Mike, gemalt von Andreas Gefe

Ein Leben, entgleist

Mit 14 kam Mike zum ersten Mal in Haft. Seither sitzt der heute 36-jährige Schweizer fast immer hinter Gittern. Die Gesellschaft, die Behörden und der Strafvollzug kommen mit einem wie ihm nur schwer zurecht. Er schildert verheerende Zustände in den Gefängnissen.

Peter Hossli (Text) Andreas Gefe (Fotos) 09.01.2022

Mike, gemalt von Andreas Gefe

Der Raum ist hoch, grau und leer. Zwischen Mike und dem Reporter steht eine Scheibe aus Panzerglas. Sie tauschen sich verbal über knisternde Lautsprecher aus. An der Wand tickt eine Uhr, darunter liegt ein roter Knopf, über den der Besucher notfalls Hilfe herbeirufen kann.

Mike, wie er genannt werden will, hält ein Büchlein gegen die Scheibe. Darin hat er von Hand die Titel und die Autoren der Bücher notiert, die er gelesen hat, von Klassikern der Belletristik, religiösen Texten und philosophischen Abhandlungen. «Lesen hat mir geholfen», sagt er. Dank den Stoikern habe er den Zorn abgelegt. Ein sanftes Lächeln liegt auf dem Gesicht. Das Kopfhaar hat er glatt rasiert, am Kinn wächst ein Bart. Er trägt Jeans und einen Pullover. Täglich liest er acht Stunden.

Liest Mike nicht, bindet er im Zentralgefängnis Lenzburg Haargummis zusammen. Tag für Tag, jahrein, jahraus. Die Monotonie mache ihn ruhelos und müde, sagt er. Es gebe Betreuer, die einzig darauf achteten, dass Insassen wie er bei der Arbeit nicht einschliefen. «Das Schweizer Gefängnissystem ist destruktiv», sagt Mike. «Du bindest jahrelang Haargummis oder zählst Schrauben, aber draussen braucht es keinen, der Schrauben zählen kann. Bist du frei, machst du bald wieder etwas Illegales und kommst wieder rein.»

Mike weiss, wovon er spricht. Der 36-jährige Schweizer ist eingesperrt, seit er 14 Jahre alt ist. Auf freiem Fuss war er im Alter zwischen 22 und 27 Jahren. Er ist in zweiter Instanz wegen mehrfacher bewaffneter Raubüberfälle zu einer Strafe von neuneinhalb Jahren und einer stationären Behandlung verurteilt worden. Mike bestreitet die Vorwürfe. Vor Bundesgericht plädiert er auf Freispruch.

Unbestritten ist, dass Mike viele falsche Abzweigungen genommen hat. Sein Leben entgleiste ihm. Dafür waren er und andere verantwortlich. Mit einem wie ihm kommt die Gesellschaft nur schwer zurecht. Durch die Lautsprecher erzählt er von seinem Leben und der Haft – achtzehn Stunden in diesem hohen, grauen und leeren Raum. Gerichtsakten und Gespräche mit Leuten aus seinem Umfeld stützen seine Geschichte.

Ein Anfang ohne Chancen

Mikes Vater war ein nigerianischer Zuhälter, die Mutter eine Ostschweizerin, die in einem Altersheim arbeitete. Zuletzt lebte das Paar in Nigeria. Die Mutter kehrte schwanger zurück und brachte Mike in Frauenfeld zur Welt. Ihr neuer Freund handelte, wie sie, mit Kokain.

Um sich dem Zugriff der Behörden zu entziehen, floh die Mutter mit dem zweijährigen Mike nach Brasilien. Sie wurde in einer Favela erschossen. Mike kam ins Kinderheim. Sein Grossvater flog nach São Paulo, um die Tochter zu identifizieren und den Enkel zu suchen. Er fand den Kleinen abgemagert, mit aufgeblähtem Bauch und eitrigen Ausschlägen. Als er am Flughafen Kloten durch den Zoll schritt, hielt er auf einem Arm die Asche der Tochter, auf dem anderen den kranken Mike.

Monatelang musste der Knabe im Kinderspital St. Gallen aufgepäppelt werden. Gerne hätten die Grosseltern ihn aufgezogen, doch die Behörden stuften sie als zu alt ein. Zum leiblichen Vater durfte Mike keinen Kontakt mehr haben. Er wurde adoptiert, bekam einen neuen Nachnamen und wuchs in einem Toggenburger Dorf als Einziger mit dunkler Haut auf. Häufig hörte er das N-Wort. «Negerli stinken», rief man ihm nach, dabei duschte Mike zweimal täglich. Einer riss ihm die Speichen aus dem Velo. Um es zu kaufen, hatte er lange in der Gärtnerei gearbeitet. «Neger brauchen keine Räder», rechtfertigte sich der Täter.

