Leistung sollte zählen, nicht das Geschlecht

Ski-Olympiasiegerin Marie-Theres Nadig (68) war mit 17 Jahren der erste weibliche Sportstar der Schweiz. Was denkt sie über ihre Vorreiterrolle und Diskriminierung im Sport.

Interview: Peter Hossli Fotos: Christof Schürpf

Frau Nadig, wie viel hat vor 50 Jahren eine Packung Kaugummi gekostet?
Den Bazooka gab es damals für 10 Rappen.

Sie haben im März 1972 einen Kaugummi gekaut, der Sie wohl mehrere Millionen gekostet hat.
Mein Trainer hat ihn mir geschenkt, er war also gratis.

Sie kamen mit zwei Goldmedaillen von den Olympischen Spielen im japanischen Sapporo zurück. Bei der Rede von Bundespräsident Nello Celio nach der Landung fingen Kameras Sie beim Kaugummikauen ein. Statt als Schätzchen der Nation galten Sie fortan als Göre, die «Maite». Für Sponsoren waren Sie nicht mehr attraktiv.
Mir war damals nicht bewusst, was meine beiden Siege in der Schweiz ausgelöst hatten. Niemand war vorbereitet, auch die Trainer nicht. Der Verband wollte uns Frauen gar nicht nach Japan schicken, weil sie uns nichts zutrauten. Nur weil ich gute Resultate erzielte, durften wir gehen.

Dass die Auftritte neben der Piste wichtig waren, erklärte Ihnen niemand?
Niemand sagte, wie wir mit der Presse umgehen sollten oder dass der Empfang in Zürich wichtig sein würde.

Einer strahlte trotzdem und begann nach Sapporo eine noch immer andauernde Karriere als Werbeträger: Bernhard Russi. Dabei gewann er in Japan nur eine Goldmedaille, Sie holten zwei.
Er wurde anders beraten als ich. Zudem hatte er zwei Jahre zuvor nach seinem WM-Sieg in Gröden schon etwas Ähnliches mitgemacht.

Russi traf sich in Sapporo mit Managern, die ihn zum Werbe-Idol machten. Ihnen hat man nicht einmal gesagt, Sie sollen schöne Hosen anziehen. Einer Frau traute man es nicht zu, als Werbeträgerin zu reüssieren?
Es half mir keiner. Aber meine Eltern wollten das auch nicht. Sie hatten Angst, die Presse würde mich verderben. Wir waren einfach alle überrumpelt. Einen Vorwurf mache ich niemandem. Russi wollte das, die «Maite» wollte das nicht. Ich wollte schnell Ski fahren.

Ein Jahr vor Ihren Siegen kam das Frauenstimmrecht an der Urne durch. Frauen durften stimmen, aber Sportidole waren sie damals noch nicht.
Wir Frauen waren sicher keine Stars. Man wollte das Frauenteam auflösen, weil wir schlecht fuhren. Schliesslich gab man uns eine Chance in Sapporo.

Bekamen die Frauen eine angemessene Unterstützung?
Wir hatten zwei Trainer, aber keine Serviceleute. Die Herren waren professioneller geführt worden. Wir waren dritte Liga, die Herren die Nationalmannschaft. Mich störte das nicht, denn ich konnte ja Ski fahren.

Sie weigerten sich, bei einem Auftritt des Sponsoren Helena Rubinstein Schminke und Lippenstift aufzutragen – und erhielten dafür negative Presse. Es reichte nicht, schnell Ski zu fahren.
Sie wollten uns zeigen, wie man sich schminkt, damit wir keine Falten mehr haben. Und sie hatten einen Coiffeur mitgebracht. Das fand ich lustig. Statt dass sie mir die Haare machten, frisierte ich den Fotografen. Ich wollte keinen Lidschatten und rote Lippen. Das ist nicht mein Ding.

Deshalb entgingen Ihnen die Werbeverträge?
Um eine Werbeträgerin zu sein, hätte ich mich ändern müssen. Mir war es aber immer wichtig, mich selbst zu sein. Ich wollte natürlich bleiben.

Würden Sie es heute anders machen?
Junge Sportlerinnen wachsen da einfacher rein. Wollen sie in der kurzen aktiven Zeit Geld verdienen, müssen sie sich anpassen, mit sich Dinge geschehen lassen und auf Fotos attraktiv wirken. Berater sagen ihnen, welches Kleid sie zum Ball tragen sollen und dass sie an der Siegerehrung ihre Sponsoren zeigen. Solche Berater hatten wir nicht.

