“Ich tu es aus Liebe”
Sie gehört zu den reichsten Schweizerinnen und steht an der Spitze eines globalen Handelskonzerns, der jedes Jahr 500 Millionen Menschen ernährt. Für Margarita Louis-Dreyfus gibt es nichts Wichtigeres als die Familie – «der Sinn des Lebens».
Frau Louis-Dreyfus, ich spreche kein Russisch. Möchten Sie das Interview auf Deutsch, Französisch oder Englisch führen?
Margarita Louis-Dreyfus Gerne auf Deutsch. Englisch spreche ich nur, wenn es ums Geschäftliche geht.
In welcher Sprache träumen Sie?
MLD In allen möglichen Sprachen. Das weiss ich ziemlich genau, denn ich träume viel und erinnere mich oft an meine Träume. Sollte ich einmal von Ihnen träumen, dann wahrscheinlich auf Deutsch.
Und welche Sprache wird bei Ihnen zu Hause am Familientisch gesprochen?
MLD Russisch.
Sie haben fünf Kinder. Reden Sie mit den achtjährigen Zwillingstöchtern in einer anderen Sprache als mit Ihren drei erwachsenen Söhnen?
MLD Nein, ich spreche mit allen Russisch. Aber mittlerweile sprechen die Kinder besser Schweizerdeutsch als Russisch.
Wie wichtig ist Ihnen Ihre Familie?
MLD Man kann nicht einfach sagen, die Familie sei einem «wichtig». Die Familie ist der Sinn des Lebens. Meine Familie ist der Sinn meines Lebens. Für die Gesellschaft ist die Familie ohnehin der wichtigste Baustein.
Dann ist Ihnen Ihre Familie sogar wichtiger als Sie es selbst sind?
MLD Warum sagen Sie «sogar»? Eine Familie kann nur existieren, wenn sie wichtiger ist als wir selbst. Ist das nicht so, fällt sie auseinander.
Das sind grosse Worte. Warum hat für Sie die Familie eine derart wichtige Bedeutung?
MLD Unsere Gesellschaft hat das Wort «Familie» stark verwässert. Hören Sie sich doch mal um, und fragen Sie andere, wofür sie bereit sind, ihr Leben zu opfern. Fast alle werden Ihnen dasselbe antworten: «Für meine Kinder würde ich mein Leben geben.»
Jetzt beschönigen Sie ein Idyll. Viele Familien brechen heutzutage doch auseinander.
MLD Eine Familie entsteht um die Kinder herum. Die Erwachsenen können auseinandergehen, aber die Kinder halten die Familie zusammen.
Sie haben im Alter von sieben Jahren Ihre Eltern bei einem Unfall verloren. Etwas Schlimmeres kann man sich für ein kleines Kind kaum vorstellen. Ist die Familie für Sie deshalb so wichtig?
MLD Nach dem Tod meiner Eltern kam ich ins Internat. Dort hatten fast alle Kinder ähnliche Schicksale erlebt. Den Tod meiner Eltern habe ich wie eine schlimme Krankheit empfunden. Ich hatte enorme Schmerzen, aber mit der Zeit habe ich mich davon erholt, und es ist besser geworden. Für ein Kind ist es wichtig, wie die Erwachsenen ihm die Herausforderungen des Lebens erklären. Mein Grossvater war ein starker Mann, er gab mir sehr viel.
Haben Sie etwas aus dieser Zeit für Ihr Leben mitgenommen?
MLD Dass ich plötzlich allein war und auf mich selbst aufpassen musste, hat mir meine heutige Kraft gegeben. Mit sieben musste ich allein durch die Millionenstadt Sankt Petersburg zur Schule fahren. Oft habe ich mich verirrt, dann musste ich den Weg wiederfinden. Ich kaufte für den Grossvater und meine Tante ein und war immer für sie da. Auch dann, wenn ich lieber spielen wollte. Aber ich spürte: Ich tu es aus Liebe.
Liebt man, macht man alles?
MLD Liebe ist etwas anderes, als den Alltag zu bewältigen. Nehmen Sie das Lernen. In einer Gruppe oder in der Schule lernen wir anderes als in der Familie. In einer Gruppe bestimmen Vorgaben, was Kinder lernen. In der Familie lernen wir aber aus Liebe. Das ist emotional, das gibt einem viel mehr Kraft. Kinder eignen sich innerhalb der Familie Werte an, die sie später weitergeben. Das geht durch das Herz, nicht den Kopf. Am Anfang dieser Liebe steht stets die Mutter.
