Wo Andrea im Fricktal zuletzt wohnte.

Eine Mutter beschliesst zu sterben

Eine junge Frau nimmt sich im Aargauer Fricktal das Leben. Sie hinterlässt fünf Kinder. Eine Geschichte über Gewalt in der Familie, Streit um Kinder und das Versagen von Justiz, Behörden und Psychiatrie.

Peter Hossli (Text) Pascal Mora (Fotos) 24.02.2019

Wo Andrea im Fricktal zuletzt wohnte.

Kurz vor Weihnachten gibt Andrea Herzog* ihrem Vater ein Versprechen, das sie brechen wird. «Nein, Papi, ich tue mir nichts an», beteuert sie am Abend des 15. Dezember 2018. Sie wisse gar nicht, wie man das mache. «Für meine Kinder», sagt sie, «will ich immer da sein.»

Drei Tage später, an einem Dienstagabend, schneidet ihr Vater eine dicke Nylonschnur durch, die an einer Wasserleitung an der Decke hängt. Auf dem Garagenboden beatmet er seine Tochter. «Andrea chum retour, chum retour», sagt er, drückt auf ihren Brustkorb, massiert ihr Herz.

Andrea kommt nicht retour. Sie ist schon tot, als ihr Vater sie findet. Mit Blaulicht und Sirenengeheul fährt eine Ambulanz vor das Haus im Fricktal, im Nordwesten des Kantons Aargau. Bald ist die Polizei vor Ort, die Spurensicherung, der Staatsanwalt, eine Gerichtsmedizinerin. «Ist das Ihre Tochter?», fragt ein Polizist Kurt Herzog*, 71. «Ja, das ist Andrea, meine Tochter, da bin ich ganz sicher.»

Die Behörden schliessen Fremdeinwirkung aus. Es ist ein Suizid. Einen Abschiedsbrief hinterlässt die 37-Jährige nicht. Zurück bleiben ihre fünf Kinder, zwei Mädchen und drei Buben. Die älteste ist zehn Jahre alt, der jüngste drei.

Fünf Tage vor ihrem Freitod erhält Andrea einen Brief des Familiengerichts im Bezirk Laufenburg: Ihre Kinder bleiben vorerst in der Obhut des Vaters, bei jenem Mann, von dem sie sich im Sommer 2018 nach zehn Jahren Ehe amtlich getrennt hat. Weil er die Kinder und sie geschlagen sowie psychische Gewalt ausgeübt hat, jähzornig gewesen ist und ihr bei der Erziehung kaum geholfen hat. Das ­Gericht gewichtet jedoch gesundheitliche ­Bedenken gegenüber der Mutter höher als dieGefahr, dass der Vater erneut gewalttätig werden könnte.

Auf einem Bauernhof im Fricktal ist Andrea gross geworden, in der Nähe eines 1000-Seelen-Dorfs am Fusse des Benkerjochs. Sanfte Hügel und hochstämmige Bäume prägen die Landschaft. Die Beizen heissen Rössli, Adler, Rebstock, Pinte. Senf kommt aus der Tube, Salatsauce aus der Plastikflasche. An mancher Weggabelung steht ein Steinkreuz mit einem gold- oder bronzefarbenen Jesus.

Vom Dorf erreicht man den Hof zu Fuss in einer halben Stunde. Andreas Mutter Ines Herzog*, 66, trägt Spinat- und Chäschuechli auf, dazu Wienerli und Brot. «Meine Tochter ging, weil man ihr die Kinder weggenommen hat», sagt sie und giesst Tee ein. Sie selber hat vier Kinder zur Welt gebracht. «Einer Mutter nimmt man die Kinder nicht weg.»

Vor ihr auf dem Stubentisch liegt das erstinstanzliche Urteil des Familiengerichts Laufenburg, 47 Seiten, datiert am 10. Dezember 2018. «Die Kinder werden unter die Obhut des Vaters gestellt», schreibt darin der Gerichtspräsident.

