Der ukrainische Myokla Lukach (Mitte) stärkt im Pool der Rehbilitationsklinik Superhumans in Wynnyky bei Liw seine Muskeln.

“Trau keinem, der noch alle Glieder hat”

Ein Krankenhaus in der Westukraine versorgt kriegsverletzte Soldaten mit Prothesen. Die Klinik heisst Superhumans und soll den Patienten neue Kräfte verleihen. Weil sie zurück an die Front wollen.

Peter Hossli (Text) Pascal Mora (Fotos) 28.07.2024

Der ukrainische Myokla Lukach (Mitte) stärkt im Pool der Rehbilitationsklinik Superhumans in Wynnyky bei Liw seine Muskeln.

Aus den Lautsprechern dröhnt ukrainischer Hip-Hop. Es riecht nach Chlor. Und Mykola Lukach (36) krault durch warmes Wasser. Just dreht er sich um und zieht rücklings an einem Mann vorbei, der brustschwimmt.

Lukach fehlt das rechte Bein, dem anderen Schwimmer fehlen beide. Ihre Gliedmassen haben sie im Krieg gegen Russland verloren. Jetzt stärken die ukrainischen Soldaten im Hallenbad die Muskeln, damit sie mit Prothesen wieder gehen können.

Das tun alle hier in der Klinik Superhumans in einem Vorort von Lwiw, im Westen der Ukraine. Es ist ein Krankenhaus, das eigens für Kriegsversehrte errichtet wurde. Ein Ort, an dem Amputierte wieder zu Kräften kommen, wo sie lernen, mit künstlichen Beinen zu gehen und mit künstlichen Armen zu greifen.

Für ihn sei Wasser die beste Medizin, sagt Mykola Lukach, ein gedrungener Kerl mit dunklem Haar. «Im Pool fühle ich mich frei.» Er stammt aus Ushgorod an der ukrainisch-ungarischen Grenze. «Schwimmen weckt Erinnerungen an meine Kindheit, als wäre ich neu geboren.» Darum geht es in der Klinik mit dem sonderbaren Namen: wieder zur Welt kommen, nachdem man sie fast verlassen hat.

Vor dem Krieg arbeitete Lukach als Lagerist in einem Baumarkt. Er trat 2018 der ukrainischen Armee bei und erneuerte den Arbeitsvertrag, kurz bevor die Russen im Februar 2022 sein Land überfielen. Während der Belagerung von Mariupol bediente er schwere Geschütze. Die Ukrainer verteidigten sich – und zahlten einen hohen Blutzoll.

Am 27. März 2022 explodierte hinter Kanonier Lukach ein Geschoss, das sein rechtes Bein zerfetzte. Er spürte einen «grotesken Schmerz», wie er sagt, fiel zu Boden und verlor für kurze Zeit das Bewusstsein. Sanitäter brachten ihn in ein Feldlazarett.

Er überlebe nur, wenn man ihm das Bein oberhalb des Knies amputiere, sagten ihm die Ärzte. «Scheisse», habe er gedacht. «Scheisse, das ist eine richtig grosse, grosse Scheisse.»

Nach dem Schwimmen trocknet sich Lukach ab und legt einen Verband um den Stumpf. Er schnappt sich Krücken und geht durch den hellen Raum. «Ja, ich fühle mich wohl hier», sagt er.

Das entspricht dem Anspruch des ukrainischen Milliardärs Andrey Stavnitser (42). Er gründete Superhumans 2023. Von seinem Vater erbte er einen privaten Hafen in Odessa, über den er Getreide in alle Welt verschifft. Einst studierte er am Institut Montana Zugerberg in Zug. Der Krieg veränderte sein Geschäft und ihn selbst. Anfangs führte Stavnitser eine humanitäre Stiftung in Polen. Bald erkannte er, wie viele Soldaten und Zivilisten durch den Krieg ihre Glieder verloren und dass die Ukraine dafür nicht gerüstet war. Gemeinsam mit dem US-Philanthropen Howard Graham Buffett (69) gründete er eine weitere Stiftung – und nannte sie Superhumans. Der Amerikaner steuerte 16 Millionen Dollar zum Startkapital bei. Innerhalb weniger Monate begann Superhumans am Stadtrand von Lwiw, kriegsversehrte Patienten zu behandeln.

