Livia Leu bei Eingang der Schweizer Botschaft in Berlin.
“Ich bin sicher nie als Bittstellerin aufgetreten”
Diplomatie lernte sie schon im elterlichen Hotel. Livia Leu gilt als eine der profiliertesten Botschafterinnen der Schweiz. In Teheran vermittelte sie zwischen den Mullahs und den USA, in Brüssel zwischen Bundesrat und der EU. Ihr letzter Posten ist in Berlin.
Livia Leu bei Eingang der Schweizer Botschaft in Berlin.
Botschafterin Leu, was ist schwieriger: einen Krieg zu beenden oder ihn zu verhindern?
LIVIA LEU Vermutlich einen Krieg zu beenden. Aber einen zu verhindern, ist auch schwierig, weil man nie weiss, wie weit die Akteure wirklich gehen werden.
Was machen Sie als Diplomatin lieber – Kriege verhindern oder beenden?
LL Logisch: verhindern. Können muss man beides. Das Ziel der Diplomatie ist, Situationen zu entspannen, Menschen in einen Dialog zu bringen und Konfrontationen zu vermeiden.
Wie beendet man einen Krieg?
LL Dafür gibt es kein Rezept. Diplomatie kann den Dialog fördern. Zu Beginn ist es aber selten möglich, die Parteien gemeinsam an einen Tisch zu bringen. Anfangen kann man etwa mit sogenannter Shuttle-Diplomatie.
Sie sprechen mit beiden Parteien einzeln?
LL Ja, mit dem Ziel, die Konfliktparteien eines Tages miteinander am selben Tisch zu haben. Oder man beruft Konferenzen ein, wie wir es jetzt im Ukraine-Konflikt tun.
Aber Reden allein bringt keine Ergebnisse.
LL Diplomatie kann politischen Willen nicht ersetzen. Um einen Krieg zu beenden, braucht es die Politik.
Sie sagten kürzlich, dass Sie gern dorthin gehen, wo es schwierig ist. Weshalb?
LL Wo es schwierig ist, ist die Diplomatie besonders gefragt.
Dann sind Sie keine Cüpli-Diplomatin?
LL Wenn es die Cüpli-Diplomatie überhaupt jemals gegeben hat, war das vor meiner Zeit.
Wer sich gern in schwierige Situationen begibt, wird oft als masochistisch bezeichnet.
LL Ich bin sicher keine Masochistin, aber ich stelle mich gern Herausforderungen. Es ist befriedigend, schwierige Aufgaben zu meistern.
Was haben Sie davon?
LL Wer Diplomatin wird, hat den Wunsch, im Interesse seines Landes zu einem besseren Einvernehmen auf der Welt beizutragen. Es geht nicht nur darum, Konflikte zu lösen, sondern generell Beziehungen zu fördern, auch im wirtschaftlichen Bereich.
Nun sind Sie auf Ihrem letzten diplomatischen Posten in Berlin. Abgesehen davon, dass es im Winter früh dunkel wird, gibt es in der deutschen Hauptstadt kaum Probleme.
LL Tatsächlich sind die Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland ausgezeichnet. Deutschland ist unser wichtigstes Partnerland, und zwar in allen Bereichen: wirtschaftlich, wissenschaftlich, kulturell, sprachlich. Und natürlich menschlich. 100 000 Schweizerinnen und Schweizer leben in Deutschland, 300 000 Deutsche in der Schweiz, dazu kommen 65 000 Grenzgänger.
Eben, Sie müssen keine Probleme lösen.
LL Bei dieser Breite und Tiefe der Beziehungen gibt es immer Gesprächsbedarf. Innerhalb der europäischen Wertegemeinschaft hat sich das seit dem Krieg gegen die Ukraine verstärkt.
Deutschland versteht nicht, dass es in der Schweiz gekaufte Panzer und Munition nicht an die Ukraine weitergeben darf. Besteht Ihre Hauptaufgabe darin, den Deutschen die Neutralität zu erklären?
