Von Peter Hossli (Text) und Stefan Falke (Fotos)
Auf Bruce Springsteen (75) und John Legend (45) zu folgen, ist kein einfacher Akt. Einer kann die Menschen noch mehr mitreissen als die beiden Rockstars: der ehemalige Präsident Barack Obama (63).
Gestern Abend kurz nach 20 Uhr betrat Obama die Bühne der Sportarena der Temple University in Philadelphia – und enttäuschte das von Springsteen und Legend aufgeheizte Publikum nicht. «Bei dieser Wahl geht es um nicht weniger als die Zukunft Amerikas», betonte Obama. Blick war beim Endspurt der Demokraten vor Ort.
Kamala Harris oder Donald Trump? «Es ist eine Wahl darüber, wer wir sind und wofür wir stehen», sagte der ehemalige Präsident und setzte gleich zu einer scharfen Kritik an Trump an. Er erinnerte an den Aufmarsch von Trump-Anhängern am Vortag in New York. Dieser sei von Hass, Rassismus und Sexismus geprägt gewesen.
Wie schon in früheren Reden machte Obama seinen Nachfolger lächerlich. «Hier ist ein Mann, ein 78-jähriger Milliardär, der nicht aufgehört hat, über seine Probleme zu jammern, seit er vor neun Jahren diese goldene Rolltreppe hinuntergefahren ist.» Trump denke nur an sich selbst und spalte die Nation. Trumps Erfolge würden nur auf seiner Vorarbeit beruhen. «Er hat im Weissen Haus nichts zu suchen», wetterte Obama. «Für Donald Trump ist Macht nur ein Mittel zum Zweck.»
Kamala Harris stellte er als bodenständige Persönlichkeit vor – eine Frau mit echter Lebenserfahrung: «Sie hat bei McDonald’s gearbeitet, als sie auf dem College war. Sie hat nicht nur so getan, als würde sie bei McDonald’s arbeiten.» Der Seitenhieb auf Trump, der kürzlich in einer geschlossenen McDonald’s-Filiale Pommes verteilte, sorgte für grosses Gelächter im Saal.
Obama schloss seine Rede mit einem leidenschaftlichen Appell an die amerikanischen Werte: «Gemeinsam werden wir weiterhin ein Land aufbauen, das fairer und gerechter, gleicher und freier ist. Das ist unsere Aufgabe. Das ist unsere Verantwortung.»
Er betonte, dass es bei dieser Wahl nicht nur um Politik gehe, sondern um den Charakter der Nation und die Werte, die Amerika ausmachen. Wie können diese gesichert werden? «Runter von der Couch, Handy weg, wählen gehen», forderte Obama die Menschen auf. Vor allem hier in Pennsylvania, dem wohl entscheidenden Swing State des Landes.
Unter tosendem Applaus verliess er die Bühne, schüttelte Hände und liess sich für Selfies fotografieren.
Restlos glücklich waren nicht alle im Saal. Einige hatten gehofft, dass Kamala Harris den Abend beenden würde.
Doch die Vizepräsidentin entschied sich für einen Auftritt in Ann Arbor im anderen Swing State Michigan. Dort sprach sie vor einer grossen Menge junger Menschen, viele von ihnen Erstwähler. «Eure Generation ist ungeduldig und will Veränderungen», sagte Harris. Genau das liebe sie an den jungen Menschen. Das Klima, der Schutz vor Waffen und das Recht auf den eigenen Körper lägen ihr genauso am Herzen.
Sie erinnerte daran, dass bei dieser Wahl alles auf dem Spiel stehe. «Donald Trump ist noch instabiler und unberechenbarer geworden – und jetzt strebt er nach unkontrollierter Macht.» Er wolle ein Diktator werden und die Verfassung ausser Kraft setzen. «Trump im Oval Office? Nie wieder», sagte sie eindringlich. «Nie wieder. Donald Trump darf nicht gewinnen.»
Zum Abschluss ihrer Rede rief Harris die Zuhörerinnen und Zuhörer auf, aktiv zu werden: «Wenn wir kämpfen, gewinnen wir. Wenn wir wählen, gewinnen wir.»
Schon am Nachmittag standen Tausende von Menschen vor dem Eingang der Sportarena der Temple University in Philadelphia. Eine von ihnen war die pensionierte Anästhesistin Barbara Powell (76). «Ich war mein ganzes Leben lang Republikanerin», sagt sie. «Aber ich wurde Demokratin, als Donald Trump zum ersten Mal kandidierte.»