Ein Dorf im Fricktal.

In der Hochzeitsnacht fängt es an
Die Geschichte, welche die Familie Herzog über die nächsten Wochen erzählen wird, handelt von häuslicher Gewalt und Demütigung, psychischen Zusammenbrüchen und menschlicher Kälte, und von Beiständen, Psychiatern und Behörden, die zu spät, falsch oder gar nicht eingegriffen haben. Sie ereignet sich in einer Umgebung, in der wegen emotionalen Bindungen Dinge zugelassen werden, die unsere Gesellschaft sonst nicht toleriert: in der Familie.

Was die Eltern berichten, wird durch die Akten auf dem Stubentisch bestätigt; das Gerichtsurteil, psychiatrische Gutachten und Berichte der Kesb, der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde. Daneben liegen Fotos einer einst glücklichen Familie, dazu E-Mails, die Andrea in den letzten Monaten verschickt hat. Sie erzählen davon, was Andrea den Eltern über ihre Ehe berichtet hat.

Als unbeschwertes Mädchen beschreiben die Herzogs ihre Tochter. Mit 14 will sie kein Töffli, sie will ein Pferd. Die Beziehung zum Vater ist innig. «Andrea vertraute mir», sagt Kurt Herzog. Als einziges Mädchen geht sie in eine Klasse mit neun Buben. Sie lernt gerne, spielt Schwyzerörgeli, geht ins Judo, tobt sich im Wald aus. Ihre Noten hätten für die Kantonsschule gereicht. Aber Andrea will mit den Händen arbeiten und lernt Bäcker-Konditorin.Als Kantonsbeste schliesst sie im Juli 2000 ab, sie verbringt in Amerika sechs Monate auf einer Ranch mit Pferden und Rindern, verbessert ihr Französisch in Frankreich, absolviert die Bäuerinnenschule. Im Winter jobbt sie in den Bergen.

Am Unspunnenfest 2006 in Interlaken trifft sie Bruno*, einen gelernten Landwirt, ein Jahr älter als sie, der auf einem Hof in einem engen Ort im Fricktal aufgewachsen ist. «Hier fliegen die Krähen rücklings, damit sie das Elend im Dorf nicht anschauen müssen», heisst es über die Ortschaft.

Andrea verliebt sich in ihn, will Kinder mit ihm. Vier, fünf, vielleicht sechs. Was sie nicht weiss, worüber aber beim Coiffeur und im Lädeli gesprochen wird: Bruno stammt aus einer Familie, in der es Gewalt gibt. Er selbst erlebte sie als Kind.

Sie wird schwanger. Kirchlich korrekt heiratet das Paar im Frühling 2008. Es ist ein schönes Fest, bis am Abend. Andrea ist müde, hat Kopfschmerzen und will mit ihrem Mann allein sein. Bruno feiert und lässt sie bis 2 Uhr warten. Im Hotelzimmer schreit er sie an. Sie fürchtet, den Falschen geheiratet zu haben. «Nicht einmal aus dem Hochzeitskleid hat er mir geholfen», berichtet Andrea Jahre später ihrer Mutter.

In der Trachtengruppe erzählt der Vater später von der Hochzeit der jüngsten Tochter. «Was, sie hat diesen «verruckten Siech» geheiratet?», fragt ihn eine Frau. Kurt erschrickt, er hat Bruno als «flotten jungen Mann» erlebt.

Das Paar zieht in eine Dreizimmerwohnung. Nach der Geburt von Lola* hört Andrea auf zu arbeiten. Bruno verdient das Geld als Informatiker und ist selten zu Hause. Schreit Lola, nervt ihn das. Er schlägt das Baby auf den Hintern und sagt: «Jetzt weisst du, warum du schreist.»