Für Sie kommt die Mutterliebe zuerst?
MLD Da würde ich noch weiter gehen und sagen: Die Liebe der Mutter zu ihrem Kind ist die Liebe, die dem Menschen von Natur aus gegeben ist. Unserer Zivilisation und der Religion diente diese Liebe als Vorbild für alle anderen Formen der Liebe.
Warum ist Mutterliebe aus Ihrer Sicht einzigartig?
MLD Väter und Mütter haben in der Evolution diese mütterliche Liebe entwickelt. Elternliebe ist die einzige bedingungslose Liebe. Sie fusst nicht auf einem Pflichtgefühl, sondern es ist eine Liebe aus Liebe. Es ist die stärkste emotionale Kraft und Motivation für Menschen, freiwillig die eigenen Interessen zur Seite zu stellen. Sogar die Demokratie basiert auf der elterlichen Liebe als moralische Richtschnur – auf das freiwillige und selbstlose Geben und Teilen.
Sie sitzen einem Vater gegenüber, der seine beiden Töchter bedingungslos liebt. Wie unterscheiden sich Vater- und Mutterliebe?
MLD Es gibt genetische Unterschiede. Von Natur aus kannten unsere menschlichen Vorfahren so etwas wie die Vaterliebe nicht. Wer die Natur anschaut, sieht: Es gibt praktisch nur Tiere – etwa Pinguine und Schwäne –, bei denen Männchen und Weibchen zusammenbleiben, ihr ganzes Leben gemeinsam verbringen. Und die durch so etwas wie eine grosse Liebe verbunden sind.
Aber Menschen kennen das doch auch!
MLD Unsere Vorfahren lebten in Gruppen, wo ständig Spannung herrschte. Der Stärkste bekam das Recht, Kinder zu zeugen. Er hatte die Macht über die Gruppe. Um die Erziehung und die einzelnen Kinder kümmerte er sich nicht. Sein Ziel war die Kontrolle über die Gruppe und genügend Nachkommen. Deshalb gab es in dieser prähistorischen Gesellschaft nur eine Liebe: die zwischen Mutter und Kind. Erst später hat unsere Zivilisation die Vaterliebe entstehen lassen.
Was ist aus Ihrer Sicht denn eine gute Mutter?
MLD Mütter sind von Natur aus gut, weil sie, ohne zu überlegen, alles für ihre Kinder tun, auch sterben. Wenn eine Frau sagt, sie möchte Kinder, aber nur unter bestimmten Bedingungen, dann bin ich nicht überzeugt, dass sie eine gute Mutter sein kann.
Frauen haben heute glücklicherweise einen erweiterten Fokus auf ihr Leben, nicht nur auf das Muttersein.
MLD Ich hatte nie Zweifel daran, dass ich Mutter sein würde …
… dabei sind Sie weitgehend ohne Mutter aufgewachsen. Wie wird man eine gute Mutter, wenn einem das Vorbild fehlt?
MLD Ich brauchte kein persönliches Vorbild. Für mich war die Mutterschaft der sinnvollste Weg zu leben, Kraft weiterzugeben und dabei selbst stärker zu werden. Als Kind wusste ich bereits, dass ich Mutter sein und mein Schicksal mit meinem eigenen Kind teilen würde. Und wenn mein Kind verhungern würde, dann würde ich mit ihm verhungern. Aber erst, nachdem ich alles getan hätte, um es zu retten. Die Mutterschaft gibt mir Sinn in jeder anderen Tätigkeit. Denn was ist für unsere Gesellschaft denn wichtiger, als die Zukunft zu sichern? Kinder sind unsere einzige Zukunft.
Männer sind genauso bereit zu geben wie Frauen.
MLD Natürlich. Unsere Zivilisation und die Religion haben aber die Mutterliebe als Vorbild für friedliche und menschliche Beziehungen ausgewählt. Die Mütter haben diese Verantwortung seit Tausenden von Generationen auf ihren Schultern getragen. Die Mütter haben ihre Töchter und Söhne gelehrt, selbstlos zu lieben.