Wollten Sie ein Vorbild sein?
Es war nie der Plan. Durch meine Erfolge bin ich automatisch zu einem Vorbild geworden. Die Medien wollten ein anderes Vorbild aus mir machen. Ich war ein Vorbild, weil ich schon jung schnell Ski fahren konnte. Das hiess aber nicht, dass ich eine andere Frisur brauche oder dass ich mich anders anziehe.

Sie waren eine natürliche Rebellin?
Ich habe immer gemacht, was ich wollte. Als man mich zu einem Aushängeschild des Skiverbands machen wollte, stellte ich mich auf die Bremse.

Adolf Ogi führte den Skiverband während Sapporo. Die Erfolge ebneten ihm den Weg in den Bundesrat. Hat er genug getan für Sie?
Wir zwei hatten das Heu nicht auf der gleichen Bühne. Er hat Russi gefördert, weil er mit ihm Sachen machen konnte, die mit mir nicht möglich waren.

Sie wollten sich nicht für politische Auftritte hergeben?
Russi konnte man vorzeigen, mit ihm liessen sich Auftritte machen. Er hat das gesagt, was Ogi weiterbrachte. Ich sagte immer, was nicht gut lief.

Ogi hatte Angst vor Auftritten mit Ihnen?
Vielleicht wollte er mich nicht, weil sonst sein Image nicht so gut gewesen wäre.

Was war nicht gut?
Mich störte, dass die Herren vor Sapporo neue Anzüge erhielten, die goldig und schwarz waren. Wir Damen erhielten die blauen Anzüge, die zweite Garnitur. Als ich Ogi fragte, warum, sagte er zu mir, wir seien nicht würdig, gleich zu strahlen wie die Herren. Die Herren seien das Vorzeigeteam, sie hätten Erfolg. Wir Frauen nicht.

Wie reagierten Sie?
Mich verletzte das. Andere Mädchen hörten es und waren ebenfalls verletzt. Es hat unsere Trainer verletzt, die gut mit uns arbeiteten. Für mich war das aber eine Anstachelung.

Sie wollten es allen zeigen?
Dass ich es Ogi gerade so zeigen würde, das habe ich nicht erwartet. Aber ich habe mir gesagt: Maite, jetzt musst du Leistung bringen, gelingt dir das, kommt der Ogi nicht an dir vorbei.

Hat er Sie später um Entschuldigung gebeten?
Der wusste gar nicht mehr, dass er so etwas gesagt hat. Wir haben nie darüber gesprochen. Unsere beiden Charakteren passen nicht zueinander.

Das spielte sich vor 50 Jahren ab. Lara Gut und Corinne Suter lassen sich heute genauso vermarkten wie Marco Odermatt. Beim Skifahren ist die Diskriminierung vorbei?
Ja, wer gute Leistung bringt, erhält dafür Geld. Es spielt keine Rolle mehr, ob man ein Mann oder eine Frau ist. Bei den Werbeverträgen ist es das Gleiche.

Wie beurteilen Sie Ihren Beitrag für die Gleichstellung im Sport?
Dank meiner Resultate ist man darauf aufmerksam geworden, dass Frauen gut sein können. Der Skiverband hat sich nachher dafür entschieden, Frauen zu fördern und sie richtig zu trainieren.

Trotzdem schauen junge Athletinnen heute darauf, dass sie schön sind?
Ja, denn sie wissen, dass sie für Sponsoren interessanter sind. Gibt sich eine Athletin weiblicher, wird sie interessanter für die Werbung. Das wissen alle. Viel verändert hat sich seit meiner Zeit diesbezüglich nicht.

Beim Skirennsport wird über alle berichtet, die Erfolg haben. Insgesamt handeln aber nur 10 Prozent der Berichte im Sportteil von Frauen. Wieso ist das so?
Frauenfussball ist gerade sehr präsent in den Medien. Da hat die Gleichberechtigung etwas gebracht. Aber insgesamt gefallen mir diese Berichte nicht.

Warum?
Es geht zu sehr um das Geschlecht und zu wenig um die Qualität des Sports. Oft schreibt man über Fussballerinnen, obwohl sie gar keine guten Leistungen bringen. Das stört mich. Die Leistung soll ausschlaggebend sein, nicht das Geschlecht.

