“Es gab noch nie eine schlechte Zeit, ein Künstler zu sein”
Den kanadischen Rockstar Bryan Adams und den Schweizer Filmregisseur Marc Forster verbindet eine lange Freundschaft. Beim Treffen in Vancouver ging es um Hollywoods schwindende Macht, die Wahrheit in der Kunst – und vegane Turnschuhe. Adams fotografierte sich und seinen Freund.
Marc Forster, Jahrgang 1969, wuchs in Davos GR auf und besuchte in New York die Filmschule. Er drehte mit Halle Berry («Monster’s Ball»), Daniel Craig («Quantum of Solace»), Johnny Depp («Finding Neverland») und Tom Hanks («A Man Called Otto»).
Bryan Adams, Jahrgang 1959, wuchs in Lissabon, Wien und Tel Aviv auf. Mit zwölf erhielt der Kanadier seine erste Gitarre. Mit Hits wie «Summer of ’69» und «(Everything I Do) I Do It for You» gehört er zu den grossen Rockstars. Zudem ist er Fotograf.
Ich nehme das Gespräch mit dem iPhone auf, einverstanden?
Bryan Adams Es geht ja nicht anders. Nur so bekommst du die Zitate wahrhaftig hin.
Sucht man als Künstler Momente der Wahrhaftigkeit?
BA Ich möchte einfach nur eine gute Tasse Tee trinken.
Marc Forster Dann giessen wir dir zuerst etwas Tee ein.
Ihr wollt doch beide mehr als guten Tee – Musik und Film haben oft den Anspruch, Wahrhaftiges zu vermitteln. Wie findet ihr das?
MF Du musst dir selbst treu bleiben. Das Wort «Wahrheit» ist ja tückisch für einen Regisseur, der mit Bildern die Gefühle der Menschen manipulieren soll.
Wie kannst du beim Manipulieren wahrhaftig sein?
MF Du brauchst Schauspieler, die etwas Wahres darstellen. Letztlich muss ich bei meiner Arbeit immer von meinem Standpunkt ausgehen. Wie ist das für dich, Bryan, wenn du einen Song schreibst?
BA Als Songschreiber bist du gut, wenn du über deine eigene Wahrheit reden kannst. Wenn du deine Ideen in Geschichten packst, die andere berühren.
In deinem neusten Studioalbum «These Are the Moments That Make Up My Life» singst du darüber, wie du morgens aufwachst und deinen Kindern das Frühstück machst.
BA Solche einfachen Sachen hallen in mir nach. Berührt mich eine Geschichte, wird sie andere ebenfalls berühren. Für mich ist das Wahrheit. Allerdings: Songs haben eine andere Bedeutung, wenn ich sie Jahre später wieder höre.
MF Ich habe noch nie einen meiner alten Filme wieder angeschaut. Das letzte Mal sehe ich ihn jeweils bei der Premiere.
Aus Angst, dass der Film den Lauf der Zeit nicht überstanden hat?
MF Angst habe ich keine. Aber einen Film zu drehen, verlangt viel von dir ab, das ist ein quälender Prozess. Am Ende sehe ich nur noch Sachen, die nicht aufgegangen sind, die ich anders oder besser hätte machen können. Bei einem Song ist es vermutlich einfacher, den kannst du ja noch ändern.
BA Ist ein Song einmal draussen, ist er für mich weg. Ich bin meistens ziemlich zufrieden, wenn ich meine alten Sachen Jahre später wieder höre.
Welcher Song, welche Filmszene von euch ist wirklich wahrhaftig?
BA Ich bin immer noch auf der Suche danach.
MF Im Lauf meiner Karriere habe ich mit grossartigen Schauspielern gedreht, bei meinem letzten Film, «A Man Called Otto», etwa mit Tom Hanks. Jeden Morgen kam er um acht am Set an. Er zog sich um und sass den ganzen Tag einfach da und meditierte. Als ich fragte, «Tom, bist du bereit?», verwandelten sich seine Augen – und er wurde sofort zu Otto. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich es erzähle.