LL Nein, meine Hauptaufgabe ist es, diese umfassenden und intensiven Beziehungen zu pflegen und zu fördern. Dazu gehört, die Besonderheiten der Schweiz – einschliesslich der Neutralität – immer wieder zu erklären. Bundeskanzler Olaf Scholz hat nach dem Einmarsch der Russen in der Ukraine die Zeitenwende ausgerufen. Dass wir keine Waffen an die Ukraine liefern, verstehen nicht alle.
Die Welt verändert sich, nur die Schweiz nicht. Dafür ernten Sie Kritik?
LL Die Schweiz hat letztes Jahr der Lieferung von 25 Leopard-2-Panzern an Deutschland zugestimmt. Das war eine beispielhafte Zusammenarbeit zwischen Parlament und Bundesrat. Man hat gesehen, dass die Schweiz nach Wegen sucht, unter Wahrung der Neutralität ihren Beitrag zu leisten.
In der Schweizer Botschaft steht der älteste Lift Berlins. Wie oft sind Sie schon darin stecken geblieben?
LL Noch nie. Ich benutze ihn nur, wenn ich etwas transportieren muss. Ich steige lieber die Treppen hoch.
In Berlin verhandeln Sie erstmals in Ihrer Muttersprache. Wie ist das für Sie?
LL Toll. Und es macht es leichter, Aussagen präzise zu treffen. Wobei das Vokabular nicht genau gleich ist. Gewisse Schweizer Redewendungen amüsieren die Deutschen.
Journalismus und Diplomatie sind verschieden, benutzen aber das gleiche Werkzeug.
LL Ja, neben dem Netzwerk ist die Sprache mein wichtigstes Werkzeug. Aber bevor ich sie einsetze, brauche ich Inhalte. Ich muss wissen, wofür ich die Sprache brauche. Diplomatie wird oft missverstanden.
Gut, erklären Sie: Was ist Diplomatie?
LL Interessenvertretung. Als Diplomatin muss ich zuerst wissen, welches die Interessen der Schweiz sind, die materiellen wie die immateriellen.
Müssen Sie eine Patriotin sein, um die Interessen der Schweiz zu vertreten?
LL Man muss mit der Schweiz verbunden sein. Man muss das Land und sein System verstehen und mögen. Sonst wird es schwierig.
Das Wort «Patriotin» mögen Sie nicht?
LL Es ist keine Voraussetzung, um Diplomatin zu sein. Aber man muss eine klare Bindung und Beziehung zu seinem Land haben.
Die Schweizer Diplomatie ist stolz auf ihre guten Dienste. Steht das nicht im Widerspruch zur Interessenvertretung? Die Schweiz bietet etwas an – und vergisst, sich um sich selbst zu kümmern?
LL Das ist überhaupt kein Widerspruch. Eines unserer Ziele ist, Konflikte zu lösen oder zu verhindern, damit Frieden und Rechtssicherheit in der Welt herrschen. Das ist im Interesse der Schweiz.
Die landläufige Übersetzung von «diplomatisch» ist «nichts sagend». Erreicht man in der Diplomatie mehr, wenn man nichts sagt?
LL Es ist ein Klischee, dass ein Diplomat jemand sei, der viel rede, aber nichts sage …
… das habe ich aber schon mehrmals erlebt.
LL Das ist in der Diplomatie kein zukunftsträchtiges Modell. Und ich habe es noch nie praktiziert. Diplomatie heisst Position beziehen, aber auf eine etwas andere Art als in der Politik. Politiker reden schärfer und grenzen sich stärker ab. Diplomaten versuchen eher, den Dialog zu fördern.
Es gibt Momente, da legen mächtige Staaten den Colt auf den Tisch. Was tut die Schweiz?
LL Dieses Mittel steht uns definitiv nicht zur Verfügung. Aber vielleicht haben wir gerade deshalb einen guten Ruf für Vermittlung und gute Dienste.