Der merkwürdige Name war Stavnitsers Idee. Er sollte haften bleiben. Und er ist Programm: Versehrt kommen die Menschen hier an. Sie sollen nicht nur weiterleben, sondern Superkräfte erlangen. Das Leben mit der Prothese soll aktiver sein als zuvor. Wobei es nicht nur um die Prothese geht, sondern um die Art zu denken. «Trau keinem, der noch alle Glieder hat», lautet ein Witz, den sich die Patienten der Superhumans-Klinik erzählen, als wollten sie sich gegenseitig Mut machen.

Der coole Charme des Orts hilft. In der Klinik verströmen Boxen frischen Duft – ein Gegenentwurf zur abgestandenen Luft in den Krankenhäusern der Sowjetzeit. Die Räume sind hoch und hell, die Geräte modern. Mehr Apple Store als Krankenhaus.

Myokla Lukach spricht nach der Trainingseinheit im Schwimmbad mit einer Mitarbeiterin der Klinik im Superhumans Center nahe Lwiw.

Drei Monate verbrachte Lukach nach der Amputation in russischer Kriegsgefangenschaft. Gefangene ukrainische Ärzte behandelten ihn. «Die Russen wollten uns Verwundete loswerden», sagt Lukach und erzählt, wie er und andere Versehrte bei einem Gefangenenaustausch freikamen.

Als er hier ankam, hatte sich sein Bein entzündet. Er musste erneut amputiert werden, um den Stumpf für die Prothese vorzubereiten. Seither erhält er jede erdenkliche Therapie; er geht, läuft, schwimmt, stemmt Hanteln. Zuletzt soll er Gewichte tragen, rückwärts-, seitwärts- und vorwärtsgehen, sogar rennen und über Hindernisse springen können.

Er muss lernen, die Prothese zu benutzen, sonst bekommt er gesundheitliche Probleme, der Rücken schmerzt, oder der Stumpf entzündet sich. Techniker haben seinen Körper millimetergenau vermessen und die rund 100 000 Franken teure Prothese angepasst. «Ich trage jetzt eine Wohnung an meinem Bein», sagt er. Es soll sich auszahlen: «Ich will so schnell wie möglich zurück an die Front.»

Paul Romanowski probiert seine Prothese im Physioraum des Superhumans-Center

Ein Ziel, das hier die meisten haben. Täglich trainiert dafür Paul Romanowski (34) in der Klinik. Er stammt aus der zentralukrainischen Stadt Dnipro und betreibt dort ein Geschäft für Elektrowerkzeuge. Unmittelbar nach dem Einmarsch der Russen ging Romanowski zur Armee, wo er russische Panzer mit Drohnen angriff. Am 22. Juli 2023 explodierte hinter ihm eine Mine, die ihn im Gesicht, an den Händen und am linken Bein traf. «Es war die einzige Mine, die uns an diesem Tag traf», sagt Paul Romanowski und lacht in seinen Bart. «Ich knackte den Jackpot.»

Kameraden brachten ihn in ein Krankenhaus in Bachmut, wo ihn die Ärzte 27 Mal operierten. «Heute geht es mir gut», sagt Romanowski. «Ich will zurück in den Krieg und Bomben scharf machen.» Dann korrigiert er seine Aussage. «Ich will nicht nur, ich weiss, dass ich zurückgehen werde.»

Hat er nicht schon genug geopfert? «Nein, wir müssen diesen Krieg beenden, und das geht nur, wenn wir ihn gewinnen.» Das Land brauche mehr ausländische Waffen und mehr einheimische Männer an der Front.