Weil Tom Hanks dir etwas Wahres geschenkt hat?
MF Grosse britische Schauspieler sind technisch sehr gut. Grosse amerikanische Schauspieler sind sehr gut durch ihre Methode.
Und dann ist da noch Tom Hanks.
MF Ich habe noch nie einen Schauspieler gesehen, der sich buchstäblich vor meinen Augen verwandelt. Wir drehen eine, zwei, vielleicht drei Einstellungen, und die Szene ist fertig. Schaue ich Tom bei der Arbeit zu, habe ich das Gefühl: Das ist wahrhaftig!
BA Es gibt in der Tonleiter zwölf Töne, und trotzdem sind unendlich viele Kombinationen möglich, um etwas Berührendes und Originelles zu schaffen. Einen Song zu schreiben, ist wie ein Puzzle zusammenzusetzen.
Bild: Peter Hossli
Und wann wird ein Song wahr?
BA Das analysiere ich nicht. Manchmal habe ich Glück, das nächste Mal nicht. Um mehr geht es gar nicht.
Etwas hat eure Kunst gemeinsam. Sie ist nie zynisch …
BA … ich arbeite daran, das zu ändern (lacht ironisch).
Marcs Lebenspartnerin hat gerade zu mir gesagt: «Ich mag die beiden, weil sie noch immer kleine Jungs sind.» Ihr seid humorvoll und verspielt. Wie haltet ihr den Zynismus von euch fern?
BA Zuerst einmal bin ich dankbar, das tun zu dürfen, was ich tue. Und ich vergesse meine Wurzeln nicht. Meine Mutter hatte drei Jobs, unser Kühlschrank war oft leer. Ich glaube nicht, dass man da noch zynisch werden kann.
MF Unsere Zeit ist kurz. Und sie vergeht schnell. Sie beschleunigt sich, je älter man wird, da immer weniger Jahre übrig bleiben. Mir ist der Tod früh begegnet. Enge Freunde starben, mein Vater. Mein Bruder hat sich das Leben genommen.
Wer früh solche Verluste erlebt, wird nicht zynisch?
MF Mein Vater hat alles verloren. Wir hatten alles, und dann hatten wir rasch nichts mehr. Heute bin ich dankbar für die Gabe, Geschichten erzählen zu können. Sicher, die Filmbranche kann anstrengend sein – der Umgang mit so vielen Menschen. Manchmal will ich etwas Einsames tun, malen oder schreiben. Letztendlich kann ich aber mit Filmen etwas erzählen, das die Menschen bewegt. Sagt mir jemand, einer meiner Filme hätte ihn oder sein Leben verändert oder beeinflusst, muss ich weitermachen.
BA Das kenne ich. Menschen identifizieren sich mit Songs, weil die sie an einen bestimmten Ort zurückbringen, zu einer Erinnerung aus ihrem Leben.
Auf diese Reaktion hat der Künstler aber keinen Einfluss?
BA Sobald ein Song oder ein Film öffentlich ist, gehört er der ganzen Welt. Er gehört nicht mehr Marc oder mir. Er beeinflusst Menschen auf eine Art, die wir Künstler nie verstehen können. Mich hat einmal ein brasilianischer Journalist gefragt, für wie viele Küsse ich verantwortlich sei. Das habe ich mir so nie überlegt. Er sagte: «Es müssen Milliarden von Küssen gewesen sein.» Was gibt es Schöneres, als ein bisschen Liebe in die Welt zu bringen?
Ihr mögt euch. Echte Freundschaften im Showgeschäft sind aber eher selten. Zumal es genau das ist: ein Geschäft mit der Show.
MF Wir haben uns kennengelernt, weil mich Bryan schon mal für ein Magazin fotografiert hat.
BA Marc ist ein vertrauensvoller Mensch – er lässt sich von mir fotografieren. Aber wenn ich ein Arschloch wäre, würde er wohl nicht mit mir herumhängen.