Der damalige Uno-Botschafter in New York, Peter Maurer, sagte mir 2012, die Schweiz müsse auch mal die Hellebarde auf den Tisch legen. Tun wir das zu selten?
LL Wir sind weder eine Grossmacht noch eine Militärmacht. Wir bringen das ein, was wir haben. Wir sind ein wirtschaftlich wichtiges Land, auch deshalb ist es für andere Länder interessant, mit uns Beziehungen zu haben.
Bei den Verhandlungen mit der EU hat man den Eindruck, die Schweiz sei Bittstellerin. Sind unsere Diplomaten zu wenig forsch?
LL Wir sind in Brüssel keine Bittsteller, ich bin sicher nie als Bittstellerin aufgetreten. Natürlich ist die EU wichtig für uns. Umgekehrt sind wir auch wichtig für die EU. So profitiert auch die EU von der Personenfreizügigkeit. Es leben mehr EU-Bürger in der Schweiz als umgekehrt, das muss man immer wieder klar sagen.
Schweizer Diplomaten gelten als zu nett.
LL Das stimmt nicht. Wir haben den Ruf, gut und hartnäckig zu verhandeln und für die Schweiz viel herauszuholen. Die EU findet, wir hätten die bilateralen Verträge I und II zu gut verhandelt.
Gegenüber der NZZ kritisierten Sie als Staatssekretärin die EU – und sprachen undiplomatisch von «Druckpolitik». Wenn es sein muss, können Sie also böse sein?
LL Wenn Sie das eine Hellebarde nennen, dann ja. Man muss die Dinge beim Namen nennen können. Ich habe nichts gesagt, das noch niemand gewusst hat, sondern darauf hingewiesen, dass das Wissenschaftsprogramm Horizon nichts mit dem Zugang zum Binnenmarkt zu tun hat.
Sind Sie schon einmal vom Verhandlungstisch aufgestanden und weggelaufen?
LL Nein, aber manchmal habe ich schon gesagt: Jetzt müssen wir unterbrechen. Geht es nicht weiter, lege ich eine Pause ein. Das ist ein Unterbruch, kein Abbruch. 2021 musste ich der EU die Nachricht überbringen, dass der Bundesrat die Verhandlungen beendet.
Der Bundesrat brach damals die Verhandlungen über das Rahmenabkommen ab.
LL Als Chefunterhändlerin brachte ich den Brief des Bundesrats nach Brüssel. Wie Sie wissen, ist das bei der EU nicht so gut angekommen.
Die Mythologie sagt: Überbringer schlechter Nachrichten werden erschossen.
LL Es war sicher nicht meine angenehmste Reise. Aber das ist Teil der Diplomatie. Sie ist nicht nur nett, manchmal ist sie hart. Der Entscheid kam nicht völlig überraschend. Trotzdem war es wichtig, dass ich nach Brüssel ging und den Brief persönlich überreichte. Ein paar Monate später stellte ich dort den neuen Paketansatz vor.
Ihr Nachfolger im Staatssekretariat hat die Verhandlungen mit der EU wieder aufgenommen. Sie sind nicht mehr oberste Diplomatin des Landes, sondern eine normale Botschafterin in Berlin. Ist das ein Abstieg?
LL Rein hierarchisch betrachtet kann man das so sehen. Für mich stimmt es perfekt. Ich fand die drei Jahre als Staatssekretärin und Chefunterhändlerin sehr spannend. Im Staatssekretariat läuft alles zusammen. Es ist aber auch stressig und anstrengend. Ich wollte meine Karriere auf einem klassischen diplomatischen Posten beenden. Hier kommt mir zugute, was ich vorher gemacht habe. Man hat Gesprächspartner, die gut informiert sind, da muss man mit Vorwissen kommen. Deutschland ist sehr engagiert in der EU.
Immerhin sind Sie weg von Bern. Wenn ich mit Diplomaten rede, sagen die: Jeder Posten sei recht, solange es nicht Bern ist. Warum meiden die Diplomaten die Zentrale?