Mit 14 Jahren versuchte Mike erstmals, sich das Leben zu nehmen. Er hatte sich mit seinem Adoptivvater gestritten, einem cholerischen Mann, der trank. Aus Wut schlug Mike die Tür hinter sich zu, woraufhin der Vater ihn verprügelte. Mike wollte sich vom Spitaldach stürzen, doch ausgerechnet an jenem Abend war der Zugang zur Terrasse geschlossen. «Ich wusste nicht, was ich tun sollte», sagt Mike. Statt zu sterben, zog er durchs Dorf, traf Jugendliche, kiffte und trank.

Er und ein anderer lösten sich von der Gang, schlugen Autofenster ein und stahlen im Busdepot einen Sportwagen. Mike setzte sich ans Steuer und lieferte sich mit den angerückten Polizisten eine Verfolgungsjagd. Er konnte sie abschütteln, stellte das Auto auf eine Anhöhe, ohne die Handbremse zu ziehen. Der Wagen rollte auf die Geleise und ging kaputt. In derselben Nacht verhaftete die Polizei ihn im Kinderzimmer; sie wusste, wo der einzige Dunkelhäutige des Dorfes wohnte. Sein weisser Komplize blieb unbehelligt.

Mike kam ein erstes Mal in ein Gefängnis, nach Uznach in eine Isolationszelle – «in den Bunker», wie er sagt. Der 14-Jährige fühlte sich klein und verletzlich unter den Erwachsenen. Mitgefangene und Betreuer lachten über seine Rastafrisur. Man brachte ihn in die Psychiatrie, wo er Medikamente gegen Schizophrenie erhielt. Dabei wollte er einfach nur weg von den Adoptiveltern. Von der Schule, in der sie ihn nur beachteten, wenn er sich prügelte und Dinge aus dem Fenster warf. Wo er der Starke sein musste oder der Klassenclown oder der Querulant. Das wollte in der Psychiatrie jedoch niemand hören. Man schickte ihn an Orte, die eine Art Atlas der schwererziehbaren Schweiz bilden: Littenheid. Pfäfers. Platanenhof. Bellinzona. Ascona. Lugano.

Etwas sei überall gleich gewesen: Die eingesperrten Jugendlichen waren meistens high. Mike fing mit Medikamenten an, andere nahmen bereits Kokain und Heroin. Später probierte auch er alles: «In jeder Jugendanstalt, in jedem Heim hat es jede Menge Rauschgift. Entweder schmuggeln es Insassen nach dem Ausgang rein, oder die Angestellten dealen.»

Benebelte Jungs machen weniger Ärger. Mike sah, wie einige versuchten, sich das Leben zu nehmen, und wie es anderen gelang. «Das hat mich verstört und in mir ein Durcheinander angerichtet.» Auf das Durcheinander folgten mehr Pillen. Ein Medikament hob den Spiegel weiblicher Sexualhormone an und senkte jenen der männlichen. Es wuchsen ihm Brüste, an der Haut bildeten sich Dehnungsstreifen. Er wusste nicht, ob Tag oder Nacht war, Winter oder Sommer. Und er verlor die Kontrolle über Speichel und Tränenfluss. Er schaute Pornos, konnte wegen der Medikamente aber nicht masturbieren. Die Adoptiveltern bekamen mit, dass er kaum noch aufrecht ging und nicht mehr richtig ass. Sein Anwalt meinte, das sei nicht so wichtig.

Eine Pädagogin der Stiftung AH Basel hatte die Idee, Mike in die Buschschule nach Namibia zu schicken, in ein von Deutschland und der Schweiz getragenes Erziehungsprojekt. Die Jugendanwaltschaft St. Gallen stellte ihn vor eine Entscheidung: Entweder er füge sich, oder er bleibe bis zu seinem 22. Geburtstag in Haft. Er wäre gerne in der Schweiz geblieben, aber die Adoptiveltern überredeten Mike.

Die Hölle auf Erden liegt in Namibia

Ein Jet der Air Namibia flog ihn von Frankfurt nach Südwestafrika, in ein grosses, trockenes, fast menschenleeres Land. Mike empfand es als surreal. Gestern war er im St. Galler Knast, heute in der namibischen Hauptstadt Windhoek. Der deutsche Projektleiter der Buschschule fuhr ihn zu einer Villa mit Pool. Eine Woche lang lebte er in Freiheit, konnte ausschlafen, durch die Stadt ziehen, im Pool baden, sich am Kühlschrank bedienen. Niemand setzte ihm Grenzen, was er kaum aushielt.