MF Das Gleiche gilt für Bryan. Es gibt Leute, mit denen man nach der Arbeit nie mehr zusammenkommen will. Mit Bryan ist das anders. Wenn wir uns treffen, knüpfen wir dort an, wo wir beim letzten Mal aufgehört haben. Ob es nun zwei, fünf, vier, drei Jahre oder ein Jahr her ist. Ich habe keinerlei Ansprüche an eine Freundschaft. Entweder ich mag einen Menschen, oder ich mag ihn nicht.
Was interessiert euch aneinander?
BA Ich mag seine Schuhe.
MF Es sind vegane Schweizer Schuhe der Marke GNL. Ich werde dir ein Paar schicken.
BA Deshalb mögen wir uns, weil er mir ein Paar vegane Schuhe aus der Schweiz schickt.
MF Man sollte nur Zeit mit Menschen verbringen, die einem am Herzen liegen. Denn am Ende deines Lebens zählt einzig, wen du geliebt hast.
Bild: Peter Hossli
Ihr sprecht die zwei Sprachen, die jeder auf der Welt versteht: Rock ’n’ Roll und Kino. Warum sind sie so universell?
BA Weil sie die Menschen bewegen. Ich mache Rock ’n’ Roll, weil es besser ist als Geschirr spülen. Ich musste mich entscheiden: in der Küche zu arbeiten oder Musik zu machen. Ich entschied mich für Musik – und arbeitete nebenbei in der Küche. Es gibt dazu einen Witz: Zwei Typen sitzen im Park. Einer sagt: «Wenn ich Rothschild wäre, wäre ich reicher als Rothschild. Der andere fragt: «Oh, wie kommt das?» – «Ich putze nebenbei ja noch Fenster.»
Marc, du brauchst ein Jahr, um einen Film fertigzustellen. Bist du neidisch auf Bryan, der mit einem Song in drei Minuten ein emotionales Feuerwerk erzeugen kann?
MF Wir sind in verschiedenen Kunstformen tätig. Die lange Form gefällt mir. Es ist, als ob man eine Skulptur meisseln würde. Zuerst das Drehbuch, dann der Dreh, der Schnitt, der Soundtrack: Während eines Jahres musst du dich und die Geschichte ständig weiterentwickeln. Was dich selbst verändert.
BA Schaust du dir die kurzen Clips auf Tiktok an?
MF Ja, aber ich versuche, es nicht zu tun.
BA Weil du nicht mehr davon wegkommst, richtig? Ich stehe auf Kochvideos, und ich finde es faszinierend, dort Menschen aus aller Welt zu begegnen.
MF Ich mag Tiktok ja auch, aber es ist wirklich schwer loszulassen.
BA Tiktok ist eine gigantische Ratte. Die Kürze hat aber was. Du schaust 30 Sekunden darüber, wie man einen Zitronenbaum zieht. Dann ein Stück, was in der Ukraine passiert, dann, wie Mexikaner kochen.
MF Menschen mögen diese 30-Sekunden-Filme, aber das ist etwas völlig anderes als ein richtiger Film. Ist das Kino gut, ist die Geschichte im Kino gut, kommen die Menschen. Das Kino wird weiterexistieren. Es wird eine Renaissance erleben.
BA Ich liebe es, ins Kino zu gehen. Als ich noch in New York lebte, war das eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Nur den Geruch von Popcorn mag ich nicht.
Im Kino riecht es nach Popcorn, bei Konzerten sind alle am Telefon. Wie gehst du damit um?
BA Bei einem meiner Konzerte sass eine Frau in der ersten Reihe und schrieb die ganze Zeit SMS. Ich habe ihr gesagt, wenn sie nicht mir schreibt, soll sie aufhören. Danach verliess sie den Saal. Vor 20 Jahren habe ich ein Foto von einem Konzert in Bangalore in Indien gemacht. Das Bild zeigt ein Meer von Männern, aber keine einzige Frau und kein einziges Telefon. Damals durften die Frauen noch nicht das Haus verlassen. Wenn ich jetzt in Indien auftrete, sehe ich ein Meer von Telefonen – und so viele Frauen wie Männer.