Ein Jahr später kommt Guido* zur Welt. Der Kleine trinkt zu wenig und verliert viel Gewicht. «Jetzt suuf ändlich», schreit der Vater. Dass sein Sohn ausgemergelt aussieht, nimmt er nicht ernst. Schliesslich muss Guido im Spital mit einer Magensonde ernährt werden. Das überforderte Paar besucht einen Erziehungskurs. Der Hausarzt, der Brunos Familie kennt, rät ihm: «Entweder gehst du in eine Gewalttherapie, oder ihr trennt euch.»

Nachbarn der Familie erzählen, was sie damals gehört haben. Wie Bruno «böse Namen und Schimpfwörter» geschrien und mit Kleiderbügeln auf den Esstisch geschlagen habe, wie er Gegenstände herumwarf und kaputtmachte. Einmal klingelt Andrea bei einer Nachbarin und bittet sie, das Telefon benutzen zu dürfen. Sie will ihren Vater anrufen, aber in einem Wutanfall hat Bruno alle Telefonkabel zerrissen. «Komm, er startet durch», bittet Andrea ihren Vater. Der eilt herbei und sieht, wie Bruno wütet. «Ich vergebe dir diesen einen Ausraster», mahnt er den Schwiegersohn. «Aber das darf nie mehr passieren.»

Erstmals denkt Andrea an eine Trennung. Sie will aber keine Scheidungskinder. Und sie liebt ihn ja. Ihre emotionale Bindung zu ihm lässt weiterhin zu, was ihr der Verstand untersagt. Ihre Schwiegermutter ersucht sie zu ­bleiben. «Bruno hat viel Wut in sich», sagt sie. «Jetzt kommt diese Wut raus, du bist der ­goldene Schlüssel, Andrea. Du kannst Bruno heilen.» Sie verspricht, ihr alles zu bezahlen, was ihr Sohn zertrümmert.

Die junge Familie zieht auf einen kleinen Hof. Bruno beginnt eine Gewalttherapie. Später wird er gegenüber den Behörden sagen, sie sei «wenig gewinnbringend verlaufen». Das dritte Kind ist ein Mädchen, Judith*, das vierte, ein Knabe, Jakob*. Alle glauben nun, die Familie sei auf gutem Weg. Während der fünften Schwangerschaft gibt Bruno seiner Frau schmerzhafte Kopfnüsse. Sie schämt sich lange, davon zu erzählen. Schliesslich kommt Lukas* zur Welt. Die Familie ist gross geworden. Andrea stürzt in eine postnatale Depression. Drei Monate verbringt sie in der Frauenklinik am Meissenberg in Zug.

Ein Steinkreuz im Fricktal.

Abdrücke auf dem Körper
Bald nach Andreas Heimkehr zieht die Grossfamilie in eine Gemeinde bei Bern. Sie erwerben ein kleines Haus, von dem die Kinder zu Fuss in die Rudolf-Steiner-Schule können. Den Eltern ist es wichtig, ihre Buben und Mädchen anthroposophisch zu erziehen.

Es geht nicht gut in Bern. An einem Sonntag, am 22. Oktober 2017, eskaliert ein Streit zwischen Vater und Kindern. Bruno packt Guido, der aus Angst in die Hose macht. Er schleudert zuerst ihn und dann Jakob durch die Stube. Judith stösst sich den Kopf. Andrea hört die Schreie der Kinder, stellt Bruno zur Rede und stürzt die Treppe hinunter.

Am Montag erzählt Judith im Kindergarten davon. Die Schule füllt am 24. Oktober 2017 die Meldung einer «eventuellen Kindswohlgefährdung» bei der Kesb des Kantons Bern aus. «Der Vater habe sie und ihre zwei Geschwister Guido und Jakob aufs Sofa geschleudert», wird als Aussage von Judith aktenkundig. «Der Papa habe sie schon mehrmals geschlagen und Guido habe auch schon sichtbare Abdrücke der Hand auf dem Körper gehabt.» Das Mädchen erzählt, ihre Mutter habe sich beim Sturz «am Rücken und Bein» verletzt. «Die Eltern hätten sich sehr gestritten.»

