Die 17-jährige Israa aus Syrien erzählt Peter Hossli in Zahlé in der Bekaa-Ebene von ihrer Flucht aus Syrien.

Das Jahr, das war – Frühling 2016

Zwei Reisen in den Libanon, ein Gespräch über Journalismus mit einem Bundesrat, ein Gespräch über die Wahrheit mit einem Journalisten, ein Gespräch über Narzissmus – und der Brexit.

15.12.2016

Die 17-jährige Israa aus Syrien erzählt Peter Hossli in Zahlé in der Bekaa-Ebene von ihrer Flucht aus Syrien.

Beim Journalismus zählen einzig die Geschichten. Und Geschichten sind dann gut, wenn Menschen sie erzählen. Das waren einige der Begegnungen im Frühlings-Viertel von 2016.

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“Selbstverständlich ist Erdogan ein Diktator”

Alt Bundesrat Moritz Leuenberger über den Satire-Streit, den Ausstieg aus der Politik und den Auftritt mit Eveline Widmer-Schlumpf. Foto: Philippe Rossier

Herr alt Bundesrat, wie wichtig ist Ihnen die Demokratie?
Moritz Leuenberger: Mein ganzes Leben ist in Demokratie eingebettet. Die direkte Demokratie bedeutet mir alles.

Diese Woche stellten Sie sich vor Recep Erdogan, der gegen die Demokratie einen Feldzug führt. Harsch kritisierten Sie das Schmähgedicht von Jan Böhmermann gegen den türkischen Präsidenten.
Die erste Behauptung ist grundfalsch, die zweite goldrichtig. Ich kritisierte Erdogan massiv. Eine Demokratie wie Deutschland oder die Schweiz fordert aber einen kultivierten Umgang, selbst mit politischen Feinden. Beschimpfungen im Analbereich lenken vom Skandal Erdogans nur ab.

Sie treten im Zürcher Bernhard Theater auf. Es ist die Pflicht von Künstlern, Mächtige mit Worten in die Schranken zu weisen.
Selbstverständlich gehört zur demokratischen Auseinandersetzung das Gefecht mit Worten. Das Wort ist die Waffe der Demokratie.

Böhmermann nutzt diese Waffe satirisch.
Das ist keine Satire!

Sondern?
Plumpste, primitivste Beschimpfung. Um unverletzbar zu bleiben, hängt er sich das Satire-Mäntelchen um. Mit Satire aber hat das nichts gemein, es sind primitive Ausfälligkeiten.

Handschlag für die Hoffnung

Aussenminister Didier Burkhalter im gefährlichsten Slum von Beirut. Foto: Pascal Mora

Hastig führt der libanesische Polizist den Bundesrat hinter die hohen Mauern. Seine Pistole ist geladen, der Kämpfer grau-schwarz gefleckt. «Wir verlassen die Anlage nicht», sagt ein Mitarbeiter von Didier Burkhalter (56). Eben ist der Schweizer Aussenminister in Hay al-Gharbeh angekommen, «im gefährlichsten Slum von Beirut», wie es heisst.

Geschwind steigt er auf die Terrasse des Tahaddi-Zentrums, einer Schule im Libanon, welche die Schweiz unterstützt. Zerfallene Häuser sieht Burkhalter, Müll, schlammige Wege. «Wo aber sind die Kinder?», fragt er.

Die Kinder? Sie sind auf der Strasse, die Schule ist längst aus. Just löst der Bundesrat Krawatte und den obersten Hemdknopf. Er steigt die Treppe runter, geht vorbei an den dicken Mauern – und spaziert fast ohne Begleitschutz durchs Quartier. Geht dort, wo die ärmsten Libanesen derzeit von syrischen Flüchtlingen verdrängt werden.

Wann liefern Sie den Beweis, Herr Gyr?

Ein NZZ-Reporter enthüllte einen angeblichen Geheimdeal der Schweiz mit der PLO. Daran gibt es erhebliche Zweifel. Nun wehrt sich Autor Marcel Gyr (54). Foto: Pascal Mora

Herr Gyr, ich habe Ihr Buch «Schweizer Terrorjahre» für 34 Franken
gekauft …
Marcel Gyr: … bei mir hätten Sie es günstiger erhalten …

… wie viel Geld zahlen Sie mir nun zurück?
Warum? Sie erhalten Wissen und eine spannende Geschichte.

Sie beschreiben einen Terror-Geheimdeal zwischen der Schweiz und der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO. Die Aufsicht der Bundesanwaltschaft sagt jetzt: Es gab das Abkommen nicht.
Noch liegt der Bericht nicht vor. Bis vorgestern habe ich mit der Arbeitsgruppe verhandelt, in welcher Form meine schriftlichen Antworten einfliessen werden.

