Winter in der Ukraine: Wo vor dem Krieg vier Gebäude standen, beleuchten nun Kerzen die Stube eines in der Schweiz entworfenen Holzhauses.

Es Dach überem Chopf

Russische Soldaten haben in der ukrainischen Gemeinde Iwankiw 800 Gebäude zerstört. Martin Huber, ein Schweizer Unternehmer, hilft den Obdachlosen mit Holzhäusern. Ein Besuch bei acht Familien, die an Weihnachten trotz sibirischer Kälte wieder ein warmes Zuhause haben.

Peter Hossli (Text) Pascal Mora (Fotos) 23.12.2022

Winter in der Ukraine: Wo vor dem Krieg vier Gebäude standen, beleuchten nun Kerzen die Stube eines in der Schweiz entworfenen Holzhauses.

Ein Haus in vier Tagen

Der grossgewachsene Appenzeller steht auf dem Boden eines fast fertigen Holzhauses. Martin Huber, 66, beobachtet, wie ukrainische Handwerker die Wände montieren, Leitungen legen, und wie zuletzt ein Kran das Dach von einem Sattelschlepper auf das Haus hievt.

Es ist das 14. Gebäude, das der Unternehmer aus Herisau AR in die Region von Iwankiw liefert, in die flächenmässig grösste Gemeinde der Ukraine. Sie liegt zwischen der Hauptstadt Kiew und der belarussischen Grenze.

Just in dieser Region begann am 24. Februar 2022 der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Russische Soldaten zerstörten dabei rund 800 Häuser von Zivilisten – mit Granaten, Panzern und Raketen. Als Huber auf Fotos die Verwüstung sah, war ihm klar: «Da will ich helfen.» Zumal er mit der Ukraine verbunden ist. Seit 2005 stellt er nahe der ukrainischen Stadt Winnyzja aus Eichenholz Fensterkanthölzer her, die er in Herisau zu Fensterrahmen veredelt.

Mit einem Bündner Unternehmer entwickelte er ein Holzhaus, das ukrainische Handwerker in Savognin GR bauten. Das Haus kam im Juli zu einer ersten Familie nach Iwankiw. Seither bauen Fachleute die Häuser in Hubers ukrainischer Fabrik nach. Für das erste Haus benötigten sie vier Wochen, jetzt bauen sie es in vier Tagen. Iwankiws Gemeindepräsidentin teilt die Häuser zu. Ihre Bedingungen sind klar: Bevorzugt werden kinderreiche Familien, deren Heim im Krieg zerstört worden ist, und die allenfalls eine behinderte Person pflegen.

Für die Finanzierung gründete Huber den Verein Ukraine Hilfe. Er schrieb Freunde und Geschäftspartner an, später Stiftungen und Unternehmen. Mit geringen Verwaltungskosten – er und seine Frau Jacqueline Huber arbeiten unentgeltlich – hat er bisher über eine Million Franken gesammelt. Das Geld reicht, um 33 Familien ein neues Daheim zu geben. Nächstes Jahr will er 100 Häuser ausliefern und lässt deshalb einen Kran aus Herisau in die Ukraine bringen.

Alle Häuser sind gleich ausgestattet: ein Wohnzimmer mit Küche, ein Schlafzimmer sowie ein Bad mit WC, Dusche und Waschbecken. In der Stube stehen ein Tisch und ein Schlafsofa, im Schlafzimmer ein Kajüten-Bett mitsamt Matratzen. Elektrische Heizkörper wärmen die Räume.

Anfang November besuchte Bundespräsident Ignazio Cassis, 61, die Übergabe eines Holzhauses in Iwankiw. An einer Medienkonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, 44, erwähnte Cassis die «Schweizer Häuser» – obwohl sich die Eidgenossenschaft damals noch nicht daran beteiligt hatte. Mittlerweile hat der Bund die Finanzierung von zwei Häusern zugesagt.

Was hat Huber von den Häusern? Gutes tun tut gut, sagt er. Gelungen ist ihm, was er sich vorgenommen hat: In der Ukraine seriell Holzhäuser herzustellen, in denen Menschen selbst bei frostigen Temperaturen warm haben – und in denen sie jahrelang leben können. Und seine 45 ukrainischen Angestellten spüren einmal pro Woche echtes Glück. Wenn sie einer bedürftigen Familie, die alles verloren hat, einen Neustart ermöglichen.