Telefonisch bestätigt Andrea den Vorfall gegenüber der Kesb. Sie fügt an, sie sei nicht gestürzt, sondern von ihrem Mann die Treppe hinuntergestossen worden. Aktenkundig wird auch Andreas Aussage, wonach es schon ­früher Gewaltvorfälle gegeben habe und ihr Mann deswegen während dreier Jahre in ­Therapie gewesen sei.

Häusliche Gewalt ist in der Schweiz seit 2004 ein Offizialdelikt. Die Behörden müssten es untersuchen und verfolgen. Eine Vertreterin der Kesb besucht zweimal die Familie, redet mit den Kindern und mit Andrea und Bruno. Die Mutter hofft auf einen Bericht, in dem der Missbrauch durch den Vater dokumentiert wird, dass die Kesb durchgreift. Und sie hofft, dass die Staatsanwaltschaft ein Verfahren einleitet. Doch viel passiert nicht. Die Kesb empfiehlt Bruno einzig, eine Selbsthilfegruppe für gewalttätige Männer zu besuchen. Was er tut. Wie oft er hingeht, wird von niemandem kontrolliert. «Wir können zu konkreten Fällen nicht Stellung nehmen», sagt die Kesb Mittelland Nord heute.

In einem längeren Telefongespräch bestätigt Bruno, was in der Berner Gemeinde passiert ist. «Aber ich habe Andrea nicht die Treppe hinuntergestossen, wir sind zusammen gefallen.» Später habe die Vertreterin der Kesb «keine meiner Aussagen in den Bericht einfliessen lassen». Sein Gegenbericht sei «zur Kenntnis genommen, aber nicht weiter berücksichtig worden». Ja, gibt Bruno zu, es sei in zehn Ehejahren immer wieder zu Gewalt in der Familie gekommen. «Ich spreche mich nicht frei von Fehlern. Mir hat manchmal die Ruhe und die Gelassenheit gefehlt.» Aber die Gewalt sei nie wirklich abgeklärt worden. «Der Vorwurf reichte, und ich war bei den ­Behörden abgestempelt.» In einem zweiten Gespräch sagt er, wofür es in den Akten keinerlei Hinweise gibt und womit er sich zum Opfer macht: «Die Gewalt ist hauptsächlich von meiner Frau ausgegangen.»

Anfang 2018 kommt Andrea aufgrund von Depressionen erneut in die Frauenklinik nach Zug. Bruno besucht sie nicht. «Er hat ihr nicht geholfen, er hat ihr immer gesagt, schau dir selber – als ob er sie verhungern lassen würde», sagt Kurt Herzog in seiner Stube über den Schwiegersohn.

Im Frühling wird Andrea mit schwerem Durchfall in eine Klinik in Meiringen eingeliefert. Die Ärzte raten ihr, sie soll sich trennen. Dem Gespräch, bei dem die Trennung besprochen werden soll, bleibt ihr Mann fern.

Bruno übernimmt die Kinderbetreuung, was ihn überfordert, wie die Kinder- und ­Erwachsenenschutzbehörde Kesb später ­feststellen wird: «In der Zeit häuften sich die Gewaltvorfälle den Kindern gegenüber.» Heute sagt er, die psychiatrischen Klinken, die Andrea behandelten, hätten ihn nie nach ­seiner Meinung gefragt. Zudem habe er sich echte Hilfe gewünscht. «Ich konnte nie adäquat mit Andreas Krankheit umgehen. Sie hat mich überfordert.»