MF Wir drehten den Bond-Film «Quantum of Solace» in einer Stadt in Panama, die von vier Gangs beherrscht wurde. Produzentin Barbara Broccoli machte einen Deal mit ihnen: Damit wir in Ruhe drehen konnten, spendete sie der Stadt einen Fussball- und einen Basketballplatz.
BA Wie schön von Barbara Broccoli!
MF In der ersten Nacht hatten wir einen Nachtdreh, und ich ging mit Daniel Craig die Strasse entlang. Die ganze Stadt war unterwegs und schaute uns gebannt zu. Niemand hatte ein Telefon dabei, um uns zu fotografieren.
Bryan, warum gibst du trotz Handys immer noch Konzerte?
BA Auf der Bühne lernst du das Handwerk. Du gehst raus, singst, und das Publikum zeigt dir, obs funktioniert. Als ich anfing, konnte ich nach zwei Drinks in einer Bar sagen, ob ein Song funktionieren würde. Heutzutage lassen mich die Leute etwas länger gewähren. Ich komme noch immer ungestraft davon. Das wäre ein guter Albumtitel: «Still Getting Away With It» – «Noch immer ungestraft davonkommen.»
MF Manchmal schleiche ich mich ins Kino, um die Reaktion der Leute zu spüren. Bleibt das Publikum still sitzen, ist das ein gutes Zeichen. Rutscht es auf den Plätzen rum, fehlt die Verbindung zur Leinwand. Entsteht eine Verbindung, verändert sich der Raum.
Konflikte beleben jede Geschichte. Ihr stammt beide aus friedlichen Ländern, aus Kanada und der Schweiz. Hat es euch deshalb in die USA gezogen?
MF Ich habe mich an verschiedenen Filmschulen beworben, in London, Paris und München. Angenommen wurde ich nur in New York. Die anderen wollten mich nicht.
Das ist Frank Sinatra im Rückwärtsgang: Schaffst du es anderswo nicht, musst du halt nach New York.
MF Als ich dort war, habe ich mich in die Stadt und ihre Kunst verliebt. Und ich wollte nirgendwo anders mehr hinziehen. Bis ich merkte, wie New-Yorkzentriert das unabhängige Filmschaffen dort war. Europäern gegenüber war die Stadt nicht besonders offen, also zog ich weiter nach Los Angeles.
Ihr zwei seid Nomaden. Bryans Vater war Diplomat, er lebte in Tel Aviv, Portugal und Österreich. Marc kam in Deutschland zur Welt, wuchs in Davos auf, lebt heute in den USA. Wo ist euer Zuhause?
BA Ich wohne in Vancouver, weil ich mich um meine Mutter kümmere. Aber normalerweise reise ich herum. Mir gefällt das nomadische Leben. Nomaden sind miteinander verbunden. Sie erkennen sich, ohne es aussprechen zu müssen. Es ist wie bei Leuten, die mal auf einem LSD-Trip waren. Man erkennt sich sofort. Menschen, die überall auf der Welt Erfahrungen haben, wissen, wer sie sind.
MF Mein Zuhause ist dort, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Alles geht auf die ersten zehn Jahre des Lebens zurück. In Davos habe ich mich frei und mit der Natur verbunden gefühlt. Mich hat es als Kind gerettet, im Wald in meine Fantasiewelten flüchten zu können. Die Schweizer Berge waren für mich ein sicherer Ort. New York wurde dann zum Beginn meiner Reise. Ein sicherer Ort war es nie, ich hatte dort immer das Gefühl, nahe am Abgrund zu leben. In New York kann jederzeit alles passieren.
BA New York verändert einen. Darauf kann dich niemand vorbereiten. Es ist, wie wenn du das erste Mal nach Indien gehst.
Ich bin wie Marc in der Schweiz aufgewachsen und zog mit 28 nach New York. Es war das erste Mal, dass ich mich sicher fühlte, weil ich dort anonym sein konnte.
