Der Fotograf des Krieges

Die Bilder von Emilio Morenatti prägen die Wahrnehmung des Angriffs. Dem Spanier gelingt es, Verletzlichkeit einzufangen – er sagt, weil er selbst ein Bein im Krieg verloren habe.

Von Peter Hossli

Jeder Krieg liefert Bilder, die bleiben. Zuweilen ist es eine einzelne Fotografin, ein Fotograf, deren Werk ins historische Gedächtnis einfliesst. Wer es in der Ukraine sein wird, lässt sich noch nicht sagen. Einer aber ragt heraus: der Spanier Emilio Morenatti. Weltweit drucken Zeitungen und Magazine seine Fotografien auf ihren Titelseiten. Weil sie berühren und wahrhaftig Schicksale zeigen. Fortlaufend schildern sie zudem die neuesten Ereignisse. Damit ist der 53-Jährige der Chronist, der gleichzeitig hautnah dabei ist.

Zu Beginn der Invasion fing er den Stau ein, den Flüchtende und ihre Autos in der Hauptstadt Kiew bildeten. Am Bahnhof fotografierte er Paare und Familien, die der Krieg trennt. Frauen und Kinder reisen in den Westen, Männer müssen an die Front. Ein Vater legte seine Hände auf ein Zugfenster, um seiner abreisenden Tochter nah zu sein. Morenatti fotografiert nicht Kriegstrümmer, sondern er zeigt Menschen vor ihren zerbombten Wohnhäusern und unter zerstörten Brücken.

Schrecklich schön

Die Bilder sind unverwechselbar. Der Fotograf sucht das Emotionale, ohne dem Kitsch zu verfallen. Er hat den Mut, mit eleganten Kompositionen das Schreckliche zugänglich zu machen. Wer seine Fotografien sieht, kann gar nicht wegschauen. Um die Kraft solcher Bilder weiss er. «Die Schönheit eines Fotos besteht darin, den Betrachter zu fangen», sagte er letztes Jahr der spanischen Zeitung «El País» in einem Interview. «Wie bei fleischfressenden Blumen, die einen mit ihren Farben anlocken und umgarnen.»

Morenatti fotografiert seit Jahren Kriege – und das mit nur einem Bein. Als er im August 2009 in Kandahar in Afghanistan auf Patrouille ging mit amerikanischen Soldaten, explodierte eine improvisierte Sprengfalle. Es geschah in einer Region mit vielen ähnlichen Zwischenfällen.

Morenatti verlor das linke Bein unterhalb des Knies. Das habe seine Arbeit verändert, sagte er zu «El País». Heute verstehe er, was es heisse, Opfer einer Gewalttat zu sein. Er fühle sich verletzlich – und setze die Verletzlichkeit gezielt ein. Als er 2021 während der Paralympischen Spiele in Tokio behinderte Sportler fotografierte, trug er im Stadion kurze Hosen. Alle konnten seine Prothese ­sehen. Weil er so offen mit der ­Behinderung umgehe, erlaube er sich, andere in verletzlichen Umständen zu fotografieren. «Meine Empathie gibt mir die Freiheit, gewisse Grenzen zu überschreiten», erklärt Morenatti.

Auf diesem schmalen Grat zwischen hemmungslosem Einsatz und zugewandter Aufmerksamkeit entstehen eindringliche Fo­tos. Obwohl sie Leid und Elend zeigen, etwa schlafende Zwillingsbabys im Luftschutzkeller eines Kiewer Spitals.

Morenattis Familie stammt aus Spaniens Süden. Emilio kam 1969 im Norden in Saragossa zur Welt, wo sein Vater als Polizist diente. Er wuchs in Andalusien auf, studierte Grafikdesign und arbeitet seit 2004 für die Fotoagentur AP. Im selben Jahr fotografierte er an der Fussball-WM in Deutschland und wurde ein paar Monate später von Palästinensern entführt. Er lebte in Afghanistan, in Jerusalem, Gaza und Pakistan. Bevor er sein Bein verlor, erzählen Kol­legen, habe er stets besser als die anderen sein wollen – und aus Blickwinkeln fotografiert, die zuvor niemand ausprobiert hatte.

Die Kamera beschreibt er als seinen dritten Arm. Stets trage er sie auf sich, selbst wenn er gerade keinen Auftrag habe. Letztes Jahr gewann er den Pulitzer-Preis für eine Arbeit in seiner Wahlheimat Barcelona. Er hatte alte und obdachlose Menschen während der Pandemie begleitet.

«El Puli» und sein Bein

Wegen der Auszeichnung nennen ihn Freunde nun liebevoll «El ­Puli». Als er den angesehensten Preis im Journalismus erhielt, ­bedankte er sich für die Anerkennung und betonte: «Wissen Sie, ich gäbe den Pulitzer her, um mein Bein wiederzuerhalten, um wieder zwei Beine benutzen zu können. Ich würde dafür sogar mein Werk verbrennen.» Leid, erklärt er damit, ist bei jenen Menschen real, die es am eigenen Leib erfahren. Weil er das verstanden hat, fängt er es authentisch ein.