Katherine Gilmore
Von Peter Hossli (Text) und Nathalie Taiana (Fotos)
Amerika liebt Superlative: der Grösste, der Schnellste, der Erste. Jetzt könnte es eine Erste geben. Gewinnt Vizepräsidentin Kamala Harris (59) im Herbst die US-Präsidentschaftswahlen, wäre sie die erste Frau an der Spitze des mächtigsten Landes der Welt – 104 Jahre, nachdem alle Amerikanerinnen erstmals wählen durften.
«Oh, Kamala wird es schaffen», glaubt Katherine Gilmore (40), eine Stadträtin aus Philadelphia und Delegierte der Demokraten auf dem Parteitag in Chicago. «Mit ihr haben wir die Chance, die amerikanische Demokratie zu vollenden – mit einer Frau an der Spitze.»
Chancen hat Harris, weil die Kalifornierin auf ein einzigartiges Netzwerk zurückgreifen kann: auf 2,5 Millionen Schwarze, die wie sie an einer schwarzen Universität studiert haben. Erst kürzlich beteiligten sich 44’000 schwarze Frauen aus diesem Netzwerk an einem Zoom-Call, so Gilmore. Alle hätten sich verpflichtet, für Harris Wähler zu mobilisieren, also an Türen zu klopfen und in Call-Centern zu arbeiten.
«Viele Menschen verstehen nicht, welche Macht historisch schwarze Universitäten haben», sagt Gilmore. Schon Menschenrechtsaktivist Martin Luther King Jr. (1929-1968) habe sich auf dasselbe Netzwerk verlassen, das heute Harris unterstützt.
Vor allem schwarze Frauen seien jetzt begeistert, für sie zu arbeiten – «mehr noch als für Barack Obama», sagt Gilmore. «Für uns wäre sie nicht nur die erste Frau im Weissen Haus, sondern auch die erste Schwarze.»
Die Amerikanerinnen erhielten 1920 das Wahlrecht, kurz nach Deutschland (1918), aber vor Grossbritannien (1928), Italien (1946) und der Schweiz (1971). Im Gegensatz zu den USA hatten jedoch alle diese Länder bereits Frauen an der Spitze ihrer Regierungen.
Dies ist vor allem auf das Mehrheitswahlrecht in den USA zurückzuführen. Amerikanische Wahlen sind Personenwahlen. In der Regel gewinnt der Amtsinhaber. Da es für viele Posten keine Amtszeitbeschränkung gibt, kleben die Männer an ihren Sesseln. Für sie ist es einfacher, das nötige Geld zu sammeln.
Yvette Martinez (53) führt die Demokratische Partei in San Francisco. Sie kennt Harris aus ihrer Zeit als Staatsanwältin in Kalifornien. «Sie ist eine Verfechterin der Freiheit, deshalb kommt sie bei den Frauen gut an», sagt Martinez.
Die Wahl wird nicht in Kalifornien entschieden, sondern im Landesinnern der USA. «Dort haben die Menschen die gleichen Wünsche, Bedürfnisse und Hoffnungen wie an der Küste», sagt Martinez. «Eine funktionierende Wirtschaft, Gesundheitsversorgung für alle und Bildung.»
Eines eint die Frauen in ihrer Unterstützung: das Recht auf Abtreibung. «Sie wissen, dass Harris sich dafür einsetzt.»
Rebecca Marion (69) ist aus Alexander City im US-Bundesstaat Alabama nach Chicago gereist. Wie viele andere auf dem Parteikonvent der Demokraten hat sich die Lehrerin feingemacht, trägt einen eleganten Hosenanzug mit passendem Hut. «Ich habe in Amerika für vieles gekämpft», sagt die Schwarze. «Jetzt ist die Zeit reif für eine Frau.» Auch sie meint: «Erst wenn wir eine Präsidentin haben, können wir in Amerika von vollendeter Demokratie sprechen.»
Rebecca Marion und Peter Hossli
Für Harris spricht ihre Biografie: arm geboren, hochgearbeitet, mit einer Zwischenstation bei McDonald’s. Für sie sei es «wichtig, dass eine farbige Frau» ins Weisse Haus einzieht, so Marion. «Unsere Vorfahren haben Amerika aufgebaut, es ist unser Recht, mitzuregieren»
Sie lebt in Alabama, einem Bundesstaat im Süden, den der Republikaner Donald Trump (78) gewinnen wird. «Ich werde Harris’ Botschaft ins Land tragen und für sie arbeiten.» So wie sie es für Barack Obama (63) getan hat, den ersten schwarzen Präsidenten. «Aber Harris ist anders – als Frau steht sie mir näher.»
Die 67-jährige Managerin Jeanne Nelson stammt aus Chicago. Sie ist Mitglied des Finanzausschusses der Demokraten. Sie wünscht sich kompetente Leute im Weissen Haus. «Jemanden mit Erfahrung, der die Verfassung ehrt und die Wahrheit sagt», sagt Nelson. «Es geht nicht nur darum, eine Frau zu wählen. Harris ist fähig, dass sie eine Frau ist, eine schwarze Frau, ist grossartig. Die Menschen, die wir wählen, sollten uns alle widerspiegeln.»
Ihre Mutter musste ihren Vater um Erlaubnis bitten, wenn sie eine Kreditkarte haben wollte. Ihre beiden Töchter hätten grossartige berufliche Karrieren gemacht, sagt Nelson. «Die Zeit vergeht, und es gibt Fortschritte.»
Vor acht Jahren nominierten die Demokraten mit Hillary Clinton (76) erstmals eine Präsidentschaftskandidatin. Sie verlor gegen Trump, der nun gegen Harris antritt. «Es gab viel Frauenfeindlichkeit bei Hillary.» Ausserdem habe sie die Geschichte ihres Mannes im Gepäck mitgetragen, von Ex-Präsident Bill Clinton (78). «Harris hat eine ganz andere, viel positivere Energie», sagt Nelson.
Und noch etwas unterscheidet Harris von Clinton. Vor acht Jahren sagte die damalige Aussenministerin, sie wolle Geschichte schreiben und als erste Frau ins Weisse Haus einziehen. Harris könnte das, aber sie spricht kaum darüber.