Nichts mehr los im Paradies

Leere Sandstrände, verwaiste Tempel, verlassene Hotels: Seit zwei Jahren liegt der globale Tourismus am Boden. 62 Millionen Arbeitsplätze sind dahin. Was ist mit den Menschen an unseren Sehnsuchtsorten passiert? Und gibt es das Paradies nach der Pandemie noch?

Von Peter Hossli und Michael Furger (Text) und Gabriel Rojas on Unsplash (Foto)

Aus der Weisheit des Dalai Lama ist ein unerfüllter Wunsch geworden: «Einmal im Jahr solltest du einen Ort besuchen, an dem du noch nie warst», riet der Tibeter. Seit Corona ist das nicht mehr möglich. Die Sehnsucht vieler Reisenden bleibt ungestillt, die wirtschaftlichen Folgen sind dramatisch. Im ersten Jahr der Pandemie verzeichneten die globale Tourismusbranche und ihre Zulieferer Ausfälle von 2,4 Billionen Dollar. Das ist mehr als dreimal so viel wie das Bruttoinlandprodukt der Schweiz. Laut Uno-Schätzungen dürfte 2021 das Minus erneut über 2 Billionen betragen. Eine gigantische Krise einer Branche, die weltweit 10 Prozent aller Arbeitsplätze stellt.

Es trifft nicht alle gleich. «Das grösste Minus verzeichnen Entwicklungsländer», sagt der Uno-Experte für Handel, Entwicklung und Tourismus Ralf Peters. Dort, wo die magischen Orte liegen und ganze Landstriche vom Tourismus leben. Kompensierten in den USA oder Westeuropa einheimische Touristen den Ausfall, verloren einzelne asiatische Inseln auf einen Schlag ihr gesamtes Einkommen.

Am stärksten betroffen ist Südostasien mit einem Minus von 98 Prozent bei internationalen Touristen. Im Nahen Osten waren es 79 Prozent, in Südamerika 82 Prozent, in Afrika 74 Prozent. Zwar zeichnete sich Mitte 2021 eine leichte Erholung ab. Die Uno betont aber: «Angesichts des Auftretens der neuen Omikron-Variante und des Anstiegs der Infektionen in einigen Teilen der Welt bleibt die Erholung fragil und uneinheitlich.» Für die Menschen, die vom Tourismus leben, habe das bedrohliche Folgen, sagt Peters. «Wenn ein Land mehr als 50 Prozent des Bruttoinlandproduktes mit Tourismus erwirtschaftet, kann es die Krise nicht auffangen, es verbreitet sich grosse Armut.» Weltweit gingen 62 Millionen Jobs verloren. «Es sind gut bezahlte Arbeitsplätze, die vor allem Frauen und junge Menschen anziehen – und das fördert die Entwicklung.»

Das Schweizer Reiseunternehmen Globetrotter ist spezialisiert auf Destinationen abseits des Massentourismus. Es hat in den letzten beiden Jahren den Personalbestand von 450 auf 290 reduziert, sagt Mitbesitzer André Lüthi. «Seit zwei Jahren verkaufen die Angestellten nicht mehr schöne Reisen, sondern sie buchen um und annullieren, das bereitet wenig Freude.» Eben erst sagte er eine Schiffsreise in die Antarktis mit 130 Passagieren ab. «Das Risiko, dass ein Ehepaar mit Omikron vom Schiff muss und 40000 Franken verliert, war mir zu gross.» Lüthi spricht von einem «Millionenverlust» bei Globetrotter, den man seit zwei Jahren durch Kurzarbeit, Härtefallgelder und Einschüsse der Aktionäre decke.

Jammern will er nicht. «Im Vergleich zu dem, was ich in der Welt sehe, geht es uns prächtig.» Lüthi erzählt von Nepal, wo die Kinder nicht mehr zur Schule können, weil die Hotels ihrer Eltern schlossen. Von Botswana, wo Safarileiter von einem Tag auf den anderen keinen Job mehr hatten. «Der Reisebranche gehen dadurch Wissen und Infrastruktur verloren.» Erst 2024 oder 2025 werde das Niveau von 2019 erreicht sein. Christian Laesser, Wirtschaftsprofessor an der Universität St. Gallen, schätzt, dass die Erholung schnell einsetzen könnte, wenn die Grenzen öffnen. Die Menschen in den reichen Ländern hätten nicht nur Nachholbedarf an Reisen, sondern auch genügend Geld dafür, weil sie in den letzten zwei Jahren weniger ausgegeben hätten. Auch die Angebote würden rasch bereitstehen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter in den weniger entwickelten Ländern kämen schnell ins Tourismusgeschäft zurück.