Der 15-jährige Knabe kam zu einem Ehepaar, dessen Vorfahren Buren gewesen waren – grosse, weisse Europäer, die Namibia einst besiedelt und unterjocht hatten, mit dem Ende der Apartheid 1990 aber die Macht verloren. Die beiden sprachen Afrikaans, besassen einen Nissan Pick-up und lebten auf einem Grundstück drei Stunden nördlich von Windhoek. Es hatte nichts, ausser ein kleines Haus mit Plumpsklo. Das Paar lebte von den 500 Franken, die es monatlich für Mikes Obhut erhielt. Der weisse Buschvater war einst Polizist gewesen und sagte zum dunkelhäutigen Schweizer: «Wegen der Neger habe ich meinen Job verloren.»

Mike fühlte sich allein und überwältigt von der harschen Natur, von den braunen Termitenhügeln, die am Strassenrand standen. Er hatte in der Schweiz aufgehört, Fleisch zu essen. Jetzt musste er nachts Wild mit Salz anlocken und es aus dem Hinterhalt erschiessen. Die getöteten Tiere hängte er kopfüber an Bäume, schnitt ihnen die Halsschlagadern auf, damit das Blut ausfliessen konnte. Er entfernte ihre Köpfe und die Innereien, zog die Felle ab und öffnete die Mägen. Der Gestank des Schlachtens liege noch heute in seiner Nase.

Auf der Farm nebenan war ein deutscher Junge namens Stefan untergebracht. Zusammen versuchten sie zu fliehen, doch Mikes Ziehvater griff sie auf und schlug ihn windelweich. Eines Nachts schlich sich Stefan erneut zu Mike. Sie rannten weg, liefen eine Nacht und einen Tag Richtung Südafrika. Ihre weissen Buschväter setzten schwarze Spurenleser auf sie an, die sie halbverdurstet aufgriffen. Mike weiss nicht, was mit Stefan geschah. Aber er wurde umplatziert zu einem 64-jährigen Buren namens Freddy Schlechter mit dickem Bauch, dicken Waden und langen, wurstigen Fingern. Er trug immer kurze Hosen, hatte einen Glatzkopf und lebte in einem Haus auf dem Hügel bei der kleinen Stadt Otavi.

Was Mike über die Zeit mit diesem Mann erzählt, ist erschütternd. Er erzählt es sachlich, nüchtern und reflektiert. «Damals habe ich nicht realisiert, was es bedeutet. Heute weiss ich, dass das nicht gut war. Damals habe ich keine Fragen gestellt, weil die Erwachsenen mir sagten, das sei schon richtig so.»

Schon nach dem Aufstehen begannen Mike und Schlechter Whiskey zu trinken. Sie fuhren angetrunken mit dem Geländewagen in die Stadt und schauten sich um, bis sie fanden, was sie suchten: zwei, vielleicht drei Mädchen, die Schlechter gefielen. Mike stieg aus, redete mit ihnen und lockte sie ins Auto. Er versprach den Mädchen etwas Warmes zu essen. Fast alle willigten ein. Sie waren 11 und 12 Jahre alt, nie älter als 14. Zu Hause konnten sie duschen und hörten poppige afrikanische Musik, sie schauten fern, assen und tranken. Dann wählte Schlechter eine aus und hatte Sex mit ihr. Die zweite überliess er Mike.

Bevor der Schweizer nach Afrika geschickt wurde, hatte er noch nie eine Frau berührt. Jetzt gewöhnte er sich daran, mehrmals täglich Sex zu haben und ständig zu trinken – und das neun Monate lang. Er sei stolz gewesen, ein richtiger Mann mit Frauen und Schnaps zu sein. Dass ihn das zerlegte, merkte er nicht.

Die Polizei wusste, was im Haus auf dem Hügel vor sich ging, unternahm aber nichts. Schlechter brachte Geschenke auf den Posten. Einem Polizisten gab er einen Kühlschrank.

Mike freundete sich mit Schlechters kleinem Sohn an. Als der Vater das Kind schlug, wies Mike ihn zurecht und erntete eine Tracht Prügel. Der Ostschweizer rannte in die Stadt, kaufte sich zwei Flaschen Whiskey und trank sich in einen Rausch. Einer hinderte ihn daran, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Mike kam in die Psychiatrie nach Windhoek und erzählte von den Vergewaltigungen. Niemand hörte zu. «Sie machten in der Buschschule mit uns, was sie wollten. Beschwerte sich einer, glaubte ihm keiner», sagt er.

Mike hatte Entzugserscheinungen. Er war 15 Jahre alt und alkohol- und sexsüchtig. Von einem Tag auf den anderen waren beide Drogen weg. Und doch schickte ihn die Buschschule zurück zu Freddy Schlechter.

Es war eine Rückkehr in die Hölle, durch die der Junge nicht mehr gehen wollte. Er beschaffte sich ein Hanfseil, schnürte es an einen Ast und sprang von einem Stein. Sein Genick blieb intakt, die Haut aber brannte höllisch, als er sich die Schlinge vom Hals zog.