Mütter alleine können keine Familie bilden.
MLD Erst die Religion hat die Familie hervorgebracht, in der Frauen und Männer durch die bedingungslose Liebe zu ihren Kindern verbunden sind.
Wir leben heute in einer aufgeklärten, modernen Welt, in der Frauen mehr sein wollen als Mütter. Was Sie sagen, könnte man gesellschaftlich als Rückschritt sehen.
MLD Schauen Sie, ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen. Als Kind war ich von Frauen umgeben, die über vieles selber entscheiden konnten: ob sie heiraten, abtreiben oder sich scheiden lassen. Jede Frau hat gearbeitet – als Ärztin, Ingenieurin oder im Fall meiner Tante als Putzfrau. Die meisten Kinder waren ab sechs Monaten tagsüber entweder bei den Grosseltern oder in einer Krippe. Die Mehrheit der Frauen, die ich als Mädchen kannte, waren sehr stark. Sie haben ihren Lebenssinn in der Verbundenheit zu ihren Kindern gefunden.
Dann muss nicht alles perfekt sein – das Leben, die Familie, der Beruf?
MLD Perfektion hat mit dem echten Leben nichts zu tun. Wer sagt, eine Mutter müsse 24 Stunden bei ihrem Kind sein, irrt. Auch im Beruf ist Perfektion oft ein Hindernis. Das echte Leben sieht anders aus. Mütter sind aktiv. Sie versorgen ihre Kinder – und sie integrieren ihre mütterliche Sorge um die Zukunft in ihr Berufsleben.
Sie haben fünf Kinder und weltweit 17 000 Angestellte. Wer fordert Sie mehr?
MLD Natürlich die Kinder. Es ist viel einfacher, eine Gruppe zu organisieren, als eine Familie. Männer und Frauen ohne Kinder, die denken, ihr Leben sei anstrengend, haben keine Ahnung, was es heisst, eine Familie zu organisieren.
Was braucht ein Kind, um eine starke Persönlichkeit zu entwickeln?
MLD Ihre Frage ist gut, und sie lässt sich ziemlich einfach beantworten: Kinder brauchen sinnvolle Aufgaben. Sinn lernen sie in der Familie. Wenn eine Lehrerin einem Kind sagt, es soll sich die Zähne putzen, fragt das Kind: «Warum?» Die Lehrerin sagt: «Damit du keine Karies bekommst.»
Eine Mutter würde das Gleiche antworten.
MLD Ja, oder sie kann sagen: «Wenn du Karies bekommst, muss ich den Zahnarzt bezahlen und deshalb zweimal so viel arbeiten.» Da lernt das Kind mehr. Es ist emotional beteiligt. Es geht um die Familie. Lehrer erziehen Kinder weniger gut zum Teilen als Mütter.
Wie das?
MLD Wenn das Kind fragt, warum es mit dem Bruder teilen soll, antwortet die Mutter: «Weil ich deinen Bruder liebe, und wenn du nicht teilst, tut es mir weh.» Das ist keine Ideologie, sondern Liebe. Aus Liebe lernt ein Kind, eigene Bedürfnisse zu kontrollieren, sich anzupassen und Verantwortung zu übernehmen.
Sie äussern sich oft kritisch über digitale Geräte wie das Smartphone. Warum sind sie aus Ihrer Sicht schädlich für Kinder?
MLD Die Geräte sind suchterzeugend. Sie stehlen Kindern Zeit, und zwar alle Geräte, nicht nur die mit Social Media.
Dann verbieten Sie diese Ihren Kindern?
MLD Meine Zwillinge sind jetzt acht Jahre alt. Eines der Mädchen war als Kleinkind süchtig, das andere nicht. Als sie zwölf Monate alt waren, haben wir sie – wie alle Eltern – mit dem Handy fotografiert und ihnen die Fotos gezeigt. Eine Tochter nahm das Gerät in die Hand, drückte darauf, und wir dachten: Sie ist ein Technikgenie. Nach ein paar Tagen erkannten wir: Sie ist süchtig nach dem Bildschirm. Sie hat geschrien, als wir ihr das Telefon wegnahmen. Sie konnte schon laufen und griff bei unseren Besuchern direkt in die Taschen, um nach dem Telefon zu suchen.
