Tod auf der Linie 2
Ein Mann stirbt in einem Tram in Zürich. Der Tote fährt stundenlang durch die Stadt. 1200 Passagiere steigen zu und wieder aus – keiner reagiert. Wie ist das möglich? Und was für ein Leben hatte der Verstorbene?
Das Display zeigte vierzig verpasste Anrufe an. Vierzigmal hatte das Telefon von Pietrantonio De Sando geklingelt. Die Anrufe blieben unbeantwortet, denn der 64-jährige Schneider war tot. 6 Stunden und 45 Minuten sass er vorletzten Montag leblos in einem Tram, das ihn durch die Stadt Zürich fuhr. Das Telefon, ein iPhone 12, steckte in seiner linken Jacketttasche und war auf laut eingestellt. Ob andere Passagiere die Klingeltöne hörten, lässt sich nicht sagen. Bekannt ist einzig, dass niemand darauf reagierte.
Mit Adjektiven und Anekdoten beschreibt der Sohn seinen verstorbenen Vater. Ruhig, kreativ und stur sei er gewesen. «Ich wollte Koch lernen, er sah mich als Profifussballer», sagt David De Sando. Er sitzt im ersten Stock des Cafés Sprüngli am Paradeplatz und erzählt. Durch das Fenster ist das Modehaus Gross Couture an der Zürcher Bahnhofstrasse zu sehen. Pietrantonio De Sando hatte 41 Jahre für das Unternehmen gearbeitet, zuletzt als Co-Kreateur der Modelinie Roberto Quaglia.
Teilhaber wurde er nie. Er wollte ein einfacher Mann sein. Wie die anderen morgens ins Tram steigen, sich tagsüber so gut wie möglich bemühen und abends wieder heimfahren. Er lebte allein, kam werktags stets um Viertel vor sieben im Laden an, schaltete die Alarmanlage aus, die Lichter ein und begann, feine Damenroben zu entwerfen.
An jenem Morgen trank er zwei Espressi, glaubt sein Sohn, «wie immer morgens». Auf dem Weg von seiner Wohnung zur Haltestelle Micafil in Zürich Altstetten kaufte er vermutlich im Coop Pronto eine Packung Zigaretten, rauchte eine, bevor er das Tram bestieg. Später würde die Polizei bei ihm eine angerissene Packung finden; eine Zigarette fehlte. Wie mancher Italiener seiner Generation begann De Sando früh zu rauchen – mit 16 Jahren –, er qualmte viel und hörte nie mehr damit auf.
Um 6 Uhr 21 betrat er das Cobra-Tram der Linie 2. Zwanzig Minuten später hätte er beim Paradeplatz aussteigen sollen, von dort wäre er in einer Gehminute im Geschäft gewesen.
Er war elegant angezogen, trug ein hellblau-weiss gestreiftes Hemd, ein hellblaues Jackett und eine grauschwarze Hose, am rechten Arm eine Uhr. Gürtel und Krawatte fehlten – der italienische Modemacher mochte die beiden Accessoires nicht. In einer Tasche hatte er zwei Hemden und ein Paar Hosen dabei, um sie im Geschäft bügeln zu lassen. Er trug eine Corona-Maske aus Papier, sass in der Mitte des Fahrzeugs, rechts auf einem der wenigen Einersitze. Wegen der Pandemie versuchte er, anderen nicht allzu nah zu kommen, und mied im Tram Gratiszeitungen. Sportberichte über die AC Milan – er war Fan des Mailänder Fussballklubs – las er auf dem Mobiltelefon.
Videoaufnahmen zeigen, wie er an jenem Morgen beide Hände in den Schoss gelegt hatte und aus dem Fenster blickte. Um 6 Uhr 32 passierte er die Haltestelle Lochergut und schien plötzlich leicht einzuknicken, als fiele er in einen Sekundenschlaf. Er hob den Kopf, schaute nach rechts, nach links, kurz darauf fiel der Kopf wieder nach vorne. Er blieb so, bis er entdeckt wurde. Es sei höchstwahrscheinlich ein sofortiger Herzstillstand gewesen, sagt der Sohn. «Selbst ein Arzt hätte ihn kaum wiederbeleben können.» Sein Vater habe wohl nicht gelitten, «und das ist tröstlich».
Im Geschäft war er der Antonio, wer ihn gut kannte, nannte ihn Totò. Pietrantonio De Sando wuchs in Kalabrien auf, in San Pietro a Maida, einer Stadt mit 4000 Einwohnern, bekannt für exzellentes Olivenöl. Ihm gefielen Stoffe, er zeichnete gerne, studierte an einer Designschule in Vibo Valentia. Mit 21 kam er in die Schweiz, wo einst sein Vater gelebt hatte. Im Januar 1980 fing er im Nähatelier Quaglia in Altstetten an und bildete sich zum Modemacher weiter. Seine Frau, eine Köchin, stammt aus der gleichen Stadt wie er. Das erste Kind, ein Sohn, kam im November 1980 zur Welt, acht Jahre später eine Tochter. Totò kochte gerne und spielte mit italienischen Freunden Karten: Scopa, Briscola, Calabresella. Im Sommer fuhr die Familie mit dem Alfa Romeo in den Süden in die Ferien.