Auf einem Ausflug an die Küste klaute Mike den silbernen Revolver, den Schlechter unter dem Sitz des Geländewagens versteckt hatte. Am Strand würde er sich eine Kugel durch den Kopf jagen. Doch er traf auf einen Bekannten, der ihn überredete, ein Glas mit ihm zu trinken und dann den Leiter der Buschschule anzurufen. Am Telefon drohte Mike, zuerst den Gastvater und danach sich selbst zu töten.

«Ich hätte mich erschossen», sagt er heute. «Aber vor Freddy hatte ich Angst. Ich dachte, ein solch böser Mensch wäre unsterblich.»

Mike kam nach Windhoek in den Bunker. Tag und Nacht brannte das Licht. Eine Toilette fehlte, er pinkelte an die Wand. Nach zwei schlaflosen Nächten zerschlug er die Glühbirne. Die Wärter drohten, ihn aufzuschlitzen. Er litt Todesängste, bis der Leiter der Buschschule ihn abholte. «Du gehst», brüllte er. Duschen durfte er nicht, dabei hatte er nackt in den eigenen Ausscheidungen geschlafen. Um sich zu säubern, sprang er in den Pool.

Mike erlebte in Namibia als Teenager, was kein Mensch erleben dürfte. «Ich entwickelte ein perverses Frauenbild», sagt er. Jahrelang sah er Frauen nur als Prostituierte. Erst viel später habe er begriffen, was er und Schlechter den Mädchen angetan hatten, dass Hunger und Armut sie in das Haus auf dem Hügel getrieben hatten. Eines Tages möchte er zurück nach Namibia, um zu schauen, ob der alte Bure noch lebt. Und ob es dort ein Kind mit seinem Gesicht gibt. Es wäre 20 Jahre alt.

Nach der Landung in Frankfurt mussten die Passagiere sitzen bleiben, damit Polizisten Mike abführen konnten. Innerhalb weniger Wochen wurde er von einem deutschen Gefängnis ins nächste gebracht. Mannheim. Stammheim. Stuttgart. In der Schweiz fragte ihn niemand, was in Namibia geschehen war. Die noch immer beim AH Basel tätige Pädagogin will sich zu Mike nicht äussern. Sie schreibt: «Es ist Ihnen nicht gestattet, mich oder das AH Basel namentlich zu nennen.» Die Jugendanwaltschaft St. Gallen betont, Auslandplatzierungen seien legal. Stets habe sie «zur Platzierungszeit geltende Qualitätsstandards» eingehalten. Ziel sei es, Jugendlichen ein «reizarmes Umfeld zu ermöglichen».

Ein Pate namens Ice-T

Mike musste als 16-Jähriger zuerst lernen, mit Frauen zu reden, ohne übergriffig zu werden. Seine Sexsucht nahm er mit in die Schweiz, gedanklich drehte sich alles um das eine. Nach einem halben Jahr in der geschlossenen Abteilung beim AH Basel kam er in den halboffenen Vollzug und hatte Ausgang. Er lieh sich 100 Franken und ging in Kleinbasel zu einer Prostituierten. Alkohol und Puffbesuche kosteten ihn Geld. Er besorgte es mit Entreissdiebstählen, wurde erwischt und kam in eine Arbeitserziehungsanstalt für junge Erwachsene.

Das Jugendgefängnis erlebte er als Anarchie. «Jugendliche verhalten sich hinter Gittern schlimmer als Erwachsene», sagt Mike, der als Kind, als Jugendlicher und als Erwachsener eingesperrt war. «Teenagern fehlt die Reife, um die Konsequenzen ihrer Taten zu sehen.» Es habe viel von allem. Hass. Gewalt. Rauschgift. «Bist du erwachsen, überlegst du dir, was du machst, als Jugendlicher ist es dir egal.» Es drohe keine Verwahrung, keine längere Haftstrafe. «Es gibt nichts, das dich daran hindert, andere anzugreifen oder einen Sozialarbeiter anzuspucken. Entweder du schlägst, oder du wirst geschlagen.» Die Neuen reihen sich unten ein. «Dort leidest du. Je weiter oben du bist, desto besser geht es dir. Bist du neu, beobachten dich alle, sie provozieren dich. Plötzlich stehen vier Typen in deiner Zelle und schauen, wie es dir geht. Hast du 20 Franken, nehmen sie dir 10 ab. Deine neue Uhr? Weg! Es endet immer gewalttätig. Du steigst nur auf, wenn du zurückschlägst.» Mike schlug zurück. Er wollte anderen nicht die Schuhe putzen.