In Handschellen gefesselt
Am 9. Juli 2018 nimmt Andrea die Kinder und geht auf den Hof zu ihren Eltern. Vorder­gründig, um mit Lola, Guido, Judith, Jakob und Lukas im Fricktal die Sommerferien zu verbringen. Tatsächlich ist es eine Flucht. Sie nimmt Bargeld und alle Ausweise mit. «Ich ­habe es endlich geschafft», sagt sie bei der ­Ankunft. «Ich bin von diesem Mann weggekommen.» Mit einem Satz beschreibt sie ihre Ehe: «Ich habe immer in Angst gelebt.» Bruno teilt sie mit, sie bleibe im Fricktal.

Sechshundert Meter vom Hof entfernt mietet Andrea ein Haus. Es liegt auf dem Gebiet der Gemeinde H., bezugsbereit ab Mitte September. Nach den Sommerferien besuchen die Kinder die Dorfschule. Unter den 130 Schülerinnen und Schülern fühlen sie sich wohl.

Seit August 2018 läuft am Bezirksgericht Laufenburg ein Eheschutzverfahren. Darin werden Trennung, Unterhalt und Obhut geregelt. In die Akten gelangen psychiatrische Gutachten über die Mutter und ein Kesb-Bericht über das Gewaltpotenzial des Vaters.

Andrea ist nicht stabil. Zwar hat ihr die Klinik geholfen, den Umzug in den Aargau zu organisieren. Aber eine psychiatrische Begleitung hielten die Ärzte nicht für nötig. «Andrea hat zehn Jahre Spannungen erduldet, jetzt war sie im luftleeren Raum», sagt ihre Mutter Ines. Sie stellt fest, dass ihre Tochter anfängt abzuheben. Sie wirkt überdreht. Die Mutter alarmiert Andreas Psychiaterin.

Am 13. September 2018 feiert sie ihren 37. und letzten Geburtstag. Sie fängt an, Umzugskisten zu packen, Freunde mit Autos und Lieferwagen aufzubieten. Es folgt ein zweitägiger Umzug ins eigene Haus. Andrea schläft kaum, isst kaum, arbeitet viel, ist überlastet. Per Whatsapp schickt sie am Samstagmorgen eine konfuse Sprachnachricht. Ihre Schwester fährt zu ihr – und trifft ein Chaos an. Offene Fenster, weinende Kinder, eine aufgedrehte, übermüdete Mutter. Andrea ruft die Polizei, nimmt die Kinder und rennt mit ihnen über einen Kiesweg Richtung Dorf. Als die Polizei kommt, setzt sie sich auf die Strasse und befiehlt den Kindern, sich an ihr festzuklammern. Andrea schreit: «Wer hilft dieser traumatisierten Mutter mit fünf Kindern?»

Die Polizei bittet den Grossvater, die Kinder von der Mutter zu lösen und sie wegzubringen. Zuletzt liegt Andrea in Handschellen ­gefesselt auf dem Bauch. Ihre Psychiaterin verordnet eine fürsorgliche Einweisung in diepsychiatrische Klinik Königsfelden in ­Windisch. Am Montag gehen die Kinder zur Schule. Verwandte von Bruno nehmen sie zwischenzeitlich bei sich auf. Die Jugend- und Familienberatungsstelle Laufenburg bestellt einen Beistand und legt fest: «Die Kinder besuchen, sowie sie schul- oder kindergartenpflichtig sind, bis auf weiteres die Schulen oder den Kindergarten in H.»

Der Beistand erlaubt es Bruno, mit den Kindern in die Herbstferien in den Kanton Bern zu fahren. Nach den Ferien sollten sie wieder im Fricktal zur Schule gehen. Derweil organisieren Ines und Kurt Herzog eine Haushaltshilfe, damit ihre Enkel bei ihnen wohnen können, bis Andrea aus der Klinik kommt.

Am Sonntag vor Schulanfang, am 14. Oktober 2018, hätte Bruno die Kinder zurückbringen sollen. Er erscheint nicht. «Wo sind Lola, Guido und Judith?», fragen Kameraden an der Schule. Zuerst heisst es, sie seien am Zügeln. Später, sie kämen nicht mehr. Dabei sind sie in H. angemeldet und müssten dort zur Schule. «Der Gerichtspräsident persönlich hat die Kinder vom Unterricht entschuldigt», sagt heute die Schulleiterin.

