natürlich!

Der Gebrauch von Kondomen nimmt wieder ab. Mit welcher Geste könnte man bewirken, was Sie vor dreissig Jahren bewirkt haben?
Ich glaube nicht, dass das wieder möglich wäre. Es war ein einmaliger Moment. Damals kannte man Kondome ja nur, wenn man die erotischen Kleinanzeigen las. Sonst nicht.

Wie erklären Sie heute Jugendlichen, warum Sie Kondome benutzen sollen?
Wenn man sicher sein will, braucht es ein Kondom. Aber offenbar denken heute viele Junge, Aids sei ein Problem der alten Schwulen. Dabei verkehren junge Schwule mit älteren.

Gibt man bei Google Ihren Namen ein, kommt gleich der Zusatz «Kondom». Der Gummi prägt Sie wie nichts anderes.
Ab und zu denke ich schon, ich habe im Leben nicht viel geleistet, ausser ein Kondom auszupacken. Aber damit kann ich leben.