Einmal befahl ihm beim Essen ein glatzköpfiger Rechtsextremer, er solle sich woanders hinsetzen. Mike aber blieb sitzen, woraufhin der Glatzkopf Gabel und Löffel nach ihm warf. Mike schlug ihm einen Stuhl über den Kopf. In den Bunker kamen beide. Mike aber stieg auf, da er sich gewehrt hatte. Mit jedem Kampf verbesserte er seinen Rang. An den Wochenenden zogen sich die Teenager in einen schalldichten Musikraum zurück und gingen mit den Stöcken des Schlagzeugs aufeinander los.

Es gab Verletzte, aber keiner erzählte, was passiert war. Verschwiegenheit galt als oberstes Gebot. Hielt sich einer nicht daran, litt er. Einmal verpetzte ein Neuling den ranghöchsten Jugendlichen wegen eines Handys. Der Boss ging mit vier anderen Häftlingen in die Zelle des Petzers. Sie hielten ihn an den Armen und den Beinen fest. Der Anführer zog ihm das T-Shirt hoch und zerschnitt mit einer Rasierklinge seine Brust und die Wangen.

War Mike dabei? «Man hat mich damals beschuldigt. Dann wurde die Beschuldigung zurückgezogen. Rechtlich blieb nichts hängen.»

Mike verpetzte niemanden. Er schlug zurück, wenn ihn einer schlug, und er stieg zum Paten im Jugendgefängnis auf. Er organisierte den Schmuggel, besass einen Laptop mit Internetzugang und einen Fernseher mit DVD-Player. Die anderen brachten ihm das Essen und gossen Getränke nach. Sie nannten ihn «Ice-T», weil er gerne Eistee trank. Sass einer auf dem Sofa, stand er für Mike auf. Wollte er im Fitnessraum Hanteln stemmen, gingen die anderen raus. Sie wuschen seine Kleider, putzten seine Schuhe, reinigten seine Zelle. Zur Dusche schritt er nackt, zeigte den muskulösen Körper, um zu signalisieren, wer das Sagen hat: Das ist meine Dusche, haut ab.

Da Mike nicht rauchte, konnte er sparen. Das Geld lieh er gegen Zinsen aus. Er gab 50 Franken und forderte 60. Damit die Aufseher seine Bank nicht entdeckten, führte er Buch mit Codes. Mit den Gewinnen erwarb er Drogen. Wie ein guter Mafioso gab er manchmal einen aus. In einer Silvesternacht feierte eine Gruppe in seiner Zelle. Aus der Stereoanlage dröhnte House, er hatte Ecstasy besorgt. An Neujahr blieben die Jungs im Urintest hängen und mussten in den Bunker. Alle ausser Ice-T, der nichts genommen hatte. «Mich hat niemand verraten», sagt er. «Aus Respekt.»

Mike, gemalt von Andreas Gefe

In der Freiheit ist der Respekt weg

Mit 22 Jahren kam er frei, und der Respekt war weg. Drinnen öffneten ihm andere die Türen. Jetzt fuhr er in vollen Zügen, und niemand erhob sich, selbst wenn er grimmig schaute. Im Gefängnis hätte er geschlagen. Dass das nicht mehr ging, überforderte ihn. Er fiel in eine Depression. Zwar hatte er sein Ziel erreicht, war frei, aber die Freiheit empfand er als Strafe.

Hinter Gittern hatte er nichts gelernt. Und jetzt wurde von ihm verlangt, eine Steuererklärung einzureichen. Draussen war es für ihn mühsamer als drinnen. Er musste aufstehen, mit dem Velo durch den Schnee fahren, um in der Schreinerei zu arbeiten. Er sei klug, hiess es in der Laufbahnberatung, er solle ans Gymnasium. Dort sass der 22-jährige Mann mit 16-Jährigen in der Klasse und fühlte sich arm und alt. Die Mitschüler assen im Restaurant, er stand um 6 Uhr auf, um sich das Mittagessen zu kochen. Täglich pendelte er zwei Stunden vom Toggenburg an den Bodensee. Am Wochenende arbeitete er als Türsteher in St. Gallen, um wenigstens etwas verdienen zu können. Er schlief während des Unterrichts ein, brach die Schule ab und versuchte vergeblich, in der Armee zu dienen. Da er adoptiert war, bekam er nichts vom Vermögen, das sein leiblicher Grossvater hinterliess.

Er nahm eine Stelle bei der Securitas an, und er heiratete die Frau, die er im Gefängnis online kennengelernt hatte. Endlich hatte er Geld, eine Liebesbeziehung und einen Job, der ihn forderte. Mike ging es so gut wie nie.

