“Regnet es nicht bald, sterben wir alle”

Am Horn von Afrika spielt sich eine humanitäre Krise von riesigem Ausmass ab. Besonders betroffen ist Somaliland, eines der ärmsten Länder der Welt. Über die Hälfte des Viehs ist verendet, nun drohen die Menschen zu sterben.

Peter Hossli (Text) Pascal Mora (Fotos) 09.04.2017 SonntagsBlick

Ihre Augen sind matt, die Wangen hohl. Kaum tragen kann die Mutter ihren abgemagerten Sohn. «Er heisst Abdi», sagt sie.

Abdi hustet. Sein Blick ist gläsern, die Beine spindeldürr. Graue Flecken überziehen seinen Kopf. «Weil er zu wenig isst», sagt Khadra (23). Seit Monaten isst Abdi zu wenig. Die Erde gibt nicht mehr genug her. Sie schluckt zuerst die Tiere, dann die Menschen.

Khadra, ihre vier Kinder und ihr Mann Ahmed (40) leben im Osten der Republik Somalia. Die vielleicht schlimmste Dürre aller Zeiten unterjocht das Land am Horn von Afrika. Seit Monaten fiel kein Regen, bloss ein Drittel der üblichen Menge hat Somalia in diesem Jahr erhalten.

Dringend auf fremde Hilfe angewiesen sind 3,5 Millionen Menschen: jene 75 Prozent der Bevölkerung, die von ihrem Vieh leben. Das stirbt weg. Mitte letzten Jahres besass Khadra noch 50 Schafe und 50 Ziegen, geblieben sind ihr je zehn. Die anderen sind verdurstet.

Khadra und ihr Sohn Abdi in Somaliland. Der Kleine leidet an Unterernährung.

Am Himmel hängt keine Wolke, es ist brütend heiss. Windhosen zeichnen irre Wege über die Steppe. Äste bedecken den Boden, es sind Gerippe ausgetrockneter Bäume. Ein toter Esel liegt auf dem Staub, von Geiern zerfressen. Dahinter verwest eine Ziege. Nicht nur Haustiere sterben; im Sand modern Kamele. Was Schlechtes verheisst.

Die Faustregel: Ist es sogar den Kamelen zu trocken, ist die Lage todernst. Sterben die Kamele, sterben bald die Menschen. Vieh ist Vermögen. Wächst die Herde, sind die Menschen der Steppe reich. Stirbt sie, verarmen und verlumpen sie.

Geissenmilch versorgte Khadras Kinder mit Eiweiss und Mineralien. Fleisch und Butter stärkte sie. Früher verkaufte ihr Mann Ziegen auf dem Markt, kaufte mit dem Erlös Butter und Getreide. Seit Monaten hat er keine Tiere mehr absetzen können. «Sie sind zu dünn, niemand will sie.»

Die Kinder husten, haben Durchfall

Deshalb reicht das Geld nur noch für eine halbe Schüssel Reis pro Tag. «Meine Kinder sind schwach», sagt Khadra. Sie husten, haben Durchfall. Pillen und Pulver hat sie keine, deshalb verkocht sie Wurzeln zu einem Trank, der heilen soll.

Und sie selbst, isst sie genug? «Haben Sie Kinder?», fragt sie den Reporter. «Ob schwarz oder weiss, wir Eltern sind überall gleich: Wir essen erst, wenn die Kinder satt sind.»

Ein ausgetrockneter Fluss in Somaliland. Seit drei Jahren regnet es kaum.

Satt ist keines ihrer Kinder. Ende Januar galten in Somiland 138000 Kinder als unterernährt, davon 18100 als akut. Hilfswerke gehen davon aus, dass sich die Zahlen seither verdoppelt haben.

Oberkörper sind Gerippe, Füsse schwellen an, Arme magern ab. Essen sie nicht bald mehr, wachsen sie zu langsam, die geistige Entwicklung bleibt zurück. Eine ganze Generation schwächelt.

Eine ganze Generation schwächelt

Mit Erdnussstängeln versucht das Hilfswerk «Save the Children» zu verhindern, dass Kinder ins Spital müssen. Sie sind kalorienreich, müssen nicht gekocht oder mit Wasser angerührt werden. Schwangere Frauen werden zum Stillen ermuntert. Das Hilfswerk zahlt für Lastwagen, die Wasser in Dörfer fahren.

All das kostet Geld. Geld ist der Treiber des Teufelskreises des Leids. Ohne Geld ist Hilfe nicht möglich. Geld fliesst aber erst, wenn die Öffentlichkeit das Leid bemerkt. Was passiert, wenn Kinder sterben. Eine Krise lässt sich dann aber kaum mehr verhindern.

Kinder bringen Schubkarren und Kanister zu einer Zisterne in Waridad in Somaliland. Ein Tanklaster bringt Wasser.