Zunächst erhielt Romanowski eine Prothese mit einem mechanischen Kniegelenk. Damit konnte er kaum gehen, hatte Schmerzen im Rücken und in der Hüfte. Seit ein paar Tagen geht er mit einem intelligenten Knie, eine Prothese, die ein Mikrochip steuert. «Jetzt kann ich drei Stunden gehen – ohne Schmerzen und ohne müde zu werden.»

Paul Romanowski und seine Frau Valeria.

Gegen Mittag holt ihn seine Frau Valeria aus der Klinik ab. Sie küssen und streicheln sich. Zu Hause wartet die sechsjährige Tochter. «Meine Familie versteht, dass ich für unser Land kämpfen will.» Als er dem Reporter in gutem Englisch sagt: «Für mein Land zu sterben, wäre ein Vorbild für die nächste Generation», zuckt seine Frau zusammen. Als wolle sie das nicht hören.

Der Krieg scheint festgefahren. In Westeuropa werden Stimmen laut, die einen Kompromiss fordern, die Ukraine solle Land abgeben. Das lehnt der lädierte Soldat ab. Er habe sein Bein nicht für einen Kompromiss verloren. Nicht nur Donezk und Luhansk, auch die Krim sei «ukrainisches Land».

Die neu errichtet Superhumans Clinic in Wynnyky, einem Vorort von Lwiw im Westen der Ukraine.

Die Klinik ist an ein Veteranenkrankenhaus angeschlossen, das die UdSSR während des Zweiten Weltkriegs errichtete. Später wurden hier Soldaten versorgt, die in Afghanistan dienten. Bisher hat Superhumans 650 Prothesen angepasst und ausgegeben – für 450 Patienten. Manche haben zwei oder drei bekommen. Zwei sind vierfach amputiert und tragen deshalb vier Prothesen.

Die Klinik ist ein patriotisches Projekt. Zur Einweihung reisten First Lady Olena Selenska (46) und der ukrainische Gesundheitsminister aus Kiew an. Bewusst verzichtet Superhumans auf staatliche Zuschüsse, da die Steuerschatulle möglichst die Streitkräfte versorgen soll.

Die monatlichen Betriebskosten von einer Million Dollar steuern grösstenteils ausländische Spender bei. Besonders teuer ist der massgefertigte Schaft, das Verbindungsstück zwischen Körper und Prothese. Jeder Schaft ist einzigartig, da jeder Stumpf unterschiedlich ist. Zuerst trägt der Patient einen provisorischen Schaft aus transparentem Kunststoff, der sich anpassen lässt. Sitzt alles, wird er ersetzt durch einen Schaft aus Carbon.

Die meisten Patienten sind männlich und gehören den ukrainischen Streitkräften an, obwohl Superhumans allen offen steht und der Krieg viele zivile Opfer fordert. Gezielt wirbt die Klinik bei Ärzten und Krankenhäusern, ihre zivilen Patienten anzumelden und nach Lwiw zu schicken.

Andryi Mandryk beim Fussballspielen mit dem FC Pokrova AMP, dem ersten Fussballclub für amputierte Kriegsveteranen in der Ukraine.

Andryi Mandryk (24) teilte im Krankenhaus der ukrainischen Stadt Winnyzja das Zimmer mit einem Soldaten, der zwei Gliedmassen verloren hatte. Er hatte von Superhumans gehört, gemeinsam meldeten sie sich an. Mandryk lebt für die Uniform, absolvierte in Odessa das Militärgymnasium, später die Nationale Akademie der Armee. Als die Russen angriffen, führte er eine Gebirgsinfanteriebrigade bei Bachmut. Ihm unterstanden 60 Soldaten.

Am 29. September 2023 schlugen zwei Iskander-Raketen in seiner Nähe ein. Granatsplitter durchschlugen sein rechtes Bein. Obwohl die Ärzte versuchten, es zu retten, entzündeten sich die Gefässe – es blieb ihnen nichts anderes übrig, als das Bein zu amputieren.