Sie lehnen Quoten ab?
Ich habe Mühe, wenn es immer heisst, die Männer würden Frauen erniedrigen. Das mindert die Männer ab. Ich wünsche mir ein Miteinander und nicht eine ständige Konfrontation. Wenn man etwas erzwingen will, wird die Diskussion rasch vergiftet.

Sie haben für den FC Zürich Fussball gespielt und wären ein ideales Aushängeschild für den Frauenfussball.
Sie haben mich angefragt, für den Frauenfussball zu werben. Ich habe gesagt, das bringt nichts, ihr müsst einfach gut spielen. Wenn ihr gut spielt, kommt das von selbst. Ihr seid nicht so schnell wie die Männer, euer Spiel sieht nicht so dynamisch aus. Das ist die Natur. Frauen bringen körperlich weniger mit als Männer. Aber sie können gut spielen.

Wenn ich Ihnen zuhöre, finden Sie es gerechtfertigt, dass Lionel Messi so viel mehr verdient als Ramona Bachmann?
Die Männer verdienen viel zu viel. Ein einziger Mensch ist nicht so viel wert. Für Bachmann wäre mehr richtig, aber nicht so viel. Der Frauenfussball ist im Kommen, in ein paar Jahren werden die Spielerinnen mehr verdienen als jetzt. Aber es braucht Zeit. Wir hatten Pisten, dort fuhren wir schnell. Die Fussballerinnen haben Fussballfelder, dort sollen sie zeigen, dass sie spielen können. Wir verdienten die Hälfte dessen, was die Männer bekamen.

Es hat Sie nicht gestört?
Überhaupt nicht. Ich konnte das machen, was ich gerne machte: Ski fahren. Heute wird die Leistung anerkannt. Ist eine Frau gut, kann man nicht mehr an ihr vorbeischauen, das war früher noch anders. Gibt es in der Schweiz zehn Frauenfussballteams, die gut spielen, werden alle mehr verdienen. Aber heute ist das noch nicht so. Das Gefälle ist gross.

Werden Sportlerinnen heute diskriminiert?
Was heisst das? Diskriminiert? Ist es heute nicht so, dass eine Frau einen Job erhält, obwohl sie vielleicht nicht so gut ausgebildet ist wie der Mann? Aber der Mann wird zum Quotenproblem? Dann wird doch er diskriminiert. Männer darf man diskriminieren, aber die Frauen überhöhen vieles. Das mag ich nicht. Frauen drängen sich in eine Opferrolle. Dabei will doch niemand ein Opfer sein.

Als Sie jemand fragte, wie der Schnee in Sapporo war, antworteten Sie: «Weiss.» Es war eine brillante Antwort auf eine dumme Frage eines Reporters. Aber man hat das gegen Sie ausgelegt. Weil Sie eine Frau waren?
Da muss ich den Reporter in Schutz nehmen. Die Journalisten, die mit uns nach Sapporo kamen, hatten wenig Ahnung von Skifahren. Aus dem Nichts gewann diese 17-Jährige zwei Rennen. Als mich der Reporter fragte, wie der Schnee war, meinte er wohl die Beschaffenheit. Wäre ich gewandter und reifer gewesen, hätte ich ihn nicht blöd aussehen lassen.

Und wie war der Schnee?
Natürlich war er weiss, aber japanischer Schnee ist anders beschaffen als europäischer. Er ist flockiger.

Man sagte nachher, dieses Mädchen habe keine Erfahrung.
Sie ist zu jung, vielleicht zu blöd. Dem Publikum gefiel es aber. Für den Journalisten war es vermutlich weniger lustig.

Sie waren ab 1986 eine der wenigen Trainerinnen im Ski-Zirkus. Wie hat man Sie aufgenommen?
Das war eine Männerdomäne. Es gab Leute, die sagten, nur weil die Nadig gut Ski fährt, ist die noch lange keine Trainerin. Aber das war bei den Herren auch so. Peter Müller hat es versucht. Es hat nicht funktioniert. Pirmin Zurbriggen musste es nicht machen. Es gab ausser mir eigentlich niemanden.

Von der Kritik beirren liessen Sie sich nicht?
Nein, ich habe einfach gesagt, ich wolle das ausprobieren. Ich hatte Passion dafür.