Bis ein Kollege ihn überredete, für jemanden einen iranischen Mieter aus einer Wohnung in Chur zu werfen. Es kam zum Handgemenge. Als die Polizei erschien, sagte der Iraner, man habe ihn ausrauben und töten wollen. Der Fall von 2012 ist bis heute rechtlich nicht abgeschlossen. Mike wurde freigestellt. Dann gab er den Job auf, die Beziehung litt, sein Gemüt verdunkelte sich. Er nahm Antidepressiva, die ihm wenig halfen, traf sich mit Typen, die er vom Gefängnis her kannte, nahm Drogen, um die Sorgen zu vernebeln. «Mir war klar, dass ich wieder in den Knast komme. Angst hatte ich davor nicht.»

Er besuchte Orte, wo Gangster sich treffen. Mike erzählt von einem schweizweiten Netzwerk, das aus Lokalitäten besteht, in denen Menschen sich austauschen, wo sie krumme Dinge besprechen, koksen, Prostituierte treffen, Shisha rauchen und sich Waffen beschaffen. Besonders gefiel ihm ein Lokal in der Stadt Zürich, wo Typen jeweils am Montag früh um 5 Uhr auftauchten, die Zuhälter ihre Prostituierten mitnahmen und alle gemeinsam feierten und tanzten. Hier galt die alte Rangordnung, hier erntete Mike Respekt.

Geld verdiente er als Hilfsarbeiter, und das war ihm zu wenig. Deshalb besorgte er sich mehrere Pistolen, darunter eine 44er Magnum, wie «Dirty Harry» sie im Kino benutzte.

Abgeseilt aus zehn Metern Höhe

Mike redet nicht darüber, was er damit tat, da er auf das Urteil des Bundesgerichts wartet. Insgesamt soll er vier Überfälle verübt haben, auf ein Restaurant, ein Hotel, einen Tankstellenshop, einen Erotiksalon. Das Kantonsgericht St. Gallen hat ihn verurteilt wegen mehrfachen bewaffneten Raubes, fahrlässiger schwerer Körperverletzung und weiterer kleinerer Delikte. Überführt wurde er mit einer aussergewöhnlichen Methode: Videokameras fingen den maskierten Täter ein. Experten erstellten anhand der Aufnahmen 3-D-Modelle und sagten, sie entsprächen Mikes Massen. Sein Anwalt zweifelt diese Beweise an.

Der 36-Jährige sagt, er habe sich damals gewünscht, in einer Schiesserei mit der Polizei zu sterben. «Ist es besser oder schlechter, dass ich verhaftet wurde?» Er fragt, ob sein Leben lebenswert sei, und antwortet gleich selbst: «Das kann ich noch nicht sagen.» Da kein abschliessendes Urteil vorliegt, konnte er nie eine Lehre machen. Es fehlt ein Führungsplan, der festlegen würde, wie ein Verurteilter seine Delikte aufarbeitet. Urlaub erhält er nicht. Eine Hafterleichterung kann Mike nicht beantragen. Bleibt die stationäre Massnahme – die kleine Verwahrung – bestehen, kann er die bisherige Haftzeit nicht verrechnen.

Mike kam 2014 nach Appenzell, da das Untersuchungsgefängnis St. Gallen renoviert wurde. In der Nacht auf den 1. September türmte er. Es gelang ihm, das Fenster zu öffnen und Gitterstäbe wegzubrechen. Aus zehn Metern Höhe seilte er sich ab, mit einem Seil, das er aus dem Handtuch, den Bettlaken und dem Fernsehkabel zusammengeknotet hatte. Er floh nach Süddeutschland und checkte in ein Wellnesshotel ein. Seine Frau besuchte ihn für zwei Nächte, ging zurück und kam abermals. Ohne es zu merken, führte sie die Polizei zu ihrem Mann. Später fragten ihn Gefangene, warum er damals nicht nach Afrika verschwunden sei. «Ich wollte nicht abhauen, ich wollte einfach meine Frau berühren.»

Fortan durfte er im Gefängnis nur noch allein spazieren, mit Fuss- und Handfesseln, wobei seine Arme auf dem Rücken zusammengebunden wurden. Am 1. Mai 2015 stürmten Polizisten frühmorgens seine Zelle in Altstätten (SG). Sie trugen Sturmmasken und Helme, hatten Schilde dabei, drückten Mike zu Boden und fesselten ihn mit Handschellen aus Plastik und Stahl. Sie streiften ihm eine Kappe über den Kopf, so dass er zwar noch atmen, aber nichts mehr sehen konnte. Zuletzt zogen sie ihn für eine Leibesvisitation splitternackt aus. Die Sondereinheit fuhr nach Regensdorf bei Zürich und legte ihn direkt in die Zelle der Strafanstalt Pöschwies. «Sie werden lange hier sein», begrüsste ihn der Abteilungsleiter. Von einem Tag auf den anderen hatte er keinen Kontakt mehr zu Häftlingen. Jetzt sass er 23 Stunden pro Tag in der Sicherheitszelle. Von 6 Uhr 30 bis 7 Uhr 30 durfte er raus. Die Zähne putzte er im einbetonierten Chromstahlbehälter, er erleichterte sich auf der einbetonierten Toilette, schlief auf einem Plastikbett und ass aus Einweggeschirr. Das schmale Fenster war doppelt vergittert und wurde ständig von einer Kamera überwacht.