LL Sie sind heute lieber in Bern als früher. Dort werden die Entscheide gefällt. Für den Partner kann es einfacher sein, den eigenen Beruf in der Schweiz auszuüben. Aber wenn man in die Diplomatie geht, will man natürlich nicht primär in Bern leben, da zieht es einen in die weite Welt hinaus.
Sie haben den Verein der Schweizer Diplomatinnen gegründet. Wozu war das nötig?
LL Frauen hatten es im EDA nicht immer leicht. Früher mussten sie den diplomatischen Dienst verlassen, sobald sie heirateten. Eine verheiratete Frau galt als nicht mehr unabhängig. Das Schweizer Eherecht sah zwischen Ehepartnern unterschiedliche Rechte vor. Das ist vorbei, aber es gibt immer noch weniger Frauen als Männer in hohen Kaderpositionen, deutlich weniger Frauen als Männer, die eine Botschaft leiten. Der Verband der Diplomatinnen hat einiges erreicht, um Familie und Beruf zu vereinbaren.
Frauen reden anders als Männer. Sind sie anders diplomatisch als Diplomaten?
LL Vielleicht sind wir bessere Zuhörerinnen, in der Diplomatie wie im Leben. Das hilft. Will man vermitteln, muss man gut zuhören und verstehen. Nicht alles liegt offen auf dem Tisch. Herauszufinden, wo es klemmt, ist die Kunst der Diplomatie: wo es schwierig ist, und wo es Flexibilität gibt.
Frauen können das tendenziell besser?
LL Man kann es nicht pauschal sagen, es gibt viele gute Männer im diplomatischen Dienst. Aber ich glaube, dass Frauen besser zuhören können. Natürlich, man muss auch mal etwas Unangenehmes sagen. Das können Männer vielleicht besser.
Die Schweizer Diplomatie war einst von lauten Typen geprägt, auch hier in Berlin.
LL Man trifft heute weniger «laute Leute» an, wie Sie es nennen. Durch die Einführung des diplomatischen Concours wurde die Aufnahme demokratisiert. Jeder kann sich bewerben, der ein Studium gemacht hat. Sozialkompetenz ist wichtig. Deshalb wurden die sogenannt «Lauten» seltener.
Wie diplomatisch sind Sie privat?
LL Ich bin auch privat diplomatisch. Ich sage auch privat meine Meinung, ohne zu poltern.
Ihre Eltern waren Hoteliers. Was haben Sie im Hotel aufgenommen, das Ihnen in der Diplomatie nützlich sein kann?
LL Ganz klar die Gastfreundschaft. Sie ist wichtig in der Diplomatie, und das habe ich von klein auf gelernt. Das Hotel hat meine Neugierde geweckt. Es kamen Leute aus aller Welt.
Sie sind in Arosa aufgewachsen, bevor Sie in Zürich Jura studierten. Wie haben die Alpen Sie geprägt?
LL Die Alpen sind für mich ein wichtiger Bezugspunkt. Das merke ich gerade hier in Berlin, wo es so flach ist. Die Berge sind für mich ein Ort, an dem ich Kraft schöpfe.
Ihre Kinder begleiteten Sie jahrelang an verschiedene Orte. Haben Ihre beiden Söhne so etwas wie eine Heimat?
LL Die Schweiz ist ihre Basis. Ich habe längere Zeit Posten in Bern gehabt. Zwischen Kairo und Teheran haben wir fast fünf Jahre in der Schweiz verbracht. Als ich beim Seco war, waren es noch einmal mehrere Jahre.
Ihre Kinder lebten in Bern, Kairo, Teheran und Paris. Wie ging das mit den Schulen?
LL Im Ausland gingen sie in die deutsche Schule, in der Schweiz in die Schweizer Schule. Für uns war immer klar: Wenn wir in der Schweiz sind, müssen die Kinder in die öffentliche Schule. Sie hat ein gutes Niveau, und sie schafft soziale Verbundenheit.