Entgegen dem Beschluss der Familienberatungsstelle zieht Bruno in einen anderen Kanton. Mit seinen Kindern lebt er zeitweilig zu sechst in einem einzigen Zimmer bei einer befreundeten Familie. «Weil die Kinder in zwei Haushalte aufgeteilt werden sollten, entschied ich mich kurzfristig, sie nicht ins Fricktal zu bringen», sagt der Vater heute. «Die Kinder mussten zusammen bleiben.» Beistand und Gericht habe er darüber informiert. Sie liessen ihn gewähren.

Davon weiss Andrea nichts. Ihr verspricht der Beistand, ihre Kinder zurückzuholen. Doch das Familiengericht entscheidet sich dagegen, da ihnen kein weiterer Polizeieinsatz zuzumuten sei. Während fünf Wochen besuchen die Kinder keine Schule. Weder die Aargauer Behörden noch die Behörden im neuen Kanton schreiten ein. Der Beistand der Kinder besucht den neuen Wohnort nie und überprüft nicht, wie sie dort leben. Eine Bekannte von Bruno, eine Australierin, betreut sie, während er arbeitet. Sie spricht kaum Deutsch und muss nach drei eigenen Kindern schauen.

Am 5. November 2018 wird Andrea aus der Klinik entlassen. «Aus unserer Sicht ist die Patientin mit einer weiterführenden Behandlung durch Hometreatment aus unserer Akutstation entlassungsfähig und momentan in der Lage, sich um ihre fünf Kinder zu sorgen», befindet man in Königsfelden. Gleichwohl entscheidet das Familiengericht am 6. November, die Kinder sollen vorerst in die Obhut von Bruno gehören. Andrea versteht nicht, warum ihr Gesundheitszustand höher gewichtet wird als die Gewaltbereitschaft ihres Mannes.

Die Mutter ist nun alleine im grossen Haus. Sie sieht ihre Kinder kaum noch, da Bruno sich offenbar nicht an die Abmachungen ihres Besuchsrechts hält und sie selten rechtzeitig zu ihr bringt. Mit einer Anwältin kämpft sie um ihre Kinder. Sie sollen nicht bei einem Mann leben, den sie als gewalttätig erlebt hat. Warum sie das so lange toleriert hat, schreibt sie am 22. November in einer Mail an ihre Anwältin. «Wie bei Gewaltopfern üblich, habe ich aus Scham- und Schuldgefühlen meinen Mann nicht angezeigt, und aus Angst vor seiner grausamen Reaktion.»

Schafherde im Fricktal.

Der K.-o.-Schlag
Ein Kinderpsychiater erstellt zuhanden des Gerichts ein Gutachten und spricht Andrea die Fähigkeit ab, ihre Kinder zu betreuen. Zwar nimmt er die häusliche Gewalt des Vaters zur Kenntnis, geht aber nicht konkret darauf ein: «Auf Nachfrage zu den Vorwürfen der Mutter über seine Gewaltausbrüche hat er mir offen berichtet, wie es dazu gekommen ist und in welchem Umfang diese stattgefunden haben.»

Mit dem Kindswohl erklärt Andreas Anwältin am 27. November dem Gericht, warum Bruno die Obhut zu entziehen sei. «Die Betreuung von acht Kindern durch eine einzige Tagesmutter ist nicht vorschriftsgemäss und deshalb auf Dauer nicht möglich.» Und: «Von einer stabilen und kindswohlgerechten Betreuungssituation kann daher vorliegend nicht die Rede sein.» Gesundheitlich sei Andrea stabil, sie könne die Kinder betreuen. Es bestehe kein Grund, das von Andrea und Bruno vereinbarte und seit zehn Jahren gelebte Familienmodell zu ändern: «Die Kindsmutter als Hauptbezugsperson der Kinder, der Kindsvater als Ernährer der Familie.»