Zwei Jahre verbrachte er in Isolationshaft. «Die ersten fünf bis sechs Monaten gehen, aber danach willst du nicht mehr leben. Du hörst nichts, du siehst nichts, du empfindest nichts.» Wie ein Tsunami an Reizen empfand er den Wechsel in den Normalvollzug. «Ich konnte lange keine Gespräche mehr führen.»

Gespräche führte er mit seinem Zellennachbarn Brian K., mit dem berühmten Sträfling, den die Schweiz über Medienberichte einst als «Carlos» kennengelernt hatte. «Ich konnte mich gut in ihn hineinversetzen», sagt Mike, «weil ich in seinem Alter genauso Mühe hatte mit meinen Emotionen, auch ich liess mich von den Wärtern provozieren.» Nach einer Beleidigung habe er getobt, statt zu denken. «Du kannst diesen Überlebenstrieb nicht einfach abstellen.» Heute zähle er nach jeder Erniedrigung auf zwanzig, was ihm helfe. Die Direktion für Justiz des Kantons Zürich wollte sich aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht direkt zu Mike äussern. Grundsätzlich bestehe die Möglichkeit, Beschwerde einzureichen, sagte eine Sprecherin.

Er sei nach Lenzburg versetzt worden, weil er sich mit Brian unterhalten habe, glaubt Mike. Eines Tages betraten Polizisten mit Aargauer Abzeichen seine Zelle. Sie forderten ihn auf, rauszukommen. Mike weigerte sich, bis sie ihm sagten, er würde in den Aargau verlegt werden. «Das ist deine einzige Macht als Gefangener», erklärt Mike. «Wenn du in der Zelle bist, kannst du dich weigern, herauszutreten. Dann müssen sie das Einsatzkommando rufen, und das kostet den Staat viel Geld.»

Einmal weigerte er sich aus Protest acht Monate lang, spazieren zu gehen, weil der Spaziergang auf 6 Uhr terminiert war. «Sie wecken dich um 5 Uhr 40, die restlichen 23 Stunden bist du eingesperrt – das ist reine Schikane.» Damit er nicht erwachte, legte er ein Tuch über die Lampe. Er war in Isolationshaft und konnte nicht härter bestraft werden.

Anders als bei den Jugendlichen sei in der Strafanstalt der Erwachsenen keiner ehrlich, sagt Mike. Bei positiven Drogentests erhielten Gefangene mildere Strafen, wenn sie ihre Dealer denunzierten. Würden Angestellte einen erkennen, der ausgegrenzt werde, holten sie den Aussenseiter ins Büro und würden versuchen, ihn als Spitzel zu gewinnen. Verrate er etwas Grösseres, werde er sofort versetzt.

Lenzburg, wo Mike jetzt sitzt, empfindet er als angenehmer als die Pöschwies. Die Betreuer seien älter und kulanter, insbesondere im Umgang mit psychisch kranken Menschen. In seiner Nähe schreie jede Nacht ein Mann. Er schlage gegen die Zellenwand und wecke die anderen. Brauche er einen Kaffee oder eine Zigarette, eilten die Angestellten herbei, um die Wutausbrüche zu dämpfen. «Sie wissen, es ist billiger, jemandem eine Zigarette zu geben, als ein Chaos zu riskieren.» Das Zürcher Gefängnis empfand er als aggressiv. Hier in Lenzburg begrüsse ein Betreuer ihn schon einmal mit: «Guten Morgen, ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.» Er könne sagen, er sitze noch auf dem WC, wenn das Frühstück kommt, dann erhalte er es etwas später.

Das wäre in der Pöschwies nicht möglich gewesen. Dort habe er Sadisten angetroffen – Betreuer, die Gefangene demütigten. Als er sich einen Bart wachsen liess und sagte, er schneide ihn erst, wenn er freikomme, sei er verhöhnt worden. «Du wirst über deinen Bart stolpern», habe einer gelacht. «Solche Demütigungen provozieren unnötigerweise Gewalt», sagt Mike. «Redet man mit psychisch labilen Menschen normal, gibt es weniger Angriffe.» Er erlebe in Schweizer Gefängnissen Menschen, die stundenlang Selbstgespräche führen. Andere legten in ihren Zellen Abfall aus und zündeten ihn an. Einer ziehe sich jeweils nackt aus und beschmiere seine Haut mit den eigenen Fäkalien. Habe er keinen Stuhlgang, bitte er die Mitgefangenen darum.