Details des Berichts sind diese Woche publik geworden. Verkaufen Sie ein Buch, in dem die zentrale Aussage nicht stimmt?
Nein. Die Aufsichtsbehörde sagt, es gebe kein schriftliches Dokument. Was ich anerkenne. Ich habe mehrmals gesagt, es gebe keinen schriftlichen Beweis.

Alle Hoffnung ruht auf den Frauen

Geflohene Syrerinnen bereiten im Libanon die Zukunft ihrer zerstörten Heimat vor. Foto: Pascal Mora

Bläulich schimmert das Kondom, das Ehkram Marda (39) vorführt. «Stülpt es euer Mann über, kriegt ihr keine Kinder», erklärt die libanesische Krankenschwester. Vor ihr sitzen zwei Dutzend Frauen. Keine kichert. Zu ernst ist die Sache. Es geht um Verhütung, eigentlich aber geht es um die Zukunft Syriens.

Gebannt hören die Frauen zu, wie Pillen und Spiralen auf ihre Körper wirken, wie Kondome und Femidome zu handhaben sind. Der Krieg im Nachbarland Sy­rien hat sie hierhergetrieben, in den Libanon. Manch eine ist seit fünf Jahren da – so lange schon sprechen die Waffen. Die wenigsten wissen noch, warum einst der erste Schuss fiel.

Zurück aber wollen alle. «Um aufzubauen, was noch da ist», sagt die islamische Frau, die den Verhütungskurs in der Klinik in der Bekaa-Ebene besucht. «Eine zu grosse Familie wäre da hinderlich.»

«Die Schweiz ist doch meine Heimat!»

Eine sechsköpfige tschetschenische Familie lebt in Kilchberg im Kirchen-Asyl. Ihr droht die Ausschaffung. Foto: Pascal Mora

Auf die Plätze, fertig, los! Linda (11) spurtet, kämpft und zieht den 60-Meter-Sprint durch. Schwester Marha (12) folgt ihr. Mamis und Papis fiebern am Freitagabend in Kilchberg ZH mit ihren Kindern mit. Nur Linda und Marha rennen am «Schnällschte Chilchberger» ohne Eltern im Publikum. Die müssen sich im Pfarrhaus verstecken.

Vor viereinhalb Jahren kam die Familie aus der russischen Republik Tschetschenien nach Kilchberg. Der Vater soll gefoltert worden sein. Sein Asylantrag wurde aber in letzter Instanz abgelehnt.

Nach zwei fehlgeschlagenen Versuchen, sie auszuschaffen, leben die Eltern mit Anvar (15), Marha, Linda und Mansur (4) im Kirchenasyl. «Es ist eines Landes wie der Schweiz nicht würdig, diese Kinder auszuweisen», sagt Francesca Bürgin (48). Ihre Tochter Melanie (11) ist Marhas beste Freundin. «Man muss gar nicht lange googeln, um zu wissen, was in Tschetschenien los ist.»

«Kommt der Brexit, muss ich England verlassen»

Der Schweizer Philosoph Alain de Botton über das britische EU-Referndum. Foto: Mark Chilvers

Alain de Botton empfängt in einer Parterrewohnung im Londoner Stadtteil Belsize Park. «Das ist mein Büro», sagt er. Er wohnt im Haus nebenan. Sein neues Buch handelt von der Liebe.

Herr de Botton, wann ist eine Ehe gut?
Alain de Botton: Wenn die Partner voneinander lernen und so zu besseren Menschen werden. Eine Ehe ohne Probleme gibt es nicht.

Was raten Sie einem Liebespaar?
Man sollte früh fragen: «Wie bist du drauf, wenn du verrückt bist?»

Um sich auf alles vorzubereiten?
Jeder ist komisch bis seltsam. Beim Zusammenleben setzt man sich dem Wahnsinn des anderen zu 100 Prozent aus. Man muss für eine Ehe nicht perfekt sein, aber sagen können, wozu man in der Lage ist. Wer behauptet: «Ich habe keine Probleme, mit mir lebt es sich toll» – der ist gefährlich!

In der Ehe mit der EU kriselt es. Die Hälfte der befragten Briten will die Scheidung. Weil sie die verrückten Europäer nicht mehr aushalten?
Schweizer verstehen, warum wir fragen: Zieht die EU uns runter – oder beflügelt sie uns? Sie leben in einem reichen, sicheren, perfekten Land. Fast alle EU-Institutionen sind schlechter als die der Schweiz.

«S Chileli ist eine Kirche»

Pastoralassistentin Andrea Meyer (51) ist die Hüterin des Wahrzeichens von Wassen. Mit dem neuen Gotthardtunnel verschwindet es aus der Sicht der Zugreisenden. Foto: Pascal Mora

Forsch öffnet Andrea Meyer (51) die Holztür der Kirche von Wassen UR, führt zum kunstvoll verzierten Altar. «Nein», sagt sie, «das ist kein Chileli, es ist eine Kirche!»