Eine Frage begleitete De Sando, wie viele andere Einwanderer aus Italien: Bleibt die Familie hier, oder gehen alle zurück? Das Schweizer Bürgerrecht beantragte er nicht, da er jederzeit in der Toskana hätte anheuern können. Die Stoffe, die er schätzte, kamen aus Florenz. Zwar wünschte er sich, sein Sohn würde in Italien studieren. Genauso verbunden war er mit dem Lindenplatz in Altstetten.
Am Abend bevor er starb, sprach er mit dem Sohn am Telefon über das Fussballspiel, das Italien gegen Wales gewonnen hatte. Und darüber, dass er seinen Alfa 156 aus der Garage fahren müsse, da dort bald mit Hochdruck gereinigt werde. Es ging ihm gut, er dachte an die Pensionierung im Januar, freute sich auf mehr Zeit mit seinen drei Enkelkindern, plante eine Kreuzfahrt im Mittelmeer mit der Familie. Nebenbei würde er wohl noch ein bisschen arbeiten. Er fühlte sich fit, gegen den leicht erhöhten Blutdruck nahm er Medikamente. Nie hatte er in den 41 Jahren im Geschäft krankheitshalber gefehlt. Erst in den letzten Tagen klagte er, manchmal etwas müde zu sein.
Das Tram der Linie 2 ist meist gut besetzt. Es führt vom Bahnhof Tiefenbrunnen im Osten Zürichs durch das Seefeld, die Bahnhofstrasse, den Kreis 4, über Altstetten nach Schlieren. Auf einer Fahrt der «NZZ am Sonntag» hält das Cobra-Tram um 10 Uhr 47 beim Tiefenbrunnen. Der Chauffeur verlässt den Führerstand, trägt eine Bananenschale hinaus, vertritt sich die Füsse. Vier Minuten später kommt er zurück und fährt los. Durch das Fahrzeug geschritten ist er nicht, obwohl es vorgesehen wäre. «Erlaubt es die Zeit, sollten Chauffeure bei den Endstationen durch das Tram gehen», sagt eine Sprecherin der VBZ. Das sei eine Empfehlung, aber keine Vorschrift. Am westlichen Ende der Linie, in Schlieren, steht das 2er-Tram 10 Minuten. Der Chauffeur bleibt sitzen, ein anderer raucht und telefoniert.
Man weiss: Die Chauffeure gingen nicht durch den 2er. Warum kein Passagier etwas tat, lässt sich nicht sagen. Viele Menschen nehmen ihre Umgebung und ihre Mitmenschen kaum wahr. Sehen sie etwas, fühlen sie sich nicht zuständig. Eine Pflegefachfrau aber handelte. Als sie kurz nach 13 Uhr 15 im Seefeld ins Tram einstieg, fiel ihr ein Mann auf, der eingesunken dasass. Sie sprach ihn an. Als er nichts erwiderte, versuchte sie seinen Puls zu fühlen, merkte aber, dass der Körper bereits erkaltet war. Sie informierte den Chauffeur, der einen Notruf aussandte. Herbeigeeilte Sanitäter stellten nur noch den Tod De Sandos fest.
Der Verstorbene sah aus, als würde er schlafen. Er war unverletzt, frisch rasiert, seine Frisur sass. Auf sich trug er einen Haus- und den Geschäftsschlüssel sowie ein Feuerzeug. Die Polizei fand ein Portemonnaie aus Leder, das ihm sein Sohn einst geschenkt hatte. Darin lagen eine Kreditkarte, das Trambillett, der Führerschein, die Krankenkassenkarte sowie die Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung.
Noch Stunden hörte die Familie nichts von den Behörden. Am späten Montagnachmittag gingen Tochter und Sohn zum Polizeiposten von Schlieren, um sich zu erkundigen. Sie warteten in einem Raum, während der Beamte telefonierte. Nach einer Weile zeigte er ihnen auf dem Bildschirm ein Foto. Sie sahen einen Mann, abgebildet von der Brust aufwärts, der auf dem Boden lag. Es war ihr Vater.
Pietrantonio De Sando hatte nie darüber gesprochen, wie und wo er die letzte Ruhe finden möchte. Er glaubte, noch lange leben zu können. Einige Verwandte wollten seine sterblichen Überreste nach Kalabrien überführen. Seine Kinder aber liessen ihn diesen Montag in Zürich Altstetten beerdigen, damit er in ihrer Nähe bleibt. An der schlichten Feier stiegen weisse und rote Ballons zum Himmel. Am Abend zogen heftige Gewitter über Zürich. Die Tramlinie 2 verkehrte ohne Verspätungen.