Ihre Argumente greifen nicht. Das Familiengericht spricht Bruno am 10. Dezember 2018 die Obhut der Kinder zu. Es stützt sich unter anderem auf eine Diagnose der Klinik Königsfelden, wonach die Mutter an einer «bipolaren Störung mit gegenwärtig manischer Episode ohne psychotische Symptome» leide. Andrea sei nicht in der Lage, «für ihre fünf Kinder adäquat zu sorgen».

Erwähnt, aber weniger stark gewichtet werden im Urteil die häusliche Gewalt und die Rolle der Mutter als Hauptbezugsperson. Bruno gebe zu, «dass er Wutanfälle hatte und Dinge ‹rumschmiss›». Mehrmals sei der Vater «gegenüber ihr und den Kindern gewalttätig gewesen», heisst es. «Insbesondere wenn sie sich in einer Klinik befunden habe, sei es mehrmals zu Gewalttätigkeiten gekommen.»

Zwar habe sich die gesundheitliche Situation der Mutter stabilisiert, argumentierte der Richter. Doch die Strukturen, die Stabilität und die Konstanz für die Kinder seien «zurzeit eher beim Vater gegeben». Der Mutter räumt das Gericht ein Besuchsrecht ein, das in «ein längerfristiges Betreuungskonzept beider Eltern zu überführen» sei.

Andrea erhält das Urteil am 13. Dezember. Es zerlegt ihr Selbstwertgefühl und stürzt sie in tiefe Traurigkeit. Sie war zuletzt zuversichtlich gewesen und hatte sich eine Haushaltshilfe organisiert für die Zeit, in der die Kinder wieder bei ihr wären. «Das Gerichtsurteil war für Andrea der K.-o.-Schlag», erinnert sich ihr Vater. «Sie hatte Angst um ihre Kinder.» Adam Herzog*, 41, Landwirt und der Bruder von Andrea, sagt: «Bringe ich ein hinkendes Säuli ins Schlachthaus, stehen am nächsten Tag Polizei und Tierschutz im Haus. Hier werden fünf Kinder einem Mann zugesprochen, der aktenkundig als gewalttätig gilt.»

Für einen Rekurs bleiben zehn Tage. Ein pensionierter Lehrer und Freund der Familie stellt mit Andrea eine Liste von Argumenten zusammen, die sie am Verwaltungsgericht einreichen soll. Am Sonntag, 16. Dezember 2018 fahren Andrea und ihre Eltern in Brunos Wohnort. Lola, die älteste Tochter, nimmt am Nachmittag an einem Krippenspiel teil. Es kommt zu einem lauten Streit zwischen Bruno und Ines. Fluchworte fallen. Ohne sich von Andrea zu verabschieden, nimmt Bruno die Kinder und geht. Sie werden ihre Mutter nicht mehr lebend sehen.

Am Montag trägt Andrea mit ihrem Vater fauliges Laub zusammen. «Es tat ihr gut, draussen zu arbeiten», sagt Kurt. Am Nachmittag setzt sie sich an den Computer und bittet ihre Anwältin per Mail, bei der ehemaligen Psychiaterin ihres Mannes einen Bericht über dessen Behandlung einzufordern, «damit wir da eine Bestätigung der Gewalt haben. Die Kindesmisshandlungen sind erneut zu beachten.» Sie weist auch auf die Gefährdungsmeldung hin, die wegen ihres Mannes gemacht wurde. Essen mag Andrea an diesem Abend nichts mehr. «Ich bin nur noch eine Hülle, ich bin ganz leer», sagt sie ihrer Mutter.

Am Dienstag um 18 Uhr ist sie zu einem Essen verabredet. Um 18 Uhr 30 ruft ihre Freundin bei Ines und Kurt Herzog an und fragt nach Andrea. Sie war um 14 Uhr 54 zuletzt auf Whatsapp, erkennt ihr Vater und holt bei Andreas Vermieter den Hausschlüssel.