Sie war süchtig nach dem Telefon, obwohl sie noch kein Tiktok hatte?
MLD Um diesen Stuhl hier am Tisch zu verschieben, muss ich aufstehen. Wenn ich aber auf mein Telefon klicke, muss ich nur wenig tun, und schon passiert etwas. Das zieht sowohl uns Erwachsene als auch die Kinder an. Es reicht, mit einem einzigen Finger kurz zu tippen, und etwas bewegt sich. Davon sind wir abhängig geworden.
Ab welchem Alter sollen Kinder ein Mobiltelefon bekommen?
MLD Aus meiner Sicht sollten Kinder vor dem 18. Lebensjahr kein Smartphone besitzen. Ein Smartphone bedeutet nichts anderes als Zugang zu Social Media. Vor 18 Jahren halte ich Social Media für gefährlich. Die Tech-Industrie sagt uns, dass Kinder in der virtuellen Welt sein müssen, weil sie ein Recht darauf haben, mit anderen verbunden zu sein, und weil wir sie auf ein Leben in der digitalen Zukunft vorbereiten müssen.
Was ja beides nicht falsch ist.
MLD Beides ist eine Lüge! Die virtuelle Welt bietet nur eine Scheinverbundenheit. Und auf die digitale Zukunft kann heute niemand vorbereitet werden, weil wir nicht wissen, wie die Welt in fünf Jahren aussieht.
Aber es ist nicht mehr möglich, ein modernes Leben ohne Mobiltelefon zu führen!
MLD Das stimmt. Aber wir können auch nicht mehr ohne unsere Autos leben, trotzdem setzen wir unsere Kinder nicht hinter das Steuer. Mit sieben Jahren können Kinder ein Gerät bekommen, das sie mit einem Knopfdruck bedienen können, aber nur im Beisein der Eltern. So wie Kinder nur im Beisein der Eltern Auto fahren, gut angeschnallt auf einem Kindersitz.
Bei Kindern gibt es einen grossen sozialen Druck, ein Mobiltelefon zu bekommen. Und die Eltern möchten mit ihren Kindern in Kontakt bleiben.
MLD Dann können Sie ihnen ein Nokia geben, ein einfaches Telefon, das keine Fotos macht. Da besteht viel weniger Suchtgefahr. Ein solches Telefon macht ab dem Schulalter Sinn.
Sie sind in der Sowjetunion aufgewachsen, haben kurze Zeit in den USA gewohnt und leben nun in Europa. Wo ist Ihr Zuhause?
MLD Ich bin dort zu Hause, wo ich meine Kinder geboren habe. Die Schweiz ist seit über 30 Jahren mein Zuhause, hier kam mein erster Sohn zur Welt. Aber bewundert habe ich die Schweiz schon immer.
Wofür denn?
MLD Für ihren Pragmatismus. Leider findet man ihn immer weniger. Nächstes Jahr werde ich 40 Jahre meines Lebens in der Schweiz verbracht haben – und ich erkenne dieses Land kaum noch. Viele Schweizer sind polarisiert oder passiv geworden. Zum Glück nicht alle. Deshalb glaube ich an die grosse historische Stärke der Schweizer Mentalität.
Ihnen sind traditionelle Werte wichtig. Wie können Sie diese in einer Familie weitergeben, die wie Ihre sehr viel Geld hat?
MLD Geld erschwert die Weitergabe von Werten. Eine russische Weisheit sagt: Das einfachste Mittel, um ein anständiger Mensch zu bleiben, ist die Armut. Wenn man arm ist, kann man einfacher die Moral bewahren. Schwieriger ist es, wenn man Geld hat. Und noch schwieriger, wenn man zusätzlich noch Macht und Ruhm hat.
Sie sind arm aufgewachsen. Heute gehören Sie zu den reichsten Personen der Schweiz. Wie schafften Sie es, anständig zu bleiben?
MLD Für mich war das kein Problem, ebenso wenig für meinen verstorbenen Mann Robert Louis-Dreyfus. Er wurde in eine sehr reiche Familie hineingeboren, und dennoch wurden ihm die richtigen Werte vermittelt. Sie basierten auf dem Geben. Er erhielt sie durch seine Erziehung. Seine Eltern brachten ihm bei, zu teilen, zu geben und sich um andere Menschen zu kümmern.