Viele Diplomaten-Ehefrauen müssen auf ihren Beruf verzichten. Ihr Mann ist Ameisenforscher. Und Ameisen gibt es überall.
LL Das stimmt, aber es ist trotzdem nicht einfach. Er hat seine Karriere zugunsten meiner zurückgenommen. Gut möglich, dass er ohne mich in den USA Professor geworden wäre, wo er früher gearbeitet hat. Eine der grossen Herausforderungen in der Diplomatie ist, dem Partner oder der Partnerin eine Karriere zu ermöglich.
Ihr Mann hat für Sie verzichtet?
LL Ja, aber er hat trotzdem eine erfolgreiche, interessante Laufbahn gemacht. Nicht in einer Institution, sondern selbstständig. Das erfordert mehr Fantasie und Eigeninitiative.
Wenn der Mann einer Diplomatin auf eine Karriere verzichtet, wird das betont. Bei Frauen ist das die Regel.
LL Das ist nicht mehr so. Die Frauen junger Kollegen gehen nicht mehr nur mit ins Ausland und unterstützen ihren Mann, sie wollen selber arbeiten, sie wollen Perspektiven.
Bundesrätin Micheline Calmy-Rey sandte Sie 2008 in den Iran, wo Frauen sich verhüllen müssen. Warum sagten Sie zu?
LL Am Anfang meiner Karriere stand die multilaterale Arbeit, zuerst in Bern, dann in New York. In Kairo habe ich begonnen, mich mit dem Nahen Osten zu beschäftigen. Als Leiterin der Abteilung Naher Osten beschäftigte ich mich anschliessend intensiv mit dem Iran. Wir haben in Genf Gespräche über das iranische Nuklearprogramm organisiert. Als die Anfrage kam, besprach ich mit meinem Mann, ob das für uns als Familie passt. Wir haben nicht lange gezögert. Es ist einer der interessantesten Posten, den man als Schweizer Diplomatin haben kann.
Man sagt Ihnen nach, Sie seien ein politischer Mensch und gern dort, wo es passiert.
LL In Teheran ist es für Schweizer Diplomaten wahnsinnig spannend. Als Vertreterin der Interessen der USA haben wir eine spezielle Position.
Bundesrätin Calmy-Rey soll mit Ihnen einen «bewussten Coup» versucht haben. Was haben Sie als Frau tatsächlich erreicht?
LL In der Schweiz wurde meine Ernennung teilweise kritisiert, weil ich öffentlich ein Kopftuch tragen musste. Aber viele iranische Frauen haben mir gesagt, wie wichtig es für sie sei, dass ein Land wie die Schweiz eine Frau entsendet. Weil es zeige, dass eine Frau ein solches Amt ausüben könne.
Ihre Söhne waren damals neun und sechs Jahre alt. War der Moloch Teheran da nicht zu viel?
LL Der jüngere war noch klein, den grösseren haben wir in den Entscheid einbezogen, er war in der vierten Klasse. Versetzungen haben wir stets mit ihnen besprochen. Sie finden es bis heute toll, diese Erfahrungen zu haben. Beide sprechen noch immer Farsi.
Die Schweizer Botschaft im Iran hat ein Schutzmachtmandat der USA. Wollen die Amerikaner mit den Iranern reden, tun sie das über die Schweiz. Dieser Kanal blieb seit 1979 vertraulich. Wie ist das möglich?
LL Wer bei uns arbeitet, weiss: Vertraulichkeit ist das A und O des Schutzmachtdossiers. Wir stellen einen Kanal sicher, der den minimalen Austausch zwischen zwei Ländern ermöglicht, die ihre Beziehungen abgebrochen haben. Diskretion ist Pflicht.
Ob Diplomaten, Journalisten oder Politiker – wir sind eine Gruppe von Klatschtanten.
LL Klatsch geht in Teheran einfach nicht. Man darf nicht aus dem Nähkästchen plaudern.
Kann ein Leak Gespräche voranbringen?