Mike traf viele Insassen, die ähnliche Karrieren hinter sich haben wie er. Jungs aus dem Heim, die wie er nie weiterkamen, weil sie sich im Gefängnis prügelten. Im Gegensatz dazu würden sich etwa Päderasten mustergültig verhalten, damit sie rasch rauskämen.

Mike hätte gerne studiert oder eine Lehre gemacht. Er befindet sich im Sicherheitsvollzug, wo das nicht möglich ist. «Was machst du mit 20 oder 40 Jahren im Gefängnis? Du kannst Jus studieren wie Nelson Mandela, oder du kannst Papier falten wie ich. Gehst du mit einem Studienabschluss raus, dealst du kaum Drogen. Verdienst du mit Einbrüchen mehr als mit Hilfsarbeit, brichst du wieder ein. Das System hilft den Menschen drinnen nicht, und es kostet die draussen viel Geld.»

Am Telefon mit der Grossmutter

Weil er Angst hatte, mit nichts rauszukommen, begann er zu lesen. Zuerst erhielt er aus der Bibliothek vier Bücher pro Monat, mittlerweile sind es vier pro Woche. Hat er Geld auf dem Konto, bestellt er sich draussen neue Bücher. «Man sollte die Gefangenen zum Lesen zwingen», sagt er. «Statt Trottelarbeit zu machen, sollten sie in die Bibliothek gehen.»

Er sah viele, die mit einer Handvoll Psychopharmaka freikamen und überfordert waren – wie er mit 22. «Damals war ich nicht bereit. Jetzt wäre ich es. Ich kenne die Schwierigkeiten, und ich habe die Depressionen überwunden.» Er bereue vieles, er habe grosse Fehler gemacht. «Es ist schwierig, sie hinter mir zu lassen und vorwärts zu schauen, aber ich weiss, dass ich das nicht mehr mache.»

Viele Menschen halten nicht mehr zu ihm. Der Adoptivvater besucht ihn selten. Seine Ehefrau hat sich 2016 von ihm scheiden lassen und sich abgewendet. Einmal die Woche darf er telefonieren. Jeden Montag um 13 Uhr ruft er seine 93-jährige leibliche Grossmutter an. Ob er jemals rauskommt, weiss er nicht. Ohnehin lasse sich die Welt nicht teilen in «draussen» und «drinnen». «Draussen haben Sie ­genauso Vorschriften und Unannehmlichkeiten wie ich hier.» Entscheidend sei, wie einer rausgehe, ob er arbeite, ob die Familie, der Staat helfe. «Das ist wichtiger, als ob das Tor offen oder zu ist.»

Draussen ist es dunkel. Viele Häftlinge empfinden die Festtage als bedrückend, weil sie sich an schöne Abende mit ihren Familien erinnern. «Ich habe vor allem negative Erinnerungen», sagt Mike. Er verbrachte Weihnachten oft eingesperrt. Käme er raus, würde er die Schweiz und das alte Milieu verlassen. Unentgeltlich würde er bei einer gemeinnützigen Organisation wirken wollen. «Ich brauche nur noch etwas zu essen und ein Zuhause.»

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Eine Karriere hinter Gittern
2000

Mit 14 macht Mike einen ersten Suizidversuch. Wegen Gewaltdelikten erhält er eine Jugendmassnah­me bis zum 22. Geburtstag. Er ist in diesen Institutionen: Psychiatrie Littenheid, Wil, Pfäfers, Jugendheime Platanenhof, SKJ Claro, Ascona und Lugano, AH Basel, Buschschu-le Namibia, Arbeitserziehungsanstalt Uitikon Waldegg, Massnahmenzentrum Bitzi Mosnang, ­Gefängnisse BGZ, Horgen, Uznach, Bazenheid, Waaghof, Frankfurt, Mannheim, Stammheim, Stuttgart. Frei ab Oktober 2008. Mike besucht das Gymnasium, heiratet, bricht die Schule ab und geht zur Securitas.

2013

Verhaftung wegen bewaffneten Raubs in St. Gallen. U-Haft in Klosterhof und Neugasse St. Gallen, Appenzell Regionalgefängnis. Nach der Flucht in Auslieferungshaft in Konstanz. U-Haft in ­Altstätten St. Gallen.

2015

Sicherheitshaft in Pöschwies und Lenzburg bis 2018. Bis 2021 Normalvollzug in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies.

2019

Das Kreisgericht St. Gallen verurteilt ihn zu 10 Jahren und 4 Monaten plus stationäre Massnahme. Das Kantonsgericht reduziert 2020 die Strafe auf 9 Jahre 6 Monate.

2021

Sicherheitsvollzug in Lenzburg. Wartet auf Entscheid des Bundesgerichts.

Die JVA Lenzburg, wo Mike derzeit inhaftiert ist.