Es ist kurz vor neun Uhr, die Sonne steht bereits hoch in Waridad, einem Dorf im Osten von Somaliland. Rund 2000 Familien harren hier aus, 12000 Menschen. Seit zwei Wochen ist der Ort komplett trocken, die letzte Quelle versiegt. Von der zwei Stunden entfernten Stadt Burao karren seither Lastwagen Wasser ins Dorf.

Heute soll der Tankwagen um neun Uhr ankommen. Knaben in Shorts und Mädchen in bunten Kleidern stossen Schubkarren vor sich her, beladen mit gelben Kanistern. Die Jungs rennen, um vorne in der Schlange zu warten.

Zuvorderst stehen Nimo (12), Muna (13) und Fardus (10). Sie gehen zusammen zur Schule, sind gute Freundinnen. Sie erzählen von Tieren, die ihren Eltern wegsterben. Dass sie nur noch Reis und Spaghetti essen, sagt Muna. Ihre Fingernägel hat sie orange angestrichen. «Mir fehlen Butter und Milch.» Oft gehe sie hungrig ins Bett. «Früher hatte ich nie Hunger.»

Regnet es, ist Cholera vorprogrammiert

Und doch träumen die drei Mädchen von einer besseren Zukunft. Nimo rechnet gerne, sie will Lehrerin werden. Wie Muna, die gerne Geschichten und Gedichte schreibt. Die Jüngste der drei, Fardus, lacht selten. Ihr Berufsziel: Ärztin. «Damit ich die vielen Kranken heilen kann.» Aus dem Nichts sagt das zehnjährige Mädchen, was eine Zehnjährige nirgends auf der Welt sollte sagen müssen: «Wenns nicht bald regnet, sterben wir.»

Dabei birgt der Regen auch eine grosse Gefahr. Er würde die verwesten Tiere ins Wasser schwemmen. Unausweichlich wäre ein Ausbruch von Cholera. Pünktlich um neun Uhr hält der Lastwagen vor der Zisterne. Sie ist mit Wellblech bedeckt, damit das Wasser unter der sengenden Sonne nicht verdunstet.

Zwei Esel trinken aus einer Tränke. Ein drahtiger Kerl senkt einen Eimer in die Zisterne, zieht ihn mit zwei kräftigen Zügen hoch, entleert ihn über einen Trichter in den Kanister. Senkt den Kessel erneut in die Zisterne, zieht ihn hoch, füllt den Kanister. Bis die Zisterne leer ist. Aus der Ferne schaut Cosob zu, eine 40-jährige Frau, die wie 60 aussieht. Ihr Mann starb vor drei Monaten, nun ist sie mit sechs Kindern alleine. «Kommt nicht bald Wasser, sterben sie.

 

Zu Fuss ging sie durch die Nacht zur Zisterne. Sie ist auf einer Mission: «Ich will, dass der Wasserlastwagen zu uns kommt.» Ihr Dorf sei total trocken. Ihre 300 Ziegen alle tot. Cosob redet zuerst mit dem Lastwagenfahrer, dann mit dem Bürgermeister. Sie will so lange bleiben, bis ihr jemand verspricht: Es kommt Wasser. «Es geht um die Zukunft meiner Kinder.»

«Dann sterben alle, dann gibt es und nicht mehr»

Nur Regen kann diese sicherstellen. «Keines meiner Kinder besucht die Schule, sie müssen Hirten werden.» Was, wenn das Klima trocken bleibt? «Dann sterben alle, dann gibt es uns nicht mehr.»

Sarah ist nach Cadawo Yuruura gewandert, wo es noch Wasser gibt.

Bereits die dritte trockene Regenzeit in Folge erlebt Somalia 2017. Die erste Dürre kann man mit Vorräten überleben. Eine zweite verunmöglicht es, Vorräte anzulegen. Bei der dritten stirbt das Vieh, vielleicht die Menschen. Wie 2011, als 250 000 Somalier starben.

Wer kann, zieht dorthin, wo es noch grün ist. Etwa an den Ceel-Xumo, einen einst breiten, heute versiegten Fluss. Somalis haben zwei Brunnen ins Flussbett gegraben, Frauen ziehen Grundwasser hoch, tragen es in Kanistern nach Cadawo Yuruura, ein Dorf mit vielleicht 500 Einwohnern. Mit ihren drei Kindern kam heute Sarah (30) hier an. Wie sie sind Millionen von Afrikanern auf der Flucht vor dem heissen Wetter. «Wo ich lebe, gibt es nichts mehr.»

Was sagen die Dorfbewohner, wenn plötzlich Hunderte von durstigen Menschen ankommen? Die Frauen bieten Hand für Hilfe. Sie betreuen Sarahs Kinder, während sie eine Hütte errichtet. Deepra (45) zeigt Sarah das Wasser, das ein Hilfswerk gebracht hat. Dann teilt sie es mit Neuankömmlingen wie Sarah. «Entweder wir trinken zusammen oder wir sterben zusammen.»

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