Ihre Kinder wachsen in grossem Reichtum auf. Wie erziehen Sie sie?
MLD Kinder haben immer grosse Wünsche, aber ich und ihr Vater erfüllen längst nicht alle. Wir versuchen in vielen Gesprächen zu erklären, dass man nicht alles haben und bekommen kann. Und wir sprechen mit den Kindern darüber, dass sie sich nicht nur um ihren Hund kümmern müssen, sondern auch um die Grossmutter oder ihre Geschwister.
Wie beeinflusst Vermögen eine Familie?
MLD Negativ. Es macht es für die Eltern viel schwieriger, die Kinder normal zu erziehen. Und es ist auch für die Kinder selbst schwieriger, denn die Erwartungen von aussen sind viel grösser. Hinzu kommt die Qual der Wahl, wenn du Geld hast. Du kannst Kaviar, Bananen, Käse oder Eiscreme essen. Je mehr Auswahl Kinder haben, desto schwieriger ist es für sie.
Was bedeutet Ihnen Geld?
MLD Geld gibt mir die Möglichkeit, das zu tun, woran ich persönlich und beruflich glaube. Es ermöglicht mir, eine grosse Familie zu haben. Ich habe fünf Kinder, und das ist ein grosses Privileg.
Sie haben nicht nur eine grosse Familie, sondern leiten mit der Louis Dreyfus Company auch ein Familienunternehmen, das es seit 173 Jahren gibt und mit Rohstoffen und Lebensmitteln handelt. Wie gut ist es Ihnen gelungen, ein Teil davon zu werden?
MLD Für mich war das ein schwieriger Prozess, gerade weil ich von aussen gekommen bin. Wenn Sie auf ein fremdes Kind aufpassen müssen, ist das eine ebenso grosse Verantwortung wie bei einem eigenen Kind. Die Firma gehörte Robert und wurde von seinen Grossvätern aufgebaut. Robert war der Beschützer von allem.
Er starb 2009 an Krebs. Plötzlich war er nicht mehr da. Sie mussten zur neuen Beschützerin des Unternehmens werden.
MLD Ich musste lernen, ihn zu vertreten, was schwierig war, zumal ich keine Erfahrung hatte, wie man die Übersicht über einen so grossen Konzern bekommt. Bald merkte ich, dass das Management die Moral verliert, wenn niemand die Kultur und die langfristige Strategie der Familie vertritt. Das war für mich eine schwierige Zeit.
Was brauchte es, um sich da wieder zurechtzufinden?
MLD Als Robert erkrankte, lernte ich zuerst viel über Medizin. Dann musste ich allein Entscheidungen über Leben und Tod treffen, oft auch gegen das, was die Ärzte sagten. Wir hatten viele Ärzte, und jeder meinte, es besser zu wissen. Ich habe mich letztlich auf das verlassen, was ich in vielen schlaflosen Nächten gelernt hatte.
Als Robert Louis-Dreyfus starb, kämpften Sie nicht mehr um sein Leben, sondern um sein Familienunternehmen.
MLD Plötzlich sass ich diesen Geschäftsmännern gegenüber – und jeder sagte etwas anderes. Aber diesmal konnte ich nicht einfach nachlesen, was richtig oder falsch war. Sechs Monate lang herrschte ein Chaos in meinem Kopf – zum ersten und hoffentlich letzten Mal in meinem Leben.
Wie haben Sie dieses Chaos gelöst?
MLD Dank der Hilfe einiger von Roberts Freunden und Anwälten erkannte ich, dass die Familie, die Kinder und Roberts Vision für unsere Kinder in Gefahr waren. Das hat meinen Fokus geschärft. Da wusste ich wieder, was zu tun war.
Sie wollten die Kontrolle über das Unternehmen in der Familie behalten. Sie haben bei der Bank einen hohen Kredit aufgenommen, um die Aktien zurückzukaufen. Heute ist das Unternehmen erfolgreich. Warum ist Ihnen das gelungen?
MLD Zum einen war es sicher Glück. Es hätte auch anders ausgehen können. Mithilfe von Roberts Freunden habe ich für sein Vermächtnis gekämpft. Es ging darum, das Unternehmen in der Familie zu halten. Dafür bin ich grosse Risiken eingegangen, aber immer mit kühlem Kopf. Es gab einige verlockende Angebote, Roberts Erbe zu verkaufen, aber das kam nicht infrage.