Kurz vor der Wahl liegen die Nerven blank, die Stimmen sind angespannt, und es fallen harsche Worte. Powell nennt Trump «ein Krebsgeschwür in unserem Land» und vergleicht die aktuelle politische Situation mit «Deutschland vor Hitlers Machtergreifung».
Sie zeigt sich «sehr besorgt» und hat Angst um die Zukunft ihrer Enkelkinder: «Ich möchte ihnen ein Land hinterlassen, in dem sie sich sicher fühlen, in dem alle gleichbehandelt werden und in dem Vielfalt und Akzeptanz herrschen. Deshalb bin ich heute hier.»
Michelle Miao
Sie spricht aus, was viele denken: «Trump zerstört die Demokratie in Amerika.»
Michelle Miao, 20 Jahre alt und Studentin an der Princeton University, will das verhindern. Sie leitet die demokratische Hochschulgruppe an ihrer Universität und wird bei dieser Wahl zum ersten Mal abstimmen. Jedes Wochenende arbeitet sie ehrenamtlich für Kamala Harris. «Sie wird eine fantastische Präsidentin sein», sagt Miao und zieht ebenfalls Parallelen zur Zeit des Dritten Reichs: «Nur sie kann die Demokratie vor dem Faschismus von Donald Trump retten.»
Miao kritisiert die Republikaner scharf: «Sie stehen für die Aushöhlung der amerikanischen Demokratie.» Ihre Sorge um die Zukunft ist deutlich zu spüren: «Ich habe Angst um unser Land, um meine Rechte und die meiner Freunde und Familie.»
«Nervös, aber optimistisch» sei sie bezüglich des Wahlausgangs. «Jetzt ist Endspurt, und wir müssen uns voll auf die Mobilisierung konzentrieren. Unsere Nervosität darf uns nicht davon abhalten, aktiv zu werden.»
Deutlich mehr Frauen als Männer waren auf der Kundgebung, was die 73-jährige pensionierte Krankenpflegerin Bonnie Ross frustriert. «Haben Männer immer noch das Gefühl, sie könnten keine Frau wählen, geschweige denn eine Schwarze?» Viele würden ihre Vorurteile nicht offen zugeben, glaubt Ross: «Aber ich fürchte, dass das Geschlecht der Kandidatin die Wahl beeinflusst.» Für sie ist klar: «Ich wähle Harris, weil sie sich für Frauenrechte einsetzt.»
Courtney Gilmore aus Mount Bethel in Pennsylvania kam mit ihrer Tochter – vor allem, um Obama zu hören. «Barack hat mich vor Jahren inspiriert, mich um Politik zu kümmern», erzählt sie. «Und heute sind wir hier, weil wir die erste Frau zur Präsidentin wählen wollen.»
Als Mutter von zwei Töchtern liegt ihr dieses Anliegen besonders am Herzen: «Jahrelang haben wir nur Männer in Führungspositionen gesehen – es wird Zeit, dass sich das ändert. Wir bringen frischen Wind rein.»
Harris stehe für Einheit, sagt Gilmore: «Unser Land ist tief gespalten. Es ist an der Zeit, die Wunden zu heilen.»
Gilmore und ihre Tochter tragen Camouflage-Mützen mit «Harris/Walz»-Logos. «Hey, wir vertreten das ländliche Pennsylvania – und gerade hier ist es besonders wichtig, genügend Stimmen zu bekommen. Hier in Pennsylvania wird die Wahl entschieden.»
Einer der wenigen Männer in der Schlange war Dennis Hannan (57), ein pensionierter Versicherungsvertreter in einem auffälligen rosa Anzug. Seine Vorfahren stammen aus Appenzell Innerrhoden in der Schweiz. «Ich habe drei Töchter und möchte nicht, dass ihre Rechte beschnitten werden. Das könnte unter Trump passieren.»
Bis zum Wahltag will er aktiv bleiben und an Türen klopfen, um Menschen zu überzeugen, für Harris zu stimmen: «Sie bringt viel neue Energie mit.» Was ihm jedoch mehr Sorgen bereitet als die Wahl von Harris, ist die Aussicht auf eine zweite Amtszeit von Donald Trump. «Ich will nicht übertreiben, aber wenn er gewinnt, werde ich wahrscheinlich das Land verlassen.»