Schuld an der Verniedlichung? «Emil!», sagt die Pastoralassistentin des Seelsorgeraums Urner Oberland, zu dem Wassen mit 444 Einwohnern gehört. In einem seiner berühmtesten Sketches verewigte der Luzerner Kabarettist Emil Steinberger (83) «S Chileli vo Wasse», das man vom Zug aus wegen der Kehrtunnel dreimal sieht. «Selbst ich habe immer ‹Chileli› gesagt», so Meyer.

«Den Einheimischen ist aber wichtig: Es ist eine Kirche.» Zumal es «kein niedliches, sondern ein standhaftes Gotteshaus auf dem Felsen von Wassen ist».

«Mein Narzissmus hält sich in Grenzen»

Er stellt provokante Fragen. Er polarisiert. Er gilt als eitel. Jetzt hat Medienpionier Roger Schawinski ein Buch über Narzissten geschrieben. Darin geht es nur am Rand um ihn. Foto: Pascal Mora

Herr Schawinski, wann können wir uns treffen?
Roger Schawinski: Mir ginge es am Mittwoch um 9 Uhr in Zürich.

Okay, ich bringe einen Fotografen mit.
Gut zu wissen, dann muss ich mich rasieren.

(Mittwoch um 9 Uhr in Schawinskis Büro)

Herr Schawinski, Sie haben sich rasiert!
Ich ging unrasiert aus dem Haus, da habe ich mich an den Fotografen erinnert – und bin umgekehrt.

Und was sahen Sie da im Spiegel?
Mich – wie jeden Morgen. So genau schaue ich nicht hin. Eitelkeit ist nicht mein Ding. Meine Kleider kauft mir meine Frau.

Eitel sind Sie nicht – und narzisstisch?
Selbstverliebt sind wir alle irgendwie. Der Narzissmus entfaltet sich auf einer Skala, und zwar von einem gesunden Narzissmus bis hin zur Persönlichkeitsstörung.

Ihr Buch über Narzissmus heisst «Ich bin der Allergrösste». Das löst bestimmt Häme aus. Warum nehmen Sie das in Kauf?
Weil der Titel besser ist als «Das Narzissmus-Syndrom». Er beschreibt auf treffende Weise die Selbstüberschätzung extremer Narzissten.

Was bewirken solche Menschen?
Das Verhalten eines Narzissten wird für alle zum Problem – ausser für ihn selber.

“Nicht alle der 17 Millionen Brexit-Befürworter sind Idioten”

Am Tag nach der Brexit-Abstimmung scheint in London die Sonne, die Stimmung aber ist bedrückt. Foto: Mark Chilvers

Ungewöhnlich still ist es auf der Plattform der Londoner Untergrundbahn. Menschen starren auf Handy. Oder ins Leere. Niemand redet. Bis der Lautsprecher krächzt. «Wir haben ein Problem mit einer Weiche», so die bleierne Stimme. Verspätet seien die Züge auf der Jubilee Line. «Es fängt an», sagt ein Passagier, «alles bricht ein.» Er hält eine Zeitung in der Hand, «We’re Out», steht auf dem Titel. Wir sind draussen. «Wir Briten sind Arsch», murmelt er.

London am Tag nach der Brexit-Abstimmung. Die Sonne scheint, und doch sind die meisten bedrückt.

Eine knappe Mehrheit der Briten hat sich für einen Austritt aus der Europäischen Union (EU) entschieden, die meisten Londoner wollten bleiben. Von «Schock» sprechen sie in Pubs, auf der Strasse, in Cafés.

«Wir wollen Europäer bleiben»

Die Schotten haben endgültig genug von England: Sie verlangen die Unabhängigkeit – damit sie in der EU bleiben können. Foto: Mark Chilvers

Eigenartiges geschieht auf dem Abendflug von London nach Edinburgh: Mit jeder Minute wird es draussen heller. Wir fliegen der Mitternachtssonne entgegen. «Schottland ist anders», sagt die Politologin Fiona Pollock. «Es ist nicht nur nördlicher, wir sind aufgeschlossener als andere Briten.»

Es ist Freitagabend, der historische Tag, an dem sich die Briten entschieden, aus der Europäischen Union auszutreten. Nicht so die Schotten. 62 Prozent stimmten für einen Verbleib in der EU. Umso aufgekratzter ist die Stimmung im vollen British-Airways-Jet. Fast jedes Gespräch dreht sich um den Brexit. «Wir lassen uns das nicht bieten», sagt Pollock. «Jetzt müssen wir uns von England lösen!»

Can you yodel?

Am 23. Juni 2016 stimmen die Briten über den Brexit ab. Bin in London auf die Strasse gegangen und habe die Engländer zum Ausstieg aus der EU befragt. Dabei ging es um Politik, Wirtschaft – und Klischees.