BA Oh, tatsächlich?
MF Für mich war es genau das Gegenteil.
Bild: Peter Hossli
BA Wollt ihr eine Banane?
MF Vielleicht ein kleineres Stück.
Für mich auch ein kleines Stück. Während wir hier Banane essen, streiken in Hollywood gerade die Schauspielerinnen und die Drehbuchautoren. Wie wirkt sich das auf die tägliche Arbeit aus?
MF Im Moment ist alles sehr ruhig. Drehen darf man, wenn man nicht für einen Streamer oder für ein Studio arbeitet. Sonst läuft nichts. Den Schauspielern ist es nicht erlaubt, Werbung für neue Filme zu machen. Deshalb verzögert sich der Start von «White Bird», meinem neusten Film.
BA Kommt auch «Napoleon» deshalb später ins Kino?
MF Das weiss ich nicht, der Trailer sieht gut aus.
BA Er sieht fantastisch aus. Ich kann kaum erwarten, den Film zu sehen. Ich wünschte, mein Vater wäre noch am Leben, um Joaquin Phoenix als Napoleon zu sehen. Hätte er gewusst, dass «Napoleon» kommt, hätte er wohl länger durchgehalten.
Beim Streik in Hollywood geht es um die Gagen für Schauspieler und Drehbuchautorinnen. Aber letztlich geht es um die Verschiebung der Macht von Hollywood ins Silicon Valley. Drehbuchautoren und Schauspieler fürchten sich vor künstlicher Intelligenz und der Macht der Streaming-Plattformen.
MF Sicher, aber diese Macht hat sich schon vor vielen Jahren verlagert. Vor allem Apple und Amazon sind stark.
BA Die Streamer lösen das Kino ab, wie bei der Musik die Streamer die CD ersetzt haben. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Musik und Film. Auf Youtube oder auf Spotify siehst du genau, wie viele Leute deinen Song gehört haben. Auf Youtube kannst du Kommentare dazu lesen. Bei den Film-Streamern gibt es diese Transparenz nicht.
MF Dabei wäre Transparenz wichtig, damit Schauspieler und Regisseure sich am Erfolg bei den Streamern beteiligen können. Bryan weiss genau, wie viele Leute sich seine Songs auf Spotify anhören. Das sollte in der Filmbranche doch auch möglich sein.
BA Ich lade euch später alle zum Tee ein.
Die Filmbranche erlebt gerade, was der Musikbranche vor 20 Jahren widerfahren ist. Durch die Programmierer im Silicon Valley wird sie komplett umgekrempelt.
BA Vielleicht haben sie die Musikindustrie nicht nur umgekrempelt, sondern gerettet. Das Internet steckte damals in den Kinderschuhen. Es war der Wilde Westen. Es ist noch immer etwas wild, aber für die Musiker wird es immer besser. Das Internet hat die Musikindustrie gerettet, weil Apple früh eingestiegen ist. Vielleicht hat das auch Apple gerettet.
Apple hat den iPod für digitale Musik entwickelt, daraus entstand das iPhone – heute der mit Abstand wichtigste Gewinntreiber dieses Unternehmens.
BA Ja, sie verkaufen die digitale Musik und behalten die Hälfte des Gelds.
Es geht aber nicht nur um Geld. Das Internet hat die Musik als Kunstform verändert. Früher habe ich ein vollständiges Bryan-Adams-Album gekauft …
BA … das glaube ich dir nicht …
… und heute sagt mir ein Algorithmus, was ich nach «Summer of ’69» hören soll. Was nicht unbedingt ein Bryan-Adams-Song ist.
BA Eines Tages werde ich aufbrechen, um diesen Mr. Algorithmus persönlich zu treffen. Wir beiden müssen unbedingt miteinander reden.
MF Der Wilde Westen ist heute die künstliche Intelligenz. Algorithmen werden in der Lage sein, Drehbuchautoren zu sagen, wie sie eine Geschichte schreiben sollen.