Im Moment jedoch herrschen Stille und Leere an den Sehnsuchtsorten dieser Welt. Neun Geschichten über neun Menschen.

Kathmandu, Nepal: Tausende Firmen Konkurs

Letzten Herbst führte die deutsche Bergsteigerin Billi Bierling eine Trekkinggruppe rund um den Manaslu, den achthöchsten Berg der Welt. Auf der zweiwöchigen Wanderung traf sie drei Wandergruppen an. Normalerweise sind es Hunderte. «Für meine Gruppe war das ein Traum, sie hatte die Berge für sich», sagt die 54-jährige Bierling, die sechs der vierzehn Achttausender bestiegen hat. «Für Nepal ist es eine Katastrophe.» Das Land leide doppelt an Covid-19, erklärt Bierling, die in der Hauptstadt Kathmandu das Himalaja-Archiv führt. Zum einen sind die Einnahmen aus dem Tourismus weggebrochen. Zudem sind viele Nepalesen, die in Katar oder Saudiarabien arbeiten, wegen Corona heimgekehrt. Das Geld der Wanderarbeiter ist Nepals grösste Einnahmequelle. Und das fehlt jetzt.

Im ersten Jahr der Pandemie kamen praktisch keine Touristen. Als das Land im Frühling 2021 wieder aufging, waren mehr Bergsteiger denn je zum Mount Everest unterwegs, zum höchsten Gipfel der Welt. Da China geschlossen war, bestiegen sie den Everest von der nepalesischen Seite. «Einige machten einen Reibach», erzählt Bierling. «Trekkingtouristen, die in Hotels absteigen und Kulturstätten besuchen, kamen aber keine.» Everest-Besteiger landen in Kathmandu und fliegen sofort weiter ins Basislager. Zwar entrichten sie dem Staat die Gebühren für Besteigungen, bei kleinen Unternehmen bleibt wenig. Vor der Pandemie gab es in Kathmandu rund 5000 Trekkingagenturen. Die Hälfte habe nicht überlebt, sagt Bierling. Alteingesessene Restaurants und Hotels schlossen, eine Mehrzahl der Reiseleiter gab auf. Tagelöhner in Kathmandu leben heute von Hilfsorganisa­tionen. Die Träger, die auf niedrigere Berge gehen, verdienen einen Viertel dessen, was sie vor der Pandemie einnahmen. Sherpas, die Bergsteiger auf hohe Gipfel führen, arbeiten als Verkäufer. Die etablierten unter ihnen würden die Krise aber aussitzen, erklärt Bierling. Sie hätten gelernt, genug zu verlangen. In einer normalen Saison verdienen sie bis zu 10000 Dollar – viel in einem Land mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 960 Dollar. «Die Berge gehen nicht weg, das wissen die Nepalesen, der Tourismus wird wieder kommen», sagt Bierling. «Aber bis dann liegt das Land im Koma.»

Beau Vallon, Seychellen: Mit weniger leben als zuvor

Lange Sandstrände, Korallenriffe, tropische Früchte – die Seychellen gelten als Paradies auf Erden. Ein perfekter Ort für die romantische Reise zu zweit. Wohlhabende Touristen steuern über zwei Drittel des Bruttoinlandproduktes bei. Doch wie bereits 2020 kamen letztes Jahr rund 70 Prozent weniger Touristinnen und Touristen. Der Umsatz brach um 61 Prozent ein. Wie überlebt man das? «Mit ­Fischen und Kokosnüssen», erklärt Elizabeth Fideria. Die Niederländerin lebt seit 1993 auf den Seychellen und hat 1997 mit ihrem Mann die Tauchschule Big Blue Divers gegründet. «Wir alle haben gelernt, mit weniger als zuvor zu leben.» Der Boden und das Meer gäben genügend her, um die Bevölkerung mit Fischen, Früchten und Gemüse zu versorgen. Zudem habe sie den Personalbestand halbiert. Derzeit würden vor allem sie, ihr Mann und ihre Tochter die anfallenden Arbeiten erledigen.

