“Secondos sind besser”
Die Schweizer Start-up-Kultur sei nicht gut genug, sagt Risikokapital-Geber Florian Schweitzer. Er fordert mehr mutige Politiker.
Das Schild neben der Klingel ist etwas vergilbt, der Eingang liegt im Hinterhof. Im Erdgeschoss praktiziert ein Zahnarzt. «Hier kann ich gut nachdenken, hier ist es ruhig», sagt Florian Schweitzer (44), CEO einer der ältesten und grössten Risikokapital-Firmen Europas. In einer St. Galler Jugendstil-Villa führt er btov. Das Kürzel steht für «brains to ventures». Ideen finden Kapital. Aktuell hat der Fonds 375 Millionen Euro investiert, vor allem in Start-ups in der Schweiz, Deutschland und Österreich.
Schweitzer – gross, schlank, agil – führt ins Sitzungszimmer, ausgestattet mit amerikanischen und europäischen Designermöbeln. Ein dezenter, einladender Raum. «Wir verbringen hier viel Zeit, es soll schön sein.» Zwischen 3000 und 5000 Businesspläne erhält btov jährlich, 200 gelangen in die engere Auswahl, in ein Dutzend investiert die Firma. «Nicht die Quantität zählt, sondern die Qualität», sagt Schweitzer, der sich in Geduld übt. «Manchmal dauert es zehn Jahre, bis ein Start-up erfolgreich ist.»
Erfolg bringen ausserordentliche Menschen. Oft finden sie btov, ohne dass die Firma sie sucht. «Ausserordentliche Firmengründer kennen den Weg zu einem unserer Superangel», zu einem Investor, der früh einsteigt. Manchmal reicht ihm eine Seite, auf der ein starkes Team eine bestechende Idee skizziert. Was einmal pro Jahr vorkomme, im besten Fall fünfmal. Später zu investieren sei sicherer, aber weniger spannend. «Ich will mehr gute Gründer treffen», sagt er. Als wichtigste Kategorie nennt er das Timing. Noch vor fünf Jahren blickte er zuerst auf das Team, dann auf die Idee. «Heute ist das Timing zentral, dann das Team, zuletzt die Idee.» Am Markt chancenlos sei, wer zu früh oder zu spät komme. Ein gutes Team könne selbst aus einer mittelmässigen Idee etwas herausholen. Selten stimme der ursprüngliche Businessplan mit der Erfolgsstory überein. «Ist ein Team nur Mittelmass, versanden selbst die besten Ideen. Wie zentral das Timing sei, zeige das Online-Kaufhaus Zalando. Weit über 200 Millionen Franken seien im Jahr 2000 in rund 100 Online-Händler investiert worden. Überlebt hat keiner. Zalando kam 2008 – als der Markt reif war. Heute ist die Firma mehr als acht Milliarden Franken wert.
Und die Schweizer Start-up-Kultur? «Nicht gut genug», urteilt der Unternehmer. Zwanzig Jahre sind seit dem Börsengang von Logitech vergangen. Seither kam im IT-Bereich nichts mehr. «Ein Land wie Israel bringt jedes Jahr ein Logitech zur Blüte», sagt er. Nötig seien «mehr mutige Politiker wie Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann», der die Schweiz unlängst zur Krypto-Nation erklärt hatte, zum Land, das die Blockchain-Technologie vorantreiben soll.
Und die oft gepriesene Start-up-Kultur an der ETH in Zürich? «Es ist ähnlich wie im Fussball – richtig gut sind häufig die Start-ups der Secondos.» Menschen mit Migrationshintergrund hätten mehr Biss, mehr Mut, einen stärkeren Willen, Aussergewöhnliches zu schaffen. Wie im Silicon Valley, wo der Vater von Steve Jobs aus Syrien in die USA kam, Intel-Gründer Andrew Grove aus Ungarn.
Schweitzer ist Genfer. Um zu verstehen, wie die Welt sich bewegt, absolvierte er in Genf eine Lehre als Speditionskaufmann. Im Nachrichtenmagazin «L’Hebdo» las er 1995 einen Artikel über das Internet – und war elektrisiert. Er formulierte die Ideen für die Spedition der Zukunft und zeigte sie seiner Chefin. Sie wies ihn zurück. Fortan war ihm klar: «Ich will mein eigener Chef sein.» Er schrieb sich an der Universität St. Gallen ein – und machte ähnliche Erfahrungen, als er sich erkundigte, wo er etwas über Start-ups und Risikokapital lernen könne. Er solle sich beruhigen, wiesen die Professoren ihn ab und sagten ihm ein geräumiges Büro bei einem Konzern wie Roche oder Novartis voraus.
Schweitzer beruhigte sich nicht. An der Universität genoss er die nötigen Freiräume. Er fand Freunde, die wie er dachten und wussten, wer gute Ideen hatte. Als sich immer mehr Investoren bei ihnen nach vielversprechenden Start-ups erkundigten, gründeten sie eine eigene Firma. Zu dritt gingen sie fünf Tage in die Berge und entwickelten die Idee einer Plattform, auf der sich Start-ups und Investoren trafen. Auf N-TV strahlten sie eine Start-up-Show aus. Jede Woche erhielten sie gegen 30 Businesspläne und erwarben so die Übersicht über die europäische Start-up-Szene.
Als im April 2001 die Dotcom-Blase platzte – eine Firma nach der anderen ging pleite –, bauten die Gründer btov um. Sie verkauften die Online-Plattform und legten den Fokus auf Risikokapital. Rund 300 Business Angels investierten Gelder. Fünf waren professionelle Anleger, die eigene Ideen einbrachten. Aus den fünf hat sich ein enger Kreis aus 55 Investoren gebildet. «Eine eingeschworene Truppe», so Schweitzer. «Wir verlassen uns aufeinander.» Nicht Geld sei entscheidend. «Zeit und Vertrauen sind die beiden Faktoren, die uns zusammenhalten.» In den Kreis gelangt, wer von anderen vorgeschlagen wird und eindringlich vermitteln kann, warum er dabei sein möchte. Jedes bestehende Mitglied hat ein Vetorecht. Wer sich nicht angemessen verhält, wird ausgeschlossen, was schon dreimal vorkam. Er vergleicht Risikokapitalisten mit Reportern. «Beide versuchen, den Zeitgeist zu erahnen und Menschen zu finden, die ihn prägen.» Das Verhältnis zwischen Start-up und Risikokapitalist sei «ein bisschen wie eine Ehe», sagt er. «In guten wie in schlechten Zeiten halten wir zueinander.»
Entscheiden könne er wenig. Er stellt Fragen, hört zu. Und er hilft: Mitarbeiter zu finden, neues Geld zu beschaffen, bei einer Trennung der Gründer beizustehen. Das Ziel sei der Börsengang. «Dann kann sich eine Firma besser entfalten, als wenn sie verkauft wird.»
Vom Gang ins Silicon Valley rät er jungen europäischen Unternehmern ab. «Dort ringen sie mit Facebook, Uber und Google um die besten Ingenieure.» Es gehe zwar rascher voran, wenn ein US-Risikokapitalist helfe, den US-Markt zu erschliessen. «Weltweit führend kann nur werden, wer in den USA führend ist.» Wegen des Geldes sei es aber nicht notwendig, nach Amerika zu gehen. «Es gibt genug gutes Kapital in Europa.»