Sie wurden 2004 Cheftrainerin des Schweizer Frauenteams – und stiessen auf viel Widerstand. Warum?
Sie wollten damals unbedingt für die Frauen eine Schweizer Trainerin. Alle haben mitgeredet: die Medien, die Sponsoren, der Verband. Ihnen gefiel, was ich in Liechtenstein gemacht hatte. Aber es gab Leute, die glaubten, ich könne das nicht.

Weil Sie eine Frau sind?
Nein, es hatte mit meiner Person zu tun. Wir haben gut angefangen und dann nachgelassen. Aber sie hätten uns noch ein Jahr mehr Zeit geben können. Vom Potenzial her waren die Herren das bessere Team, aber beide waren nicht gut. Die Verantwortlichen standen jedoch hinter dem Herrenteam. Ich musste gehen, weil mein Kopf nicht sympathisch genug war.

Sie können Ski fahren. Sie können reden. Ihr Humor ist trocken. Ideale Voraussetzungen, um bei SRF Skirennen zu kommentieren. Warum haben Sie das nie getan?
Die Leute von SRF haben mich angefragt und zu einem Casting aufgeboten. Danach erhielt ich eine schriftliche Absage. Es hiess nur, sie hätten sich anders entschieden. Warum, das sagten sie mir nicht. Dann habe ich zurückgeschrieben und gefragt, wo ich mich denn verbessern müsse. Sie sagten, das würden sie mir nicht sagen. Sie wollten unbedingt eine Frau, aber dann haben sie mit Michael Bont doch einen Mann genommen.

Wie ist bei Ihnen zu Hause über Gleichberechtigung oder das Frauenstimmrecht gesprochen worden?
Es war kein grosses Thema. Meine Mutter hat meinem Vater im Architekturbüro geholfen. Sie hat immer gearbeitet. Frauen waren bei uns gleichberechtigt.

Sie gelten als Ikone der Schweizer Frauen, aber Sie wollen keine Feministin sein?
Nein, eine Feministin bin ich nicht. Es ist richtig, dass Frauen sich behaupten. Aber ich will nichts erzwingen. Es nützt nichts, wenn man etwas erzwingt. Dann erzeugt man Gegenwehr. Und das legt einen falschen Nährboden. Ich konnte immer das machen, was ich machen wollte. Zu Hause, im Beruf, im Leben. Dabei habe ich nie etwas erzwungen, sondern ich habe dafür gearbeitet.

Sie haben es geschafft, Ihr Privatleben weitgehend privat zu lassen.
Vor etwa zwei Jahren hat mich eine lesbische Fussballerin kontaktiert. Sie würde ein Buch über lesbische Sportlerinnen herausgeben. Sie fragte mich, ob ich mitmachen würde. Ich lehnte ab, denn ich bin nicht lesbisch.

Wie empfanden Sie diese Anfrage?
Als übergriffig. Wegen solchen Anfragen habe ich Mühe mit Frauenrechtlerinnen. Sie wollten eine bekannte Frau, um sie zu instrumentalisieren. Sie wollten über mich sagen: «Schaut, das ist eine Ikone, das ist eine Lesbe.»

Wie kam die Sportlerin dazu, Sie als Protagonistin aufzubieten?
Sie meinte, wegen meiner Art müsste ich eine Lesbe sein.

Sie waren nie verheiratet.
Deshalb entstanden wohl Gerüchte. Einmal hat man gesagt, ich hätte ein Verhältnis mit einer Fahrerin. Was nicht stimmt. Da ich Fussball spielte, dachte man vielleicht, ich sei eine Lesbe. Als sie anrief, sagte ich ihr, ich könne ihr nicht helfen, ich habe lieber Männer als Frauen. Dann bot sie mir an, die Einleitung zu schreiben. Das lehnte ich ab, da ich die lesbische Gefühlswelt nicht kenne.

Sie haben fast nie über Ihr Privatleben gesprochen. Warum?
Weil das für mich kein grosses Thema ist. Ich hatte Freunde. Als sie mich fragten, ob ich sie heiraten würde, habe ich den Blinden gezogen. Ich wollte nie heiraten, und ich wollte keine Kinder. Mit meinem Beruf wäre das nicht zu vereinbaren gewesen. Nur weil ich jetzt alt bin und nie verheiratet war, heisst das noch lange nicht, dass ich eine Lesbe bin.