Lange Zeit hat das Virus die Seychellen verschont. Erst im Dezember 2020 steckte sich ein Einheimischer mit Corona an – ein Taxifahrer, infiziert von einem Touristen. Letztes Jahr war das Land von Januar bis März geschlossen. Derzeit verzeichnet es viele ­Omikron-Fälle. «Zeitweise nahm die Nach­frage nach Tauchunterricht zu, jetzt nimmt sie rapide ab», sagt Fideria. Sie und ihr Mann ­hätten die Zeit genutzt, um das Geschäft zu überdenken und für ein Post-Covid-Zeitalter neu aufzustellen. «Wir hatten vorher zu viele Touristen, die Branche ist auf den Seychellen zu schnell gewachsen.» Der erste Lockdown seien «unerwartete Ferien» gewesen, sagt sie. «Solche Pausen sind selbst im Paradies nötig.» Nun gehe es darum, das Paradies zu retten. Unter Wasser fallen ihr seit langem die immer bleicheren Korallen auf. ­Wissenschafter erklären das Phänomen mit dem Klimawandel.

Die durch Covid-19 auferlegte Pause im Tourismus habe auf dem Inselstaat viele angeregt, über eine neue Ausrichtung nachzudenken – auf weniger, dafür vor allem ökologisch ausgerichtete Touristen. Nicht möglichst viele Tauchgänge sollen ihre Kunden absolvieren, sondern solche, die sie für die Welt unter dem Meeresspiegel schärfen. Ihr Plan: «Verschwindet der Tourismus, gehen wir in den Umweltschutz.»

Wadi Rum, Jordanien: Kamele werden verkauft

Die Nebensaison beginnt in Wadi Rum jeweils im Januar. «Diesen Januar läuft gar nichts», sagt Bianca Abma, Managerin von Wadi Rum Nomads. Das von Beduinen geführte Familienunternehmen begleitet Touristen durch magische Wüstenlandschaften im Süden Jordaniens. Spielfilmen wie «Dune», «Star Wars» oder «The Martian» dienten sie als ausserirdischer Schauplatz. Reisende erfreuen sich an den schroffen Felsformationen, an der lebendigen Wüste und an Nächten unter klarem Sternenhimmel. Der britische Archäologe und Diplomat T. E. Lawrence begleitete hier im Ersten Weltkrieg den Aufstand der Araber gegen das Osmanische Reich. Jetzt kämpfen Beduinen um ihr Überleben. Zwar dürfen Touristen wieder nach Wadi Rum, aber aus dem Ausland kommt kaum jemand – und das seit zwei Jahren. «Es ist ein Unterschied, ob man offen ist oder ob man Gäste hat», sagt die 44-jährige Abma. Sie redet von «Ausnahmezustand». Es sei unmöglich, die strengen Auflagen einzuhalten. In der Wüste isst man aus dem gleichen Topf, was wegen der Pandemie untersagt ist, ebenso die Buffets in grossen Zelten. In den Camps teilen sich alle eine Toilette – einer der Gründe, warum muslimische Jordanierinnen und Jordanier die ausbleibenden internationalen Touristen nicht ersetzen. Frauen und Männer teilen in Jordanien das Bad nicht. Nach Ende des ersten Lockdowns durften zwar Touristen aus der Hauptstadt Amman kommen, aber nur, wenn sie im gleichen Haushalt lebten.

Das am Rande der Wüste liegende Dorf Wadi Rum Village hat sich entvölkert. 95 Prozent der rund 1200 Einwohnerinnen und Einwohner leben direkt oder indirekt vom Tourismus. Im März 2020 brach ihr Einkommen weg. Die staatliche Hilfe beschränkte sich auf Essensgutscheine. «Um zu überleben, haben die Beduinen ihre Kamele und Autos verkauft», sagt Abma. Sie verliessen ihre Häuser im Dorf und zogen mit ihren Familien in die Wüste, um wieder traditionell nomadisch zu leben. «Sie kamen ins Dorf wegen der Schule und der Arbeit. Da beides weggefallen ist, hat es für sie mehr Sinn, in der Wüste zu leben», erklärt Abma. Die Gastarbeiter aus Ägypten und dem Sudan haben die Region verlassen. Um 72 Prozent sanken die touristischen Einnahmen in Jordanien.

Für 2022 erwartet Abma eine leichte Erholung. Das Niveau von 2019 werde wohl erst 2025 erreicht sein. Bis dahin würden sie alle sehr viel einfacher leben. «Es ist erstaunlich, wie wenig Geld reicht, um zu überleben.» Die Menschen hätten sich an Unsicherheiten gewöhnt, wie den Nahostkonflikt oder Syriens Bürgerkrieg. «Wir wissen: Nach schlechten Zeiten kommen gute, deshalb kommen wir besser durch Krisen als Europa.» Klar sei: «Wadi Rum wird magisch bleiben, ist das alles vorbei, bauen wir es wieder auf.»