Sie wären reich geworden, ohne viel tun.
MLD Ich hatte nie den Traum, reich zu werden. Ich kann genauso gut in einer kleinen Wohnung wie in einem grossen Haus leben. Das sind keine leeren Worte. Ich weiss, wie man mit wenig auskommt.
45 Prozent der Anteile der Louis Dreyfus Company gehören heute dem Staatsfonds von Abu Dhabi. Erstmals hat das Unternehmen einen ausländischen Anteilseigner. Wie hat das den Familienkonzern verändert?
MLD Überhaupt nicht. Wir haben zum Glück solche Partner gefunden. Sie respektieren die Traditionen, auch wenn es andere sind. Sie respektieren die Familie, sie respektieren unser Know-how, sie vertrauen uns. Das ist besser, als wenn man das Unternehmen an der Börse hat.
Das heisst, Sie schliessen einen Börsengang partout aus?
MLD Nein, für mich sind grundsätzlich alle Möglichkeiten offen, wenn sie Sinn machen. Robert war businessorientiert. Ich bin pragmatisch. Das heisst, dass ich keine Gefängnisse im Kopf habe. Ich will das Beste für das Unternehmen. Im Moment ist es besser, nicht an der Börse zu sein. Als Robert starb, wollten viele sofort an die Börse, weil sie persönlich davon profitiert hätten. Robert hatte mir gesagt, dass ich das nicht tun soll. Das Beste für das Unternehmen war etwas anderes als das Beste für einige Manager. Alle redeten auf mich ein, aber ich hatte Roberts Worte im Kopf. Und ich hatte natürlich Angst, Fehler zu machen. Ich hatte in meinem Leben selten Angst. Aber damals hatte ich richtig Angst.
55 Prozent der Aktien liegen in einer Familienstiftung. Sie sollen eines Tages an Ihre drei Söhne übergehen, nicht aber an Ihre Töchter. Warum?
MLD Das hat nichts mit dem Geschlecht der Kinder zu tun. Das Unternehmen wurde von der Familie Louis-Dreyfus gegründet. Es war Roberts Wunsch, dass seine drei Söhne seine Visionen für die Firma weitertragen. Von meinen fünf Kindern sind drei Louis-Dreyfus und zwei Hildebrand. Die Kinder von Philipp Hildebrand sind zufällig Mädchen. Das Unternehmen gehört den Söhnen von Robert. Genauer gesagt: Es gehört der Stiftung, welche die Söhne von Robert als moralische Hüter schützen.
Wie vermitteln Sie Ihren Kindern, dass es auch darum geht, den Familienkonzern in die nächste Generation zu führen?
MLD Robert hat es ihnen schon zu Lebzeiten beigebracht. Mir ging es immer darum, den Kindern zu helfen, stark zu sein, und ihnen Verantwortung zu übertragen. Gleichzeitig haben wir den Kindern gesagt, dass sie ihren beruflichen Weg frei wählen können. Für Robert war es nicht immer einfach, dass von ihm schon als Kind erwartet wurde, er würde automatisch die Firma führen. Das hat ihn belastet, ihm aber auch Orientierung gegeben.
Sie interessieren sich für Archäologie. Was geben Ihnen alte Steine und Funde?
MLD Mich interessiert die Evolution des Lebens. Ich möchte wissen, woher wir kommen und warum wir so sind. Weise Menschen haben gesagt, wenn wir nicht zurückschauen, können wir nicht nach vorne sehen. Darum geht es mir. Ich will aus den Fehlern meiner Vorfahren lernen und besser werden.
MARGARITA LOUIS-DREYFUS , Jahrgang 1962, wuchs in der Sowjetunion auf. Sie kam 1985 in die Schweiz, heiratete den damaligen Adidas-Chef Robert Louis-Dreyfus, mit dem sie drei Söhne hat. Seit dessen Tod 2009 leitet sie die Louis Dreyfus Company. Sie hat Zwillingstöchter mit dem ehemaligen SNB-Präsidenten Philipp Hildebrand.
Reporter Peter Hossli im Gespräch mit Margarita Louis-Dreyfus.