LL Indiskretionen sind heikel. Ich würde nicht mit Leaks arbeiten. Aber ich weiss, dass es getan wird.
Als Journalist habe ich nichts gegen Leaks.
LL Es gibt ein gewisses Spannungsfeld zwischen Vertraulichkeit und dem Informationsbedürfnis der Presse …
… nicht der Presse, der Öffentlichkeit.
LL Ja, das verstehen wir auch. Aber wenn wir ein anderes Land vertreten, hat die Öffentlichkeit nicht denselben Anspruch auf Information, wie wenn es ums eigene Land geht. Da gilt absolute Vertraulichkeit.
Vor dem iranischen Angriff auf Israel im vergangenen April wurde in den USA bekannt, dass die Iraner die USA über den Schweizer Kanal gewarnt hatten. Amerikaner müssen nicht vertraulich sein?
LL Die Amerikaner, die uns als Schutzmacht eingesetzt haben, können selbstverständlich entscheiden, was sie über einen vertraulichen Kanal einspeisen und was sie öffentlich machen wollen. Es sind ihre Informationen. Wir kommentieren das nicht.
Als Sie in Brüssel mit der EU verhandelten, dachten Sie da: wie einfach war Teheran?
LL Beim EU-Dossier sind in der Schweiz alle Augen auf die Unterhändler gerichtet. In Brüssel musste ich für die Schweiz das Maximum herausholen. Dabei gibt es viele unterschiedliche Interessen und eine starke innenpolitische Aufmerksamkeit. Da kann man es nicht allen recht machen. Das Schutzmachtmandat im Iran wahrzunehmen, ist auch heikel. Man agiert auf der Weltbühne, aber auf diskrete Art. Wir vertreten die USA und erfüllen einen Auftrag, der aus Washington kommt.
Sie sind als Staatssekretärin zehnmal für Verhandlungen nach Brüssel gereist. Haben Sie in der belgischen Hauptstadt je etwas getan, das Ihnen Freude bereitet hat?
LL Es waren keine Vergnügungsreisen, sondern Arbeitsbesuche, die ziemlich anstrengend gewesen sind.
Schlechtes Wetter, zum Essen Moules-frites. Und belgische Schokolade wird überschätzt.
LL Die Schokolade ist gar nicht so schlecht, das muss man ehrlich sagen.
EU-Politiker erzählen mir, mit der Schweiz könne man nicht verhandeln. Denn nicht die Worte der Politik und der Diplomatie würden gelten, sondern das Volk habe über eine Abstimmung das letzte Wort.
LL Das zwingt Politik und Diplomatie, nahe beim Volk zu sein. In Brüssel kann die Kommission übrigens auch nicht allein entscheiden. Sie muss alle Mitgliedstaaten an Bord haben.
Wie gross war Ihr Dilemma? Als Schweizer Interessenvertreterin mussten Sie die direkte Demokratie verteidigen, als Diplomatin eine verlässliche Verhandlerin sein.
LL Das ist kein Gegensatz. Hingegen musste ich unser System erklären. Ich habe mit den Sondierungen in Brüssel den Weg für die laufenden Verhandlungen geebnet. Die Besonderheiten der Schweizer Institutionen sollen so auch in Zukunft respektiert werden.
Warum haben Sie das Staatssekretariat 2023 verlassen? In Bern hiess es, Bundesrat Ignazio Cassis habe Sie fallen gelassen.
LL Das stimmt nicht. Es war mein Wunsch, nach Berlin zu gehen. Nach drei Jahren als Staatssekretärin war der Moment günstig. Berlin musste neu besetzt werden, und die Sondierungen für die neuen Verhandlungen waren abgeschlossen. Wäre ich geblieben, wäre ich auch noch für die Verhandlungen verantwortlich gewesen.
Und das wollten Sie nicht mehr?
LL Ich fand, dass ich mit der Sondierung des Verhandlungspakets meinen Teil beigetragen habe – und gab das Amt gern weiter.