Kontakt: https://www.verein-ukraine-hilfe.ch/

Martin Huber beobachtet, wie in Iwankiw ein Holzhaus zusammengebaut wird.

«Der Krieg vereint uns Ukrainer»

Es geschah am ersten Tag des Kriegs, am 24. Februar 2022. Der ukrainische Krankenpfleger Vasyl hielt sich draussen auf, als eine russische Rakete im Garten einschlug. Die Druckwelle schleuderte ihn zu Boden, die Wände seines Hauses stürzten ein. Einst hatte er es von den Grosseltern erhalten. Nun brachte er seine Frau Lidia und die drei Söhne in Sicherheit. Ein paar Stunden später schlug eine weitere Rakete ein. Das Haus brannte ab, zusammen mit dem Insulin, auf das die zuckerkranke Lidia angewiesen ist. Die Pflegerin überlebte, weil ihre Schwiegereltern eine Dosis gelagert hatten. Monatelang zieht die Familie umher, kommt bei Freunden und Verwandten unter. Bis sie Ende September das Holzhaus erhält. Lidia steht in der Küche und kocht mit Gas, seit Stunden hat sie keinen Strom. Es ist kalt, aber sie gibt sich zuversichtlich. «Der Krieg vereint uns Ukrainer», sagt sie. «Wir denken nur im Jetzt. Haben wir einen Tag überlebt, folgt die Nacht und dann der nächste Tag.»

Lidia Malashenka, Krankenpflegerin, 33, Vasyl Malashenko, Krankenpfleger, 33, Tymofii Malashenko, 5 vor ihrem neuen Haus im Dorf Fedorivka.

«Ich bin Mutter»

Morgen kehren Natalias Kinder aus Italien zurück. Vier Monate waren Slata, 9, und David, 8, im Kriegsurlaub. Bei Familien, die schon 1986 nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl Kinder aus dieser Region aufgenommen hatten. Letzten Februar fielen russische Sol- daten über Tschernobyl in die Ukraine ein. Ihre Panzer zerstörten Natalias Haus. Sie sass mit den Kindern im Keller, hörte ohrenbetäubende Explosionen. Bis auf den Kühlschrank und die Waschmaschine ging alles kaputt. «Ohne Kinder könnte ich nicht weiterleben», sagt Natalia. Und ohne Schweizer Hilfe auch nicht. Sie hat im Juli das erste Holzhaus erhalten. Ukrainische Handwerker haben es in Savognin GR gebaut und in die Ukraine transportiert. Seither hat sie es gestrichen, die Wände tapeziert, es wohnlich gemacht, Kriegstrümmer fortgebracht. Wie schafft sie das allein? «Ich bin Mutter», sagt sie. An Weihnachten tische sie zwölf Fastengerichte zu Ehren der zwölf Apostel auf. «Es soll ein schönes Fest werden, damit die Kinder den Krieg vergessen.»

Die Beamtin Natalia Kniazeva vor ihrem neuen Holzhaus im Dorf Sukachi.

«Nicht irgendwohin, sondern nach Hause»

Kater Vasily döst auf der Holzbank. Im Wohnzimmer hängen Bilder von Jesus und Maria. Natascha konnte sie aus den Trümmern ihres brennenden Hauses retten, als sie am 25. Februar heimkam. Die gelernte Köchin putzt in einer psychiatrischen Klinik. Ein russischer Helikopterpilot hatte die Häuser entlang ihrer Strasse mit Raketen beschossen. Ihre Söhne konnten die Nachbarin aus den Flammen retten. «Mama, wir haben kein Haus mehr», begrüssten sie Natascha. Möbel und Kleider waren übersät mit Schrapnell. Sie schliefen mal hier, mal da, zuletzt in der psychiatrischen Klinik. Mitte Oktober erhielten sie das Holzhaus. Es ist gemütlich eingerichtet, in der Küche steht eine kleine Kommode, mehr konnte Natascha nicht retten. «Jetzt kann ich nach der Arbeit wieder nach Hause gehen», sagt sie. «Nicht irgendwohin, sondern nach Hause. Und die Kinder haben nach der Schule wieder einen Heimweg.» Heute sind sie nicht da. Der Strom ist ausgefallen, die Handy-Antennen liefern keine Auffahrt ins Internet. Teenager sind dort, wo sie Daten haben, auch im Krieg.

Die Köchin Natascha Rybachok, 44, vor ihrem Haus im Dorf  Sukachi.