So wie Kommandant Mandryk ergeht es vielen. Ein Sprecher von Superhumans rechnet mit 50 000 Ukrainern, die wegen des Kriegs eine Prothese brauchen werden. Hunderte solcher Zentren wie das in Lwiw, verstreut über das ganze Land, sind nötig. «Superhumans hat das Potenzial, das ukrainische Gesundheitssystem zu verändern», sagt der Sprecher. «Weg von den tristen Krankenhäusern der Sowjetzeit, hin zu einem Ort, an dem die Patienten im Mittelpunkt stehen.»

Der Milliardär Andrey Stavnitser will ein ganzes Netz von Superhumans-Zentren über das Land spannen. Kliniken in Odessa und Charkiw sind bereits in Planung, möglicherweise eine weitere in Dnipro. Wie lange jemand in der Klinik bleibt, hängt von der Amputation ab. Einige kommen nach zwei Wochen mit der Prothese bereits zurecht, andere brauchen ein Jahr, damit sich ihr Körper daran gewöhnt. Manche Patienten meistern den Verlust ihres Beins rasch, kämpfen aber mit einem Magen voller Granatsplitter, was höllisch wehtut. Niemand ist nur einmal Gast bei Superhumans. Zumal das Stück aus Metall und Kunststoff kontrolliert und gewartet werden muss. Wächst der Knochen eines amputierten Glieds nach, ist eine zusätzliche Amputation nötig. Dann beginnt die Rehabilitation oft von vorne, was hohe Kosten verursacht. Nicht aber für die Patienten. Alles ist hier umsonst, ein lebenslanger Service inbegriffen.

Andryi Mandryk in der Garderobe nach dem Fussballspielen mit dem FC Pokrova AMP, dem ersten Fussballclub für amputierte Kriegsveteranen in der Ukraine.

Deshalb siedelte der Milliardär Stavnitser die Klinik in der Ukraine an. Zu Beginn des Kriegs reisten die Verletzten noch ins Ausland, erhielten in Polen oder Deutschland eine Prothese, kamen zurück – und wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten.

Neben einem Kunstrasen in einem Stadtviertel von Lwiw liegen ein paar Prothesen. Fussballspieler haben sie hingelegt. Sie tragen blaue Trikots und stehen mit Krücken auf dem Spielfeld.

Ein Team aus sechs amputierten ukrainischen Soldaten tritt gegen Lehrerinnen an. Der Ball rollt schnell, die Pässe sind präzise, der Einsatz gross. Das Tor der Amputierten hütet ein Mann mit einem Arm. Den Feldspielern fehlt ein Bein. Nicht erlaubt sind Prothesen. Da jeder nur einen Fussballschuh braucht, teilen sich zwei Spieler mit ähnlich grossen Füssen ein Paar – falls einer das rechte, der andere das linke Bein verloren hat.

Andryi Mandryk hat ein Tor erzielt, zuletzt schlagen die Amputierten die Lehrerinnen. Das Ergebnis ist zweitrangig an diesem verregneten Nachmittag. Drei Dutzend Schulkinder verfolgen das Spiel und lernen etwas: dass Amputierte nicht gefährlich sind. Längst prägen Amputierte wegen des Kriegs das ukrainische Alltagsbild. Sehen Kinder im Supermarkt einen Mann ohne Arm, sollen sie keine Angst haben, sondern sagen: «Hey Mama, schau mal, da hinten steht ein ukrainischer Held.»

Nach dem Spiel sitzt Mandryk in der Umkleidekabine und bespricht mit den Kameraden das Spiel. Einst war er Goalie, seit er ein Bein verloren hat, verteidigt er auf der linken Seite und entwickelt viel Drang nach vorne. Zweimal die Woche trainiert er. Fussball sei wichtig für seine Reha.

Nicht nur körperlich. «Mir gefällt die Stimmung im Team», sagt Mandryk. «Die anderen Spieler haben Ähnliches wie ich erlebt, wir unterstützen uns alle.» Er spiele für sich – und für die Kinder am Spielfeldrand. «Sie sollen wissen, warum es Menschen gibt, denen ein Bein fehlt.»

Reporter Peter Hossli im Gespräch mit dem ukrainischen Veteran Paul Romanowski.