Kein Licht brennt. Die Fenster sind verziert mit Weihnachtsschmuck, die Wohnung ist aufgeräumt, verpackte Weihnachtsgeschenke liegen in der Küche. «Andrea, wo bisch?», ruft er und geht von Zimmer zu Zimmer. Er sieht ihre Schuhe und den Rucksack, betritt die Garage und findet seine Tochter. «Jetzt, wo meine Schwester tot ist, schaut ihr sofort hin», sagt Adam Herzog, als die Behörden eintreffen. «Als sie noch lebte, schaute keiner hin.»

Streit an der Trauerfeier
Auf Anfrage drückt das Bezirksgericht Laufenburg seine Anteilnahme aus. «Wir sind betroffen und bedauern zutiefst, was vorgefallen ist», sagt die Sprecherin der Gerichte des Kantons Aargau. Eheschutzverfahren seien nicht öffentlich. Daher dürfe sich das Gericht zum Fall nicht äussern. Bei strittiger elterlicher Obhut wäge das Gericht stets «sämtliche Argumente, die von beiden Eltern vorgebracht werden, sorgfältig gegeneinander» ab.

Massgebend bei Entscheiden sei das Kindeswohl. Zu beantworten sei «die schwierige Frage, welcher Elternteil zurzeit die bessere Gewähr bietet, für die Kinder angemessen zu sorgen». Der nicht obhutsberechtigte Elternteil solle «von Anfang an Kontakt zu den ­Kindern haben». Gesellschaft wie Gesetzgeber erwarteten, «dass beide Eltern gemeinsam und partnerschaftlich für die Kinder sorgen». Genau das sei hier aufgegleist worden. «Die Obhut war dem Vater der Kinder zugeteilt worden», sagt die Sprecherin. «Die Betreuung der Kinder war indessen so ausgestaltet, dass die Mutter diese im Laufe der Zeit mehrheitlich hätte übernehmen sollen. Sie wurde im Hinblick auf dieses Ziel auch unterstützt.»

Am 22. Dezember wird Andrea Herzog im Fricktal beigesetzt. Die Kinder, die in den Tagen zuvor den Sarg ihrer Mutter bemalt haben, sollen am Trauermahl im «Ochsen» teilnehmen. So ist es ausgemacht. Nach der Beerdigung nimmt Bruno alle fünf zu sich. In den «Ochsen» dürfen sie nicht. «Sie haben Angst vor euch», sagt er zu Andreas Familie und geht. Am Telefon sagt Bruno später, die Kinder würden «erstaunlich gut» mit dem Tod ihrer Mutter umgehen. «Sie haben wieder klare Verhältnisse. Sie sind nicht mehr zerrissen. Sie sind an einem Ort zu Hause. Es gibt Kontinuität. Das macht es einfacher.» Auf Andrea habe er «keinen Groll». «Sie war die Liebe meines Lebens. Und sie ist die Mutter meiner Kinder. Sie sollen sie immer schätzen und ehren.»

Bei sich zu Hause im Fricktal stellt Ines Herzog ein halbes Dutzend Mohrenköpfe auf den Tisch. Es ist Mitte Februar 2019. Seit der Beerdigung haben die Herzogs ihre Enkel nicht mehr gesehen. Wie es ihnen geht, wissen sie nicht. Mit einer neuen Anwältin ziehen sie vor Gericht. «Wir wollen ein Besuchsrecht für die Kinder und die Rehabilitation von Andrea erwirken», sagt der Grossvater.

Andreas Bruder Adam ist der Götti von Guido und sagt: «Ich will nicht, dass Guido in ein paar Jahren vor meiner Tür steht und mich fragt: ‹Götti, warum hast du mich nicht früher zu dir geholt?›»