Im Spital für stark unterernährte Kinder in Burao, Somaliland. Farah führt ihrer Tochter Wariga (2) über eine Sonde eine kalorienreiche Flüssigkeit zu.

Ringen mit dem Tod

Hunderttausende Kinder sind in Somaliland vom Hungertod bedroht.

Peter Hossli (Text) Pascal Mora (Fotos) 11.04.2017 Blick

Im Spital für stark unterernährte Kinder in Burao, Somaliland. Farah führt ihrer Tochter Wariga (2) über eine Sonde eine kalorienreiche Flüssigkeit zu.

Von der Wand lacht eine gezeichnete Micky Maus. Die Zeichentrickfiguren Tom und Jerry feixen. Auf dem Boden kauert Hodo (25). Neben ihr liegt fast regungslos ein Baby. Fliegen umschwirren dessen Kopf. «Er heisst Abdirahman», sagt Hodo, seine Mutter. «Vor zehn Tagen starb sein Bruder, er darf nicht sterben.»

Mit einem roten Tuch wedelt sie Fliegen weg. Seit sechs Nächten liegt der Einjährige in der Notfallstation des Nutrition Stabilization Center for Severely Malnourished Children in Burao. Im kärglichen Spital in Somaliland werden Kinder vor dem Hungertod bewahrt. «Als er ankam, schien Abdirahman tot, nun bewegt er sich wieder», sagt die Mutter.

Kinder, die von der Dürre in Somaliland am schlimmsten Betroffenen, kämpfen hier mit dem Tod.
Ausgemergelt liegen sie auf schmalen Pritschen. Ihre Blicke sind leer, die Augen gläsern, in ihren Nasen stecken Sonden. Zieht der Pfleger das T-Shirt eines der kleinen Patienten hoch, sind nur Adern, Haut und Knochen zu sehen.

Seit drei Jahren leidet die Region am Horn von Afrika unter einer argen Dürre. Nun droht eine Hungersnot. Auf Hilfe sind 20 Millionen Menschen angewiesen. Allein im Zwergstaat Somaliland mit 4,5 Millionen Einwohnern gelten 280 000 Kinder als unterernährt, 40 000 davon akut.

Die Dürre raffte dahin, was Hodo besass: Ihre 160 Ziegen verendeten. Statt mit Milch, Butter und Fleisch kann sie ihre Kinder nur noch mit Reis ernähren.

Zuerst erkrankte der vierjährige Abdijibar. Er litt an Durchfall, erbrach, trocknete in Folge der Mangelernährung aus. Er ass nichts mehr und starb.

Sein Bruder wird über eine Sonde künstlich ernährt, dann mit Erdnusspaste gestärkt. Und sie, die Mutter, isst sie genug? «Eine solche Frage stellt nur ein Mann!», kichert sie den Reporter an. «Die Kinder haben zu wenig, und sie essen immer vor mir.»

Abdirahman (1) in der der Notfallstation des Nutrition Stabilization Center for Severely Malnourished Children in Burao.

Es ist nicht die erste Dürre, die Somaliland peinigt. Aber: «So etwas habe ich noch nie erlebt», sagt Pfleger Mohamed Abdalle (55). «Die Kinder kommen extrem krank zu uns.» Um jedes kämpfe er. In den letzten 90 Tagen verhungerten drei von rund dreihundert eingelieferten Babys. «99 Prozent konnten wir retten.»

Er beugt sich über eine Pritsche. Farah – sie kennt ihr Alter nicht – steckt eine Kanüle an die Sonde, die in die Nase ihrer Tochter Wariga (2) führt. Langsam drückt sie eine weissliche, kalorienreiche Lösung in den dünnen Schlauch.

Seit einem Monat isst das Mädchen kaum. Nur knapp überlebte es die Tagesreise aus der abgelegenen Region im trockenen Osten von Somaliland: eine Autofahrt über holprige und staubige Pisten.

Allein sitzen kann sie nicht mehr. Wariga ist zu schwach, um sich auf Menschen einzulassen. Kurz nur öffnet sie die Augen, während ihre Mutter ihr die Milch zuführt. «Sie war ein fröhliches Kind», sagt die Mutter. Nun wirkt Wariga apathisch, ihr Kopf ist übersät mit Flecken. «Eines Tages wird sie wieder lachen.»

Farah hat fünf Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren. Fast jedes Jahr bringt sie ein Baby zur Welt – neben der Dürre ein weiterer Treiber des Hungers. Männer lassen sich kaum abweisen. Familien glauben, Kinder bewahre sie vor Armut.

Die Dürre verschlimmert die Situation der Frauen. Da viele unterernährt sind, fehlt ihnen die Kraft zum Stillen. Ein natürliches Verhütungsmittel entfällt.

Farah legt die Kleine hin. Die Mutter ist im Spital zu Kräften gekommen. Hier isst sie dreimal täglich. Sie lacht nach der Frage, was sie sich für Warigas Zukunft wünscht: «Eine Ausbildung, damit sie nicht von Ziegen abhängig ist.»

Seit einem Monat isst Wariga (2) kaum. Sie wird künstlich ernährt.

Es gibt Begegnungen, die einen nicht mehr loslassen. Wie jene mit Shaafic. Der Junge ist 18 Monate alt, er sieht aus wie ein kleines Gespenst. Mit hohlen Wangen und einem Kopf, der viel zu gross ist für den kleinen Körper und die spindeldürren Arme.

Shaafic blickt mit seinen trüben Augen ins Leere, als ob sein Gesicht das gesamte Leid seines Landes schildern müsste. Erst zwanzig ist seine Mutter Khadra, ihr Vieh ist verdurstet, alle ihre fünf Kinder sind krank, Shaafic ist das schwächste. «Ob er überlebt, weiss Gott», sagt Pfleger Abdalle. «Aber wir kämpfen um ihn.»

Sie können helfen

Die Glückskette sammelt Geld zugunsten der Opfer der Hungersnot in Afrika. Spenden auf www.glueckskette.ch, über die Swiss-Solidarity-App der Glückskette und auf das Postkonto 10-15000-6 (Vermerk «Hungersnot in Afrika»).

Shaafic ist 18 Monate alt.