BA Ja, aber jemand erstellt diese Algorithmen. Das ist nicht einfach aus der Luft gegriffen. Jemand hat sie programmiert. Typen, die an Computern sitzen, haben ein Ding geschaffen, das die Welt gleichmacht. Ist das nicht der Wahnsinn? Darüber sollte man einen Film drehen.
Apple hat keinerlei Tradition im Erzählen von Geschichten. Ist es schlecht, dass diese Leute entscheiden, was heute gedreht wird?
MF Das ist überhaupt nicht schlecht. Nimm den neuen Martin-Scorsese-Film, den Apple produziert hat. Er ist drei Stunden und 40 Minuten lang. Kein traditionelles Hollywoodstudio würde diesen Film finanzieren. Apple kann sich das leisten, weil sich dort niemand um die Einnahmen beim Filmstart schert. Sie geben 200 bis 300 Millionen Dollar aus für einen Film, der wahrscheinlich seine Kosten an den Kinokassen nie einspielen würde.
BA Apple behandelt Künstler gut. So erlebe ich das.
Bild: Peter Hossli
Weshalb sind die Produzenten im Silicon Valley mutiger als die in Hollywood?
MF Studios wie Disney, Warner Brothers oder Paramount leben von der Kinokasse. Technologieunternehmen haben volle Taschen, die brauchen das nicht.
Trotzdem sind viele der neu produzierten Filme schlecht.
MF Zu viele Projekte werden nicht richtig betreut, es fehlt an Personen, die Filme entwickeln können. Die Nachfrage ist so gross, dass auch unfertige Projekte realisiert werden. Apple und Netflix können nicht alles herstellen. Deshalb sollten Regisseure ihre Filme selbst finanzieren und sie dann an die Streamer verkaufen.
So würde Silicon Valley das unabhängige Filmschaffen begünstigen?
MF Wir haben «A Man Called Otto» selbst entwickelt, das Geld dafür aufgetrieben, den Film ausserhalb des Studiosystems gedreht – und ihn dann verkauft. Wir hatten die totale kreative Kontrolle. Momentan ist es eine sehr gute Zeit, um Filmemacher zu sein.
BA Universal hat mich vor zwei Jahren fallen lassen. Damals wurden viele meiner Alben aus dem Internet entfernt. Ich habe mich an Apple gewandt, und sie haben mir geholfen, die Musik wieder online zu stellen. Seither finanziere ich alles selbst.
Es ist also eine gute Zeit, Künstler zu sein?
BA Es gab noch nie eine schlechte Zeit, ein Künstler zu sein. Ich kann gar nicht anders, als Kunst zu machen, egal, was noch kommen wird. Manchmal hat man gute Jahre und manchmal nicht.
Was aber geschieht, wenn Mr. Algorithmus die Künstler ersetzt?
BA Das wird nicht passieren. Ich glaube nicht, dass er jemals so klug sein wird, wie ich es bin. Er hat nicht das Pathos, das ein Regisseur mit seiner Geschichte entwickeln kann, die Sensibilität, die entsteht, wenn jemand einen Song singt, mit dem sich die Menschen identifizieren. Kunst, die Menschen berührt, wird von Menschen geschaffen.
MF Von künstlicher Intelligenz geschaffene Kunst kann einem Original nahekommen, aber letztlich ist sie eine Kopie, abgeleitete Kunst. Es wird immer echte Werke geben. Sie entstehen durch menschliche Erfahrungen. Aber wir setzen künstliche Intelligenz ein, um selbst besser zu werden.
BA Die künstliche Intelligenz kann mir helfen, grosse Dinge zu schaffen. Die Zukunft ist rosig.
MF Ich bin Optimist – ich glaube, dass sich die Menschheit weiter verbessert und ihr Bewusstsein nochmals erweitern wird.
BA Wir stehen wieder einmal an einer Schwelle. Was auf uns zukommt, wissen wir nicht. Es ist wie bei Galileo, der zu den Sternen blickt.
Bild: Renée Wolfe