«Fischen hilft, das Kriegstrauma zu verarbeiten»

Die dreiköpfige Familie sitzt bei Kerzenlicht am Tisch. Vor Stunden schon ist der Strom ausgefallen. Unmittelbar nach Kriegsbeginn besetzten russische Soldaten ihr Dorf. Es kam zu heftigen Gefechten zwischen Ukrainern und Russen. Die Romanenkos versteckten sich 17 Tage lang im Keller, froren und hungerten, bis sie fliehen konnten. Nach der Rückkehr sind ihr Haus und drei Nachbarhäuser bis auf den Grund abge- brannt. Sie haben nur noch, was sie trugen – und ihr Leben. Den 14-jährigen Maksym schmerzt, dass seine Angelruten verbrannten, zusammen mit dem Sofa, unter dem er sie versteckt hatte. «Die Russen sind keine Menschen», sagt Vater Leonid. «Das sind Teufel, sie zerstören, was wir aufgebaut haben.» Mit der Taschenlampe führt Maksym in sein Zimmer – und zeigt die Angelruten, die ihm Dorfbewohner geschenkt haben. «Fischen hilft, das Trauma des Kriegs zu verarbeiten», sagt Mutter Tetiana. In der Stube steht eine Kinder- krippe. Im Frühling kommt ihr zweites Kind zur Welt. Es wird im neuen Haus aufwachsen.

Tetiana Romanenko, arbeitslos 30, Leonid Romanenko, Waldarbeiter 34, Maksym Romanenko, 14, in ihrem neuen Haus im Dorf Pidhaine.

«Dieses Haus ist unser neues Leben»

Yulia sitzt am Computer. Die 15-Jährige lernt zu Hause, weil die Russen ihre Schule zerstört haben. Mitte März griffen sie den Hof ihrer Familie an. Der Stall fing Feuer, eine Ziege überlebte, das Pferd starb. Da die Haustüre durch Trümmer verbarrikadiert war, floh die Familie durch die Fenster. Über ihren Köpfen zischten Gewehrkugeln. Zu fünft robbten sie über die Strasse, in die Arme ukrainischer Soldaten. «Ich dachte nur daran, meine Kinder zu retten, und nahm nichts mit», erzählt Olha. Heute seien ihre Kinder traumatisiert. Hören sie laute Geräusche, weinen sie. Am 13. Sep- tember haben sie das von Schweizern entworfene Haus erhalten. «Dieses Haus ist unser neues Leben», sagt Olha, die bei der Post arbeitet. Der Unternehmer Martin Huber sei bei der Übergabe persönlich dabei gewesen. «Wir waren nervös, als wir erfuhren, dass Herr Martin kommen würde», sagt sie. «Er ist ein wichtiger Mann und wir wussten nicht, wie wir mit so ei- nem Mann umgehen sollten. Aber als er hier war, war alles sehr einfach, weil er ein normaler Mensch ist.»

Yulia Zaritska, 15, Olha Zaritska, Postbeamtin 36, Vita Zaritska, 2, vor ihrem Haus im Dorf Kukhari.

«Wir lassen uns nicht vertreiben»

Die Verkäuferin Olena und ihre Mutter Nadia tragen warme Schuhe und dicke Jacken. Sie sitzen in der kal- ten Stube. Seit Stunden fehlt der Strom, um das Holzhaus zu heizen. Klagen wollen sie nicht. «Ich haben wieder ein Zuhause», sagt Olena, sie zog am 9. No vember ein. «Das Haus steht auf meinem Land, was mir alles bedeutet.» Vier russische Raketen hatten ihr altes Haus in der Nacht auf den 16. März getroffen und die Familie mit drei behinderten Kindern aus dem Schlaf gerissen. Druckwellen schleuderten Küche und Dach weg, alles war übersät mit Glassplittern. Die Familie zieht vorübergehend nach Lviv in die Westukraine. Nach Polen ausreisen wollen sie nicht. «Wir sind in der Ukraine geboren, das ist unsere Heimat, wir lassen uns nicht vertreiben», sagt Olena. Ihre Mutter Nadia melkte einst in den Sowjetzeiten Kühe. Heute sagt sie: «Ich hasse die Russen.» Nie hätte sie sich vorstellen können, dass sie wahllos Zivilisten angreifen. Aber: «Der Krieg macht uns stärker, mutiger und kräftiger. Wir werden nie aufgeben.»

Olena Krupka, Verkäuferin 49, Mutter Nadia Sedorenko, Melkerin 73, vor ihrem Haus im Dorf Zaruddia

«Die Russen haben die Seele aus unserem Haus gerissen»

Sergei ist Physiklehrer, seine Frau Yulia Krankenpflegerin. Sie war 16, als sie vor 28 Jahren heirateten. Ihre Eltern schenkten ihr ein Haus. Letzten Winter stand es direkt an der Front. Fünf Minuten hätten sie Zeit, um zu fliehen, bestellte ihnen ein ukrainischer Kommandant. Seine Soldaten nisteten sich im Haus ein. Russen bemerkten es – und griffen das Quartier mit Drohnen an. Ende Mai kehrt die Familie zurück und findet nur noch Trümmer vor. «Die Russen haben die Seele aus unserem Haus gerissen», sagt Sergei. Er verachte die Erbarmungslosigkeit der Russen. «Sie terrorisieren uns Ukrainer, weil wir erfolgreicher sind als sie.» Über den Sommer pflanzen sie Kartoffeln und Tomaten an für den Winter. Ende November erhalten sie das Holzhaus. Einziehen können sie noch nicht. Der Gemeinde gelingt es nicht, im abgelegenen Weiler einen Stromanschluss zu legen. Sie hoffen, in einer oder zwei Wochen im Haus leben zu können. Zumindest ab 6. Januar 2023, wenn die Ukraine Weihnachten feiert.

Krankenpflegerin Yulia Adamenko, 44, Physiklehrer Sergei Adamenko, 57,  Valentyn Adamenko, 16, vor ihrem neuen Haus im Dorf Varivsk.

«Jetzt möchte ich für mein Land kämpfen»

Viktor ist Förster. Nachdem ukrainische Soldaten ei- nen Dorfausgang freigekämpft hatten, führte er seine Familie durch den Wald in Sicherheit. Als sie zurückkehren, finden sie ihr Haus völlig zerstört vor. Die abziehenden Russen verminten die Wälder, deshalb sitzt Viktor zu Hause. Es könne noch Jahre dauern, bis die Minen geräumt seien. Vita erwartet im Februar ihr drittes Kind. Den beiden anderen Kindern gehe es nicht gut. Nachts würden sie oft aus Albträumen erwachen und wegrennen. Warum sind sie nicht ins Ausland gegangen? «Das ist mein Land, meine Heimat, im Ausland habe ich nichts», sagt Vita. «Ich will nicht allein mit drei Kindern sein.» Ihr Mann darf nicht ausreisen. Hat er Angst, in die Armee eingezogen zu werden? «Warum soll ich Angst haben? Die Russen haben mein Haus zerstört, wir haben überlebt – jetzt möchte ich für mein Land kämpfen.»

Viktor Hodun, Förster, 30, Vita Hoduna, arbeitslos, 32, Valeria Hoduna, 9, Tymur Hodun, 12, Alla Saintschukivska, 66 vor ihrem Haus im Dorf Varivsk.

«Das Haus ist ein Zeichen, dass das Leben weiter geht»

Leonid und Liubov hocken in der Stube des Holzhauses. Sie haben Sekt aufgetischt, Brot, Aufschnitt und Früchte. Eben haben sie das Schweizer Haus erhalten. Der stellvertretende Bürgermeister prostet ihnen zu. Vom Fenster aus sehen sie die Trüm- mer des Hauses, in dem Leonid einst zur Welt kam. Russische Helikopter hatten es beschossen. Er und seine Frau warfen sich zu Boden und schützten ihre behinderte Tochter. Seit dieser Nacht schlafe sie schlecht, sagt Liubov. Ihre Tochter fürchte, die Russen kämen zurück. «Wir überlebten, aber uns ist nichts geblieben», sagt Leonid. Er war einst LKW-Fahrer in Tschernobyl und fuhr Angestellte des zerstörten Kernkraftwerks in Sicherheit. «Das Haus ist ein Zeichen, dass das Leben weitergeht.» Er hat vor, einen Tannenbaum aufzustellen, ihn zu schmücken und mit der Familie Weihnachten zu feiern. «Und im nächsten Jahr werde ich dafür sorgen, dass die Russen für den Wiederaufbau un- seres Dorfes bezahlen.»

Leonid Yushchenko, 66, und Liubov Yushchenko, 60, in ihrem